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Der längste Tag

Der russische Sommerputsch/Arnold/ Tintenfisch vom Berg Athos

 

Le Jour le plus long heißt ein Kriegsfilm über die Landung der Alliierten in der Normandie, der dauernd im französischen Fernsehen lief. Ich habe ihn gar nicht mehr genau vor Augen, aber der Titel ist mir im Sinn geblieben: für jene Tage und Stunden, an denen Geschichte passiert.

Kaum hatte ich gestern Mittag diesen Newsletter mit Überlegungen zur Medien-Monokultur im Fall des U-Boots Titan abgeschlossen, kamen diese seltsamen Nachrichten auf Twitter. Weil der Chef von "Wagner", Yewgeni Prigoschin, dauernd wirre Videos ins Netz stellt und mir die Nerven fehlen, diesen Menschen anzuhören, hatte ich das Geschehen erst gar nicht ernst genommen. Aber dann, über Tag, wurde die historische Dimension des Moments immer deutlicher. Putin lebt von der Idee, die andere von seiner Macht haben. Mit jeder Stunde, in der es ihm nicht gelingt, den Chef des Aufstands zu töten oder zu verhaften, schmilzt Putins Macht dahin.Putin, wie wir ihn kannten und seit einem Jahr fürchteten, ist erledigt.

Wir haben nur die Muster alter Kriege, um die Gegenwart zu deuten. Ist es ein Moment wie im Juli 1944 und die Wagner-Soldaten und ihre Unterstützer hoffen auf eine Kontinuität ihrer Macht, wenn sie Putin opfern? Oder sehen wir ein Remake der Bürgerkriege in Libyen oder im Irak, wo die Despoten zwar rasch fielen, dann aber Chaos entstand.? Ich verfolge das Geschehen auf Twitter, wo sich Propaganda, echte Expertise und immer wieder atemberaubende Videos finden: Kämpfe mitten in Russland und vorrückende Milizen, die auf keinen nennenswerten Widerstand treffen.

In Frankreich sind die Wagner-Milizen aus den Einsätzen in Afrika bekannt. Selbst professionelle Soldaten scheuten den Kontakt mit diesen Brutalos. Gegenwärtig ist schwer vorauszusehen, wer sie in Russland aufhalten könnte, da die meisten Truppen und Waffen in der Ukraine versammelt sind. Aber werden sie in Moskau auf Unterstützung treffen? Selbst wenn Putin und seine Leute diskreditiert sind, bedeutet es nicht, dass eine Begeisterung für den nächsten Banditen entsteht. Prigoschin wirkt heute wie Colonel Kurtz aus Joseph Conrads Herz der Finsternis – und könnte ein rasches Ende finden. Was dann?

An den längsten Tagen ist es hell und heiß, man schläft immer zu wenig. Gerüchte schwirren, man denkt nicht ganz klar und möchte sich mit schöneren Dingen beschäftigen als mit der Frage, wie ein ferner Krieg sich entwickelt.

So fern ist er natürlich nicht. Im Hinterhaus wohnt eine russische Familie, sie diskutieren dauernd über Politik. Ein Teil dachte, Putin hält sich ewig, der andere aber schöpft heute Hoffnung. Und vor wenigen Tagen spazierten wir über russisches Gebiet: Das Wahrzeichen der Stadt, die orthodoxe Kapelle auf dem Neroberg, gehört Russland. Als sie renoviert wurde, reiste Putin zur Eröffnung. Die Brauerei direkt gegenüber hat ein Hinterzimmer mit den Fotos berühmter Gäste. Da hängt er, als könnte er kein Wässerchen trüben. Nachbar Putin. So bald wird er nicht mehr vorbeikommen.

Langsam werden die Tage wieder kürzer. Man besinnt sich, aus dem Schock der Gegenwart wird das erste Kapitel einer langen Geschichte. Die Menschen mitten in der Schlacht von Waterloo haben nicht verstanden, wer verloren oder gewonnen hat. Und Adolf Hitler war viele Monate nach Kriegsende im November 1918 der Meinung, das Deutsche Reich habe nicht verloren, es sei zumindest ein Gleichstand geworden. Die unendlich besseren Kommunikationsmittel, die Medien befördern unser Verständnis nicht unendlich effektiv, vielmehr sitzen wir genauso ratlos herum und versuchen, uns einen Reim auf die neue Welt zu machen. Putin ist am Ende, die Zelle in Den Haag ist seine beste Option. Prigoschin wirkt nicht wie ein Herrscher, aber das tat Saddam zunächst auch nicht. Und wenn dieser Newsletter zugestellt wird, ist er womöglich schon tot.

Wieder mal wussten wir nichts. Wieder einmal betonen alle, zumal in Deutschland, den schönen Wert der Stabilität, auch wenn sie uns gerade die Rücklichter zeigt. Andere Pläne gibt es eh nicht und wie immer fahren wir auf Sicht. Aber weil es so hell ist, blinzeln wir in den langen Tag. Fragend, hoffend...

Viele, viele Jahre wendete ich mich ab, wenn von ihm die Rede war. Eigentlich war er der Feind: Alles, was ich an kommerzieller Kultur gehasst habe – dieser Unsinn mit den schweren Humvee-Fahrzeugen, die Zigarren, die Filme mit den vielen Explosionen – verkörperte sich in Arnold Schwarzenegger. Aber man lernt ja dazu. So habe ich mir dann doch den Dreiteiler angesehen, den Netflix über sein Leben produziert hat.

https://www.netflix.com/title/81317673 (Öffnet in neuem Fenster)

Seine wohlbekannte Aufstiegslegende wird durch den Umstand gebrochen, dass der Mann heute mit einem Esel und einem Pony sowie diversen Hunden wohnt, sich aus seiner Familie aber kaum jemand mit ihm zeigt. Das liegt an der Sache mit Joseph, seinem Sohn, den er während der Ehe mit Maria Shriver gezeugt hat, aber eben nicht mit ihr. Es ist dieser Bruch in seiner Biografie, diese Selbstzerstörung seines privaten Glücks, die Arnold interessant macht. So wie wir ja nur den Romanfiguren oder Filmrollen gerne folgen, denen mal etwas schiefgeht, die in Gefahr sind oder Fehler machen. Erst die fragilité, unsere Verwundbarkeit, bringt die komplexe, die humane Seite einer Person zum Vorschein. Dabei verwenden wir in dieser Kultur – für die auch Schwarzenegger steht – soviel Mühe und Geld darauf, unverwundbar zu erscheinen: Als Muskelmann, Terminator, Multimillionär und ewig fleißiger Arbeiter. Morgens kümmert er sich nun um seinen Esel und mir fiel dies alte Sprichwort ein: Gleich zu gleich gesellt sich gern.

Aber es ergeben sich noch viele andere Erkenntnisse: Beispielsweise, wie Arnold als Republikaner erkannt hat, dass der Kampf gegen den Klimawandel das zentrale Thema für den gegenwärtigen Konservatismus ist. Oder dass er, der in Russland viele Fans hat, ein Video gedreht hat, um sie vor Putin und der Propaganda zu warnen. Respektvoll. Die Frage liegt nahe, ob es nicht auch bekannte Deutsche gibt, die Ähnliches machen könnten. Und dann sind da - das hatte ich nicht mitbekommen oder vergessen - die #metoo-Fälle: Viele Frauen werfen ihm sexuelle Belästigung vor. Arnolds Reaktion darauf ist ganz seltsam: Er verteidigt sich lauwarm, fügt dann aber an, dass, wo Rauch ist, auch Feuer ist und bestimmt träfen viele der Anschuldigungen zu. Dann entschuldigt er sich.

Es lohnt sich jedenfalls, diese drei Teile anzusehen.

Als ich klein war, traf mein Vater beim Baden im spanischen Mittelmeer auf einen kleinen Tintenfisch. Es gelang ihm, das Tier zu packen und zu killen, abends wurde er zubereitet. Seitdem bin ich ein großer Fan dieses Gerichts, aber man findet es selten in vertrauenswürdiger Qualität. Wer es selber machen möchte, sollte einmal dieses Rezept versuchen:

https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2023/06/14/le-poulpe-a-l-orange-la-recette-de-dina-nikolaou_6177641_5324493.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Vorige Woche war ich bei SR3 zu Gast und plauderte über das Saarland, Frankreich und den ganzen Rest. Hier nachzuhören:

https://www.ardaudiothek.de/episode/sr-3-aus-dem-leben/mit-dem-frankreichkenner-und-journalisten-nils-minkmar/sr-3-saarlandwelle/94532920/ (Öffnet in neuem Fenster)

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