Mediale Monokultur
Dieser Teil des Newsletters schien mir gestern, als die Wagners auf Moskau zurollten, überholt. Nun liefere ich ihn aber gerne nach.
Am vergangenen Donnerstag verdüsterte sich das Wetter plötzlich, auf allen Kanälen wurde vor Sturm und sogar Tornado gewarnt. Ich hatte Seminar an der Uni Mainz und alles, was ich an wetterfesten Sachen besitze, eingepackt. Notfalls hätte ich mich in einen Froschmann verwandelt. Es kam dann aber anders, bloss ein heftiger Sommerregen. Für Medien ist das eine Abwägungssache, denn genau weiß kaum jemand, wie sich das Wetter an welchem Ort manifestiert. Im Zweifelsfall wird also gewarnt, dann kommen die roten Banner und Alarmzeichen. Alle schaukeln sich hoch. Bleibt die Sintflut aus, sind die Konsequenzen nicht so schlimm wie im umgekehrten Fall, wenn Menschen vom Unwetter überrascht werden. Aber das häufige Warnungen, der Daueralarm fordern auch einen Preis: Die Aufmerksamkeit lässt nach, die Leute sind genervt und wenden sich von den Medien ab.
Noch eine andere Geschichte hat in der letzten Woche die Medien von ungutem Licht dastehen lassen: die Berichte über das vermisste U-Boot Titan. Schon am Sonntag wussten Experten der US-Navy, dass das Boot implodiert ist. Montag wussten es noch einige mehr, darunter James Cameron. Dennoch musste jede Nachrichtenseite weltweit noch tagelang vom angeblichen Rennen um die Rettung der Insassen berichten. Wurde in obszöner Genauigkeit der Countdown der Sauerstoffvorräte untergezählt, dabei war es längst vorbei. Nichts ist spannender als solche eine Geschichte um das Schicksal von Menschen. Die meisten identifizieren sich mit den bedrohten Zeitgenossen, andere sind schadenfroh aber alle schauen hin. Und weil man in den Newsrooms der Welt immer danach schaut, was die anderen Newsrooms und besonders DrudgeReport (Öffnet in neuem Fenster)und DailyMail (Öffnet in neuem Fenster) machen, entsteht eine mediale Monokultur, die die Nerven strapaziert und zur Wahrheitsfindung rein gar nichts beiträgt. Ich halte auch den Fall der verschwundenen Maddie McCann für ein solches Beispiel: Jede noch so abenteuerliche Spur wird sensationell vermeldet, keine Nachrichtenseite verzichtet. Ich glaube aber nicht, dass die Wahrheit auf diese Weise ans Licht kommt.
Journalismus ist das schönste Berufsfeld, das ich mir vorstellen kann, aber in solchen Wochen frage ich mich, ob wir nicht eine andere Form davon brauchen. Viele Menschen schütteln den Kopf: Fünf Männer riskieren in einem untauglichen U-Boot ihr Leben, verlieren es dort und sind Thema in allen Sendungen. Aber all die Personen, die beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, um's Leben kommen, werden nur am Rande erwähnt, als Masse von namenlosen Migranten. Und ihre Rettung kommt garantiert spät, denn so ist es organisiert. Mehr noch: Rettungsinitiativen werden kriminalisiert und behindert. Noch nie gab es so viele Medien, es ist die Epoche totaler Medienabdeckung, totaler Kommunikation: Jedes Päckchen sendet Email und SMS. Aber ohne moralischen Kompass und die Zeit zur Reflexion, ohne die Möglichkeit, einen Schritt zurück zu treten, werden rund um die Uhr die gleichen Inszenierungen verkauft – immer in der bewährten Verpackung der Dramatisierung und Personalisierung. Dabei ist das Publikum auch an anderem interniert. Bildungsangebote, Aufklärung, Debatten und konstruktive Artikel werden besonders stark nachgefragt. Eine Gesellschaft, die in Angst und Schrecken gehalten wird, in der kaum jemand weiß, wie man mit Klimawandel und Migration klar kommen könnte, dafür alle eine Meinung über Greta Thunberg und Robert Habeck haben, sollte auch für Medienmacher eine Horrorvorstellung sein.