NEUNERs #013
Die Erwachsenen hätten plötzlich ganz klein gewirkt. Sie flüsterten eher, weg war ihr Befehlston. Auch auf den Straßen. Von den harten Sohlen der Soldatenstiefel zu den Gummisohlen der Nachkriegszeit. Das sei mit 1945 „die Befreiung“ für ihn gewesen. So erinnert sich letzten Freitag der Schriftsteller Uwe Timm (Öffnet in neuem Fenster), 85 Jahre alt, in der ziemlich einzigartigen Salon-Reihe vom Café Luitpold (Öffnet in neuem Fenster) an seine früheste Hamburger Kindheit.
Vor einigen Wochen habe ich mir sein neuestes Prosawerk „Alle meine Geister“ (Öffnet in neuem Fenster) besorgt. Ein wundervolles Buch über die Jugend, die Bundesrepublik, das Lesen, das Schreiben, ein weiteres Handwerk, Freundschaften, Liebe. Ich möchte es sehr empfehlen. Dummerweise habe ich mein Exemplar in einer anderen Stadt liegen lassen und komme gerade nicht an meine Anmerkungen.
Immerhin habe ich noch meine Notizen vom Luitpold-Abend in München, die ich auf dem sehr schön gestalteten, fast leeren Einwegset des Cafés gemacht habe.

Und ich zitiere aus dem autobiografischen Roman zu „Der Fremde (Öffnet in neuem Fenster)“ von Albert Camus:
„Die Lektüre war eine Offenbarung. Die Faszination, die von diesem Roman ausging, lag in der kühlen sprachlichen Distanz, mit der die Dinge und Menschen beschrieben wurden, bei einer gleichzeitigen Feier der Mittelmeerlandschaft, von Meer, Sonne, Sand. Solche schnörkellosen, lapidaren Satze, mit denen die Geschichte eines Mannes und eines Mordes ohne klares Motiv erzählt wird, zugleich der Verzicht auf alles Gefühlige und Moralisierende, so etwas hatte ich noch nicht gelesen. (…) Um die Wirkung des Romans zu verstehen, der nicht nur mich, sondern viele meiner Generation ergriff, muss man von den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren sprechen, von der Zeit des selbstgefälligen Wirtschaftswunders, vom Verschweigen der Untaten, der fraglosen Autorität der Eliten, den erstarrten Konventionen, von den Tanztees, Verlobungen, Antrittsbesuchen, den seichten Schlagern, den Heimatfilmen, dem einzigen genuin deutschen Filmgenre, von der großen Heuchelei.“
Uwe Timm, Alle meine Geister (2023)
Ein Mitschnitt auf YouTube mit Uwe Timm 2024, sprechend und lesend im Literaturforum im Brecht-Haus (Öffnet in neuem Fenster).
Von Timm auf der Leseliste:
Heißer Sommer (Öffnet in neuem Fenster). Literarisches Zeugnis der westdeutschen Studentenbewegung im Westdeutschland der 1960er (München).
Johannisnacht (Öffnet in neuem Fenster): Ein Nachwenderoman in drei Tagen und drei Nächten des Jahres 1995 (München / Berlin).
Neo Rauch, eigentlich.
Vor ein paar Wochen sah ich eine „Dokumentation“ mit dem Titel “Neo Rauch - Gefährten und Begleiter” von 2016 (Öffnet in neuem Fenster) (derzeit und nur noch zwei Tage in der ARD-Mediathek vom MDR (Öffnet in neuem Fenster)). Ich bin kein Kunstkritiker, kein Rauch-Kenner und nicht bewandert in den entsprechenden Diskursen rund um bzw. zwischen Rauch, Germanist Dirk Oschmann („Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (Öffnet in neuem Fenster)) und Kritiker Wolfgang Ullrich. Dabei hätte es zwischenzeitlich viele Beiträge gegeben zur „Anbräuner“-Debatte (Öffnet in neuem Fenster) und zum gleichnamigen Bild, das als Replik auf Ullrichs Artikel „Auf dunkler Scholle“ verstanden wird, der dem Künstler eine Nähe zu einer nunmehr gesichert rechtsextremen Partei unterstellte. Artikel und Bild stammen von 2019 und kamen von daher nicht im Film vor. Anderes hätte schon vorkommen können. Eigentlich.
Deshalb wollte ich was schreiben zum Film. Dann kam generell einiges zwischen mich und das Schreiben und diesen Newsletter und seine dreizehnte Ausgabe. Und zwischendurch erschien dann Ende April ein langes Stück zu Rauch mit dem Titel „Eigentlich will er lieber nichts mehr sagen“ im Zeit-Magazin (Öffnet in neuem Fenster). Das ist eine gute Ergänzung zum Film. Ein Update quasi.
Eigentlich wollte ich so was schreiben wie: Wenn ich davon ausginge, dass ein Künstler jemand ist, der mit irgendetwas (wie Farbe am Pinsel oder Schnitzeisen oder Fingern) irgendetwas (wie Leinwand oder Holz oder Klavier) bearbeitet und dies a) mit einem Ziel (also nicht rein nach dem Zufall) und b) mit einer erlernten und vielleicht sogar meisterlich beherrschten Technik, dann könnte man eine “Dokumentation” wie die des MDR gut so machen und gut so anschauen. Aufschlussreich, teilweise intim und ein bisschen verstörend (zumindest, wenn man sich die Figuren der Sammler reinzieht). Alleine schon die Werkstatt und der Geruch der Farben, die mich bis durch den Bildschirm erreichen, wecken viele Kindheitserinnerungen in mir. Und ob die Zwischentöne und die kleinen Lücken, die im Film immer wieder erscheinen, feine, redaktionelle Absicht oder nur grober Zufall sind, könnte man offen lassen.
Aber so ist das natürlich nicht. Ganz egal, wie (wenig) politisch jemand selbst sein und wahrgenommen werden möchte. Erst recht nicht bei einem Künstler mit diesem Bekanntheitsgrad, diesen Verkaufswerten im Mio-Bereich, dieser Reichweite und diesem Sendungsdrang. Viele Debatten gibt es über die Frage, ob Kunst / Künstler eh inhärent politisch sind, selbst in einer Gegenposition zu dem, was man gemeinhin Politik nennt und damit deren Betrieb meint, sogar explizit politisch sein sollten und so “Stellung” beziehen müssten - und wenn ja, welche. Ist das alles anstrengend und kompliziert… Angesichts der Äußerungen rund um die Genderdebatte, um Flüchtlingspolitik, Political Correctness etc. möchte man sagen: dann sag halt auch nichts mehr. Dann müsste man dazu auch nicht schreiben.
https://www.ardmediathek.de/video/neo-rauch-gefaehrten-und-begleiter/neo-rauch-gefaehrten-und-begleiter/mdr/Y3JpZDovL21kci5kZS9zZW5kdW5nLzI4MjA0MC81MDA5ODQtMTk0Nzc3 (Öffnet in neuem Fenster)Diverse Hinweise
„Zwischen Christdemokratie und Rechtspopulismus. Wie die Merz-Union ideell schlingert und schrumpft“ - Andreas Püttmann in den Blättern (Öffnet in neuem Fenster).
FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube zum neuen Kulturstaatsminister Wolfram Weimer: „Unsinn macht noch keinen Konservativen“ (Öffnet in neuem Fenster).
Am 23. Mai beginnt im Literaturhaus München die Ausstellung zu Susan Sonntag „Everything matters“ (Öffnet in neuem Fenster).
Nicht nur im deutschsprachigen Raum gibt es viele Veranstaltungen zum 150 jährigen Geburtstag von Thomas Mann (Öffnet in neuem Fenster). Und in der ARD-Audiothek (Öffnet in neuem Fenster)gibt es den „Zauberberg“ in zehn Folgen.
White Lotus Star Parker Posey („Poh-iper, noh-oo“) spielt im Film „Party Girl“ (1995, ganz auf YouTube (Öffnet in neuem Fenster)) eine junge Frau in New York und mitten im „Youth Nihilism“.
Pho

Rettet dank der Öffnungszeiten auch jeden Montag Abend: eine vietnamesische Nudelsuppe bei Madame Ngo (Öffnet in neuem Fenster) in der Kantstraße, Berlin.
Empfohlen sei bei dieser Gelegenheit auch das kleine, sehr nette und leckere Cho-Cho (Öffnet in neuem Fenster) in München, Amalienstraße.
Danke für die Erinnerungen.
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