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Der Zufall

Ludovico Einaudi/Emmanuel Macron/Stephen Satterfield/Cordon Bleu

Freitag traf ich mich mit einem Freund in einem Café und plötzlich nähert sich eine Gestalt, die mir vertraut ist. Der Mann mit dem Watschelgang fällt nicht auf in einer deutschen Innenstadt: weder alt noch jung, weder groß noch klein und doch sprang ich auf, um dieses Foto zu machen.

Denn Ludovico Einaudi gehört zu den Musikern, die ich sehr oft höre und mit dem ich eine Wendung in meinem Leben verbinde. Ich durfte ihn vor einigen Jahren für ein Interview in seiner Wohnung in Milano besuchen. Damals erzählte er mir, wie er sich von den akademischen Neutönern und einer Karriere auf diesem ernsten Feld verabschiedete, um seine eigene Musik zu machen und alle dachten, er habe den Verstand verloren. Dann wurden Fotos gemacht, es war schon warm und Einaudi öffnete die Fenster seines Altbaus. Setzte sich ans Klavier. Und weil so eine Fotosession immer etwas langweilig ist, begann er zu spielen, sein Stück über die Wellen Le Onde. Ich dachte, die ganze Straße hebt ab und beneidete die Agenturen und Start-ups gegenüber, die den Maestro hier hören können.

Danach trank ich einen Kaffee im Flagship-Store der geliebten Marke Moleskine um die Ecke und fasste den Entschluss, ganz anders zu arbeiten. Dieser Newsletter ist eine Folge dieser Entscheidung.

Einaudi hatte an jenem Abend ein Konzert in der Region, logierte aber in unserer Stadt. Das alles jedenfalls erzählte ich dem Meister, nur schneller und konfuser und nicht in der richtigen Reihenfolge und er verstand vermutlich kein Wort und lachte und seine Begleiter lachten noch mehr, es war ein Fest.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zufallsbegegnung?

Ich hatte mich zu dem Treffen mit meinem Freund überdies noch verspätet. Das digitalisierte und geplante Leben kommt weitgehend ohne Zufall aus, jedes Treffen ist verabredet, sogar kleine Kinder und Hunde haben ihre Playdates. Dabei sind es solche Momente, die inspirieren und den Sinn schärfen für die schönen und bestärkenden Seiten des Lebens. Der ganze Rest braucht keinen Zufall.

Gestern holte ich einen Smoking ab, den ich für vier Tage geliehen habe. Damit wollte ich am Montag zum Abendessen für Emmanuel Macron in Berlin erscheinen, nun hat sich das erledigt.

Ein Präsident, dessen wesentliche Domäne die Außenpolitik ist und der weder den britischen König empfangen kann, noch nach Berlin reisen, ist schon schwer beeinträchtigt.

Wenn man sich die Rede durchliest, die der letzte französische Staatsbesucher Jacques Chirac im Juni 2000 vor dem Bundestag hielt, kann einem ganz anders werden. Chirac strotzte damals vor Zuversicht und Gestaltungswillen. Die Mauer war gefallen, der Reichstag renoviert, die Wirtschaft florierte und die Zukunft glitzerte verheißungsvoll. Er sah Deutschland und Frankreich im Zentrum eines von Werten und Idealen beseelten europäischen Projekts. Die Türme des World Trade Centers in Manhattan standen noch, Charlie Hebdo und Bataclan standen für Kultur, nicht für Massenmord.

Nun, ein Vierteljahrhundert später, hat sich der Himmel zugezogen.

Die nächtlichen Exzesse der Gewalt und des Hasses, die Frankreich in Atem halten, sind zwar keine besondere Überraschung, aber ihre Wucht ist schon atemberaubend. Erfahrene Reporter, die an allen Krisengebieten der Welt herumgesprungen sind, bekamen es in Nanterre, Cité Pablo Picasso, mit der Angst zu tun. Luc Bronner von Le Monde ist so einer: Er beschreibt detailliert, wie die Opponenten der Polizei sich organisieren und bewaffnen. Einmal wackelt eine alte, sehbehinderte Frau ins Getümmel und eine Polizistin möchte ihr helfen, auch Haus zu kommen. Die alte Dame muss ablehnen: Sie wohnt mitten in der Cité und die Polizistin kann da nicht hin.

https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/06/29/mort-de-nahel-a-nanterre-le-recul-des-forces-de-l-ordre-face-a-des-emeutiers-determines-lors-d-une-deuxieme-nuit-de-violences_6179711_3224.html (Öffnet in neuem Fenster)

Die Schreihälse auf der Rechten überbieten sich in rassistischen Parolen, auf der Linken sieht man die gesamte französische Polizei auf dem Prüfstand. Das Klima ist völlig vergiftet: Eine Quelle dafür ist der seit Jahren vor sich hin wuchernde Rassismus, der sich bis tief in die Mitte der Gesellschaft zieht. Immer noch darf etwa auf Twitter der brandgefährliche Hetzer Renaud Camus seine Sprüche vom großen Bevölkerungsaustausch klopfen. Und leider wird seine Perspektive nicht massiv zurückgewiesen, sondern aufgegriffen. Die Zeiten der großen Anti-Rassismusbewegung "Touche pas à mon pote" - Rühr meinen Kumpel nicht an sind vorbei. Menschen mit einer anderen Hautfarbe werden als Vorboten einer kommenden Invasion gesehen – ganz gleich, ob es sich um brasilianische Choreografen handelt, amerikanische Touristen oder Menschen aus dem Maghreb. In Deutschland ist AfD- Autor Götz Kubitschek der Verleger von Renaud Camus. In Frankreich ist er durchaus persona grata. Michel Houellebecq und Alain Finkielkraut zitieren ihn in freundlicher Nuancierung, der Schriftsteller Emmanuel Carrère äußert sich wohlwollend abwägend.

Im Alltag ist Frankreich eine multikulturelle Gesellschaft, aber in den Talkshows und politischen Debatten tobt der Rassenkampf. Die Randalierer, die auch die Bildungseinrichtungen in den Banlieues zerstören, die Stadtbüchereien, in denen ihren Nachbarn am Nachmittag für die Abiturprüfungen lernen möchten, reagieren auf die Sicht eines Renaud Camus: Wir werden eh niemals dazu gehören.

So wird ein politisches Drama inszeniert, in dem alle ihre Rollen spielen: Ein Polizist ist die Polizei und Agent der gewalttätigen Rechten. Ein Jugendlicher aus der Banlieue ist die Banlieue selbst und alle Probleme der Republik. Pragmatische Reformen der Polizeiausbildung und zur Entschärfung sozialer Brennpunkte wären die beste Lösung – aber die Symbolik der Situation und das politische Drama üben eine stärkere Anziehungskraft aus. Die Fußballnationalmannschaft mussten nun zur Ruhe mahnen, eine politische Partei, die in den Vorstädten Respekt genießt, gibt es nicht.

Macron zweite Amtszeit ist sehr kompliziert, von Pannen geplagt. Er hat diese schweren Probleme nicht alle verursacht, aber auch nicht entschärft und sie spitzen sich nun zu.

Einstweilen lege ich nun auch im Alltag meinen Smoking an, denn Storno wegen Bürgerkrieg ist nicht vorgesehen.

Leider wurde die schöne Serie Chef's Table auf Netflix nicht fortgesetzt, aber dieses Angebot ist sogar noch besser, weil man so viel lernt: In High on the Hog geht Stephen Satterfield auf eine detektivische und wissenschaftliche Spurensuche zu den Ursprüngen des soul food, der Küche des schwarzen Amerikas. Aber es ist sich eine Sozial- und Kulturgeschichte der anderen Art. Mir war völlig neu, dass der ursprüngliche Reichtum des Südens vom Reisanbau erwirtschaftet wurde. Diese Umstellung der Landwirtschaft erforderte gewaltige Eingriffe in die Landschaft, die von Sklavinnen und Sklaven geleistet werden musste – eine barbarische Schinderei. In dieser Serie wird die widerständige und autonome Dimension des Kochens herausgearbeitet und man versteht außerdem, wie es zu einem Gericht wie frittiertem Fisch mit Spagetti und Tomatensauce kommen konnte.

https://www.netflix.com/title/81034518 (Öffnet in neuem Fenster)

Ich hatte auch keine Ahnung von der Geschichte der beiden Köche, die für Thomas Jefferson und George Washington legendäre Diners zubereitet haben. Herkules Caesar und James Hemings stehen am Beginn der amerikanischen Küchengeschichte und waren beide Sklaven. Allein für ihre Geschichte lohnt sich diese Serie.

Eines der Gerichte, die ich schon immer kannte, dann aber lange vergessen habe, ist Cordon Bleu. Meist kaufe ich es schon fertig zubereitet in einer Metzgerei in Mainz, also gibt es das bei uns mit am Donnerstag, wenn mein Uni-Kurs stattfindet. Es ist übrigens ein Lieblingsgericht von Emmanuel Macron – er wird es brauchen können dieser Tage. Mit diesem Rezept bekommt man es auch selbst gut hin:

https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2023/06/28/le-cordon-bleu-la-recette-d-antonin-girard_6179574_6082232.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch

ihr

Nils Minkmar

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