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Independence Day

Von Flügeln und Wurzeln/Afghanistan/Sonntags bei den Varda in Paris

Neulich bekam ich Post von meiner Lieblingsfirma Vodafone. Sie betreiben hier auch die Kabelanschlüsse. Ich habe mir schon vor Jahren ein Zusatzabo mit einer sogenannten Smartcard gebucht, um die öffentlich-rechtlichen Programme des französischen Fernsehens sehen zu können.

Meine Lieblingssendung nennt sich „Des Racines et des Ailes“ (Öffnet in neuem Fenster)und läuft mittwochs auf FR3. Dabei handelt es sich um ausführliche Liebeserklärungen an französische Regionen, meist mit Luftaufnahmen verbunden. Kritische Tönen hört man hier nicht, nichts über Landflucht, Arbeitslosigkeit oder Umweltschäden, es geht fröhlich im Kleinflugzeug oder der Drohne über die Weiten Frankreichs. Dabei werden auch Geschichten erzählt, eigentlich ist es immer dieselbe: Wie ein verlassenes Dorf wieder zum Leben erweckt wird, weil sich nervöse Großstädter dazu entschieden haben, im hintersten Kaff Ziegen zu züchten und Käse herzustellen, dazu den Dorfladen zu übernehmen. Ziegen sind in „Des Racines et des Ailes“ unverzichtbar. Oder wie ein aussterbendes Handwerk – Espadrilles-Produzent, Messermacher - wieder floriert, weil Thierry und Virginie aus dem Großraum Paris ihre Karriere in den Medien aufgeben, um die Werkstatt der Großeltern zu übernehmen. Es wird gebacken, geschnitzt oder Wein gemacht, es ist eine Hymne an die dilettantische Lebensmittelproduktion, die Provinz und eine Absage an W-Lan, Coaching und Berufe, von denen unklar ist, worum es in ihnen geht. Diese Mischung ist aber unvollständig ohne das wesentliche Element der Sendung, das ist die Zeit. „Des Racines et des Ailes“ beginnt um 21Uhr und ist selten um 23h schon zu Ende. Es ist ein mäandernder, durch nichts unterbrochener Strom poetischer Ausstiegsverführung, der an so einem mitteldeutschen Mittwoch recht unwiderstehlich ist. Flügel und Wurzeln – genau das, was kein Menschenkörper hat, sind der Stoff, aus dem unsere Träume sind. Zurück zu dem Brief: Mit ihm kündigte die unsägliche Firma einfach das internationale Angebot zum September, Alternativen keine. Moderne Menschen werden nun oberschlau bemerken, ich könne es mir dann ja im sagenhaften Internet ansehen, aber, liebe Leute, wir sind im Europa des Jahres 2021: Da haben Netze Grenzen. Länderbeschränkungen verhindern, dass französische öffentlich-rechtliche Inhalte in Deutschland zu sehen sind. Man kann immer noch mit VPN-Dingen herum operieren, aber ehrlich: Was für ein digitales Gefummel, um das Lob auf analoge Einfachheit genießen zu können. In Europa müssten die öffentlichen Programme wechselseitig frei zu empfangen und abzurufen sein.

Heute ist der amerikanische Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag. In der Woche zuvor ging es um den völligen Rückzug aus Afghanistan und den Tod von Donald Rumsfeld. Man kann sich gar nicht mehr daran erinnern, aber unmittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington am 11. September 2001 entwickelte sich eine neue Form internationaler Kooperation zur Bekämpfung des Terrors und der Taliban, die auch, aber nicht nur, militärisch war. PLO-Chef Yassir Arafat spendete Blut für die amerikanischen Opfer und viele NGOs halfen, in Afghanistan so etwas wie eine Zivilgesellschaft zu entwickeln. Mädchen konnten zur Schule gehen, Frauen bewegten sich freier, es gab Hoffnung in Afghanistan. Das ist lange her. Der Nachbarstaat Pakistan, sein zwielichtiger Geheimdienst, haben die Taliban seit jeher gefördert und wenig Interesse an einem prosperierenden, nicht-islamischen Afghanistan. Den USA wurde das Land, hier kommt Rumsfeld ins Spiel, bald egal. Man griff den Irak an, weil da mehr zu holen war, echte Armee und eben sehr viel Öl.

Aber irgendwann war auch der Irak egal, man überließ ihn mehr oder weniger dem Iran. Gewinner der Jahrzehnte vergeblicher Mühen im Namen des Kampfes gegen islamistischen Terror sind zwei islamische Atommächte. Dafür tragen Rumsfeld, die ganze Bush-Administration und ihr Verbündeter Tony Blair die wesentliche Verantwortung. Aber niemand redet mehr davon. Bald wird sich das leider ändern, denn es droht eine blutige Vergeltung der Taliban und dann ist das Entsetzen wieder groß. Wenigstens die Helfer, Übersetzer der deutschen und europäischen Stützpunkte und ihre Familien sollten nach Europa ausfliegen dürfen.

Agnès gibt einem Team aus Australien ein Interview, ich warte und mache dieses Bild

Als ich die große Agnès Varda in Paris (Öffnet in neuem Fenster) besuchte, ging es auf Ostern zu. Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen und kaufte in einer Konditorei ihrer Nachbarschaft einen traditionellen französischen Fisch aus Schokolade, in durchsichtiges Zellophan verpackt. Sie war da schon hochbetagt, ihr neunzigster Geburtstag stand bevor und das nervte sie. Als ich ihr den Fisch überreichte, nickte sie anerkennend. Dann schüttelte sie ihn ein wenig, um zu hören, ob er auch gefüllt sei. Es klackerte satt und das gefiel ihr – Krokanteier! Dann konnte das Gespräch beginnen, eigentlich eine freie Meditation ausgehend vom Maler Roger van der Weyden, der im Hospiz von Beaune seine beeindruckende Waage der Seelen realisiert hat. Eigentlich ging es um ihren letzten, sehr sehenswerten Reise- und Dokumentarfilm "Visages, Villages" (Öffnet in neuem Fenster), aber da kamen wir auch noch hin, irgendwie. 

Daran musste ich denken, als in „Le Monde“ Rosalie Varda (Öffnet in neuem Fenster) ein Lieblingsrezept ihrer Mutter beschrieben hat: Das gefüllte Sonntagshuhn.

Die Ehe ihrer Eltern Agnès Varda und Jacques Demy bezeichnet sie als „Schock zweier Fette“, des Olivenöls, das sie gern benutzte und der gesalzenen Butter, die der aus Nantes stammende Démy bevorzugte. Das Huhn gibt allerdings Rätsel auf: In den Innenraum kommt eine Füllung aus Rinderhackfleisch, Kalbshacksfleich, Ei, Estragon und Zwiebeln. Das wird vorher in der Pfanne angebraten. Und wenn das ganze dann irgendwann gar ist, legt man noch einige weiße Boudins dazu, Kuttelwürste. Rosalie beschreibt die ewigen Essen, die ihre Eltern gaben, als wilde und langwierige Veranstaltungen, zu denen immer etwas mehr Leute erschienen als erwartet. Jim Morrisson ist beispielsweise gekommen, Deneuve und Mastroianni, es zog sich und Rosalie, die fünfzehn Jahre lang Einzelkind war, lernte das Tagträumen. Das gefüllte Huhn sieht sie heute als bürgerliches Gegengewicht zur freien Tafel, ein Gruß aus der Provinz der Eltern in den winzigen, durch die Filme von Agnès Varda berühmten Innenhof der Rue Daguerre 88 im 14. Arrondissement, wo die Familie lebte. Rosalie ergänzt das Rezept immer wieder, fügt derzeit eingelegte Zitronen hinzu, weil ihr Freund vom Mittelmeer her kommt. Ich werde es mal versuchen.

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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