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Lob der Langeweile

Der Moment der Wahrheit von Spike Lee in Cannes/ Wer traut sich, nichts zu tun?/Gedanken über einen Füller/ Hühnerrezept von einem Freund

Die Passage, die zum Wiesbadener Hauptbahnhof führt, ist der Arbeitspaltz von Musikern und Bettlern. Seit im Bahnhof aber keine Züge mehr (Öffnet in neuem Fenster) fahren, sind auch sie weitergezogen. Keine Passanten = keine Clochards. 

Ich hatte nicht damit gerechnet, aber das Filmfestival von Cannes erwies sich dieses Jahr als relevantes Datum. Das lag zum einen an der großen Rolle, die die von mir sehr verehrte Jodie Foster dort spielen durfte: Sie bekam eine Palme d’Or für ihr Lebenswerk, gab jede Menge Interviews, verbreitete Zuversicht und gute Laune, denn alle mögen Jodie. Frauen wie sie festigen den Zusammenhalt zwischen populärem Kino und Arthouse, zwischen Europa und den USA und sind stets dabei, ihr Medium fortzuentwickeln. Darauf angesprochen, ob ihr die alte Kultur des Kinos mit Saal und Leinwand fehle, ob sie also eine Art Nostalgie empfinde, bemerkte sie nur, es sei in der Pandemie auch recht praktisch gewesen, sich so viele Filme hintereinander im Pyjama anschauen zu können. Und sie habe auch nichts dagegen, einen Film auf der Apple watch abzuspielen. Immer gut, wenn KünstlerInnen den Verführungen des Kulturpessimismus widerstehen. Ich muss dann immer an den großen Drehbuchautor Wolfgang Menge denken, den ich damals noch für die FAZ anlässlich seines achtzigsten Geburtstags zuhause besuchte. Sein Haus war voller neuester Computertechnik, der „New Yorker“ lag auf dem Tisch und er wollte nur über laufende Serien und kommende Projekte reden. Achtzig, das dementierte er. 

Cannes hat mich aber auch wegen des Statements von Spike Lee beschäftigt: „Gangster regieren die Welt“. Das ist ein Aspekt, der in der Analyse der politischen Weltlage zu kurz kommt. Es wird viel über Populisten geschrieben, über illiberale Demokratie und manchmal noch ein wenig über „Korruption“ in diesen Ländern. Aber Spike Lee bringt es schneller auf den Punkt: Der Aufstieg von Wladimir Putin – hier empfehle ich das quellenreiche und analytische Buch von Catherine Belton: „Putin’s People. How the KGB took back Russia and then turned on the West” (Öffnet in neuem Fenster)– vollzog sich im Geheimdienst, aber seine Macht konnte er erst entfalten, als er sich mit dem organisierten Verbrechen zusammen tat. Gemeinsam schnappten sie sich dann die Wirtschaftsunternehmen des Landes. Bei Trump lief es ähnlich, bekanntlich rettete ihn mehrfach das Geld russischer Exilanten und Gauner vor der Pleite. Die Koalition von Politik, Polizei und organisierter Kriminalität ist längst die Plage zahlreicher arabischer und afrikanischer Staaten. Aber auch in Europa ist die organisierte Kriminalität viel zu stark, wie das Attentat auf den niederländischen Journalisten de Vries belegt hat.  Die EU täte gut daran, diese Verbindungen anzusprechen und effektiv zu bekämpfen: Geldflüsse zu kontrollieren, Besitz zu beschlagnahmen und Zeugenschutzprogramme aufzulegen. Auch die Legalisierung von Drogen würde helfen.Merken sollte man sich diesen Hinweis von Lee aber auf jeden Fall: Wo Populismus draufsteht, wirkt im inneren die Alianz aus Geheimdienst und organisierter Kriminialität.

In vielen Ländern sind schon Sommerferien oder sie beginnen bald. Und auch wer keine Ferien nehmen kann, ändert nun langsam den Modus. Illustrierte und Werbung empfehlen alle möglichen Aktivitäten, um fit und fröhlich zu werden oder zu bleiben, jedes Jahr neue Vorschläge. In einem großen Freizeitkaufhaus entdeckte ich neulich zwischen Wasserflaschen und Rucksäcken auch Wanderstöcke aus Holz. Es handelte sich um übermäßig designte und bearbeitete Objekte: Zwei Schichten Holz und eine Schicht Gummi, wie im Windkanal geformt. Diverse Modelle in verschiedenen Größen standen zur Auswahl. Preis um die 200 Euro. Es ist kommerziell schwierig: Mit der schönsten und effektivsten Art, sich an der frischen Luft zu bewegen, Körper und Seele gleichermaßen zu erfreuen, dem Gehen,  lässt sich kaum Geld verdienen. Denn ein guter Stock, wie ihn Kinder mit dem Taschenmesser herrichten können, tut es auch sehr gut.

Auf eine andere Art sommerlicher Zeitverwendung weist der Neurologe und Psychiater Patrick Lemoine hin. In seinem Buch „Éloge de l'ennui“ (Öffnet in neuem Fenster) empfiehlt er: die Langeweile. Sie ist selten geworden, denn unser digitalisierter Alltag bietet ja immer eine Gelegenheit, um herum zu daddeln und es mit der Welt zu teilen.

Ich selbst habe die Langeweile im Büro wiederentdeckt, als ich mal in Hamburg Ressortleiter spielen durfte. Die Abläufe waren langsam, kompliziert und sinnlos. Man musste stundenlang warten, bis noch die x-te Stelle die bereits fertigen Seiten abnimmt oder zurückschickt. Irgendwann hatte ich alles gelesen, alles gesehen und schaute nur noch aus dem Fenster, mit dem quälenden Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Es war eine Erinnerung an Kindheitstage, ich hatte die Langeweile völlig vergessen. Aber irgendwann denkt man dann eben an angenehmere Dinge oder es fällt einem etwas ein. Also einfach mal gar nichts unternehmen, vorsehen oder planen und auch kein Buch darüber führen. Nach Lemoine beginnen erst mit der Möglichkeit, sich zu langweilen,die Erholung, das Umdenken, die Freiheit.   Klingt ziemlich wild, aber warum nicht?

A propos Buch führen: ich freue mich immer sehr an Füllen und Notizbüchern, Schreibwaren aller Art. Schon immer hatte ich den aus meinem Geburtsjahr 1966 stammenden Lamy 2000 im Sortiment, es war aber, trotz seiner objektiven Qualitäten, nie richtig mein Lieblingsfüller. Im Studium war es das Attribut der Spießer, ich wandelte auf anderen Wegen. Im Alltag aber fand ich immer öfter zum Lamy: Die Schrift blieb lesbar und das Ding ist unverwüstlich und federleicht. Unlängst erzählte mir eine Freundin, die den Designer des Füllers, Gerd A. Müller, gut kannte, dass der von japanischem Design passioniert war, das Land kannte und die Kultur studierte. Nun, auf den tausendsten Blick und mit dieser Information, erkenne ich das feine asiatische Design in dem urdeutschen Stift. Ihm wohnt eine elegante Bescheidenheit inne, die die frühe Bundesrepublik in ihren besten Momenten auszeichnet. Meiner war unterdessen abhanden gekommen, ich habe ihn mir wieder bestellt – das Preis-Leistungsverhältnis ist wirklich unschlagbar. Und Lamy ist eine Seltenheit unter den bekannten Marken, eine faire deutsche Firma mit Betriebsrat, die alles in Heidelberg herstellt, selbst die Tintenpatronen. (Weil der Stift 55 wird, legt Lamy dieses Jahr auch eine besondere, limitierte  Edition in brauner Farbe auf. Aber da bin ich mir noch nicht sicher.)

Kein „siebter Tag“ ohne Sonntagshuhn. Tatsächlich erreichen mich viele Zuschriften mit entsprechenden Rezepten. Aus ihnen spricht immer die Freude am Huhn – gleich, ob es das nun oft oder nur ab und zu gibt. Dieses hier schickte mir mein Freund Valentin:

„Habe ich Dir hühnermäßig das hier schon geschickt? Man kann es im Ofen oder im grossen Schmortopf machen: Gusseisen, fest sitzender Deckel, Cousances ist natürlich am besten, aber das muss ich Dir nicht erklären. Kommt aus dem Ottolenghi-Universum (Kochbücher als utopische Gesellschaftsentwürfe, ich finde das sehr beruhigend) und hat den Vorteil, dass man alle Beilagen gleich mitkocht und eigentlich die letzten eineinhalb Stunde gar nichts zu tun hat.

Zwei Zimtstangen und drei getrocknete rote Chillies ohne Öl in einer kleinen Pfanne anrösten, bis sie zu duften anfangen und die Chillies leicht Farbe annehmen; vom Feuer nehmen und mit 1,1 Liter kochendem Wasser aufgießen; dazu 70 gr getrocknete Steinpilze; zugedeckt ohne Hitze ziehen lassen.

In einem großen Bräter ein ganzes Huhn (1,3 bis 1,5 kl) in zwei Esslöffeln Olivenöl von allen Seiten scharf anbraten; herausnehmen.  Zwei Zwiebeln schälen und in acht Teile schneiden; fünf oder sechs einzelne Stangen Sellerie in ca. fingerdicke schräge Streifen schneiden und im heißen Öl bei mittlerer Hitze anbraten, bis sie Farbe angenommen haben; dann 4 geschälte Knoblauchzehen und 5 Zweige Thymian dazugeben und mitziehen lassen, ca. 5 Minuten. Das Huhn mit einer halbierten Zitrone ausstopfen und wieder in den Topf, gut salzen und pfeffern, und mit dem Wasser mit Zimt, Chillies und Steinpilzen aufgießen. Bei geschlossenem Deckel zuerst bei mittlerer, dann bei reduzierter Hitze schmoren lassen, ca. 50 Minuten. Dann 320 Gramm Reisnudeln (Orzo) unterrühren und weitere zwanzig Minuten auf kleiner Flamme ziehen lassen; am Schluss sollten die Reisnudeln alle Flüssigkeit aufgenommen haben.

Vor dem Servieren auskühlen lassen (ca. 10 Minuten), mit gehackter Petersilie bestreuen und Zitronenscheiben servieren.

Üppiges Essen für vier sehr hungrige bis sechs Personen; man kann es mit halbierten Mengen auch mit zwei (grösseren) Hühnerbeinen für zwei Esser machen."

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Wir machen eine kleine Sommerpause und sind in wenigen Wochen wieder da!

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