Zum Hauptinhalt springen

MCP – Der Newsletter #23 Anfang Dezember

Liebe Leser:innen,

durch den Wechsel vom Monatsende zum Monatsanfang hat es hier den November verschluckt. Es hat aber gute Gründe gegeben, den Newsletter nun zum ersten Sonntag eines Monats zu verschicken. Jetzt sehen wir mal, ob sich das bewährt.

Einer der Gründe war natürlich mein Abschied aus dem ocelot. Die Wärme und Wertschätzung, die mich durch die kleine, überraschende Feier des letzten Abends getragen haben, werden mich den ganzen Winter lang in einen Mantel aus Dankbarkeit hüllen. Es war ein Fest. Es war ein schönes, bewusstes, liebevolles Abschiednehmen. Ich habe noch nicht genügend Worte dafür, kann noch keinen Dank sagen, der angemessen wäre. Zu viele Menschen haben diese elf Jahre, diese letzten Monate, diesen letzten Abend begleitet — ich nehme mir jetzt noch ein wenig Zeit, dem nachzuspüren, mich einzurichten in dem Leben danach, das jetzt ja auch erst drei Tage alt ist.

Erst der nächste Newsletter (am 7. Januar) wird einen Rückblick auf meine liebsten Bücher 2023 wagen. Das Lesen und das Jahr sind ja noch lange nicht vorbei. So viele vielversprechenden Bücher warten noch ungelesen aus diesem (und nicht nur diesem) Jahr. Erst kürzlich habe ich zwei neue Lieblingsbücher gewonnen, die sehr spät im Jahr, vor allem aber aus lang vergangenen Zeiten nun endlich den Weg zu uns gefunden haben. Was für Entdeckungen!

(Wieder)Entdeckt

1934 hat die US-amerikanische Autorin Josephine W. Johnson (1910 - 1990) für ihren Debütroman Now in November den Pulitzer-Preis bekommen, mit 24 Jahren als jüngste Autorin aller Zeiten. Nach 1971 und 1994 gibt es nun wieder eine lieferbare und wirklich schöne Ausgabe von Die November-Schwestern in der neuen Übersetzung von Bettina Abarbanell. Und ich bin so froh darüber, denn ansonsten hätte ich dieses großartige Buch vielleicht nie entdeckt. Ganz zweifellos ist es der Kunst der Übersetzerin zu verdanken, dass der Ton dieses Romans so frisch wirkt, als wäre er gerade erst geschrieben worden. Doch Josephine Winslow Johnson selbst hat auch bereits so viele Themen verwoben, in denen sie große Voraussicht beweisen hat und die diesen Roman besonders aktuell machen. Die Familiengeschichte spielt während der Wirtschaftskrise als Familie Haldmarne erneut auf eine andere Farm umziehen muss. Die Belastung durch die Hypothek, die Klimaveränderungen, die Schwere des bäuerlichen Lebens, das sich gerade in einem Umbruch befindet, die patriarchalen Strukturen … die Autorin sieht alles, während sie die drei heranwachsenden Schwestern der Familie in den Blick nimmt. Ein Buch, das sofort anklingt, das in wunderschöner Sprache vergnüglich Wichtiges erzählt.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns hier oder anderswo schon kennen, aber wenn ich ein Buch als ein Brett bezeichne, ist das eine meiner höchsten literarischen Auszeichnungen. Wenig ist so gut, wenig ist so hart, nichts ist so präzise. Peter Flamm (Erich Mosse 1891 - 1963) hat mit Ich? genau so ein Buch geschrieben, ein Brett von einem Buch, auf nicht mal 160 Seiten! Der Arzt Hans Stern kehrt überraschend doch lebend zurück aus der Hölle des Ersten Weltkrieges. Er kehrt heim, nach Hause, zu seiner Frau Grete. Es ist doch seine Frau Grete? Seine Mutter? Sein Sohn? Er erkennt sie doch alle wieder! Und sie ihn, oder? Sein Hund Nero hingegen erkennt ihn zweifellos nicht. Hat der Krieg Hans so verändert, all das erlebte Grauen? Oder ist es gar nicht Hans Stern, der da zurückgekehrt ist, sondern der Bäcker Wilhelm Bettuch, der Hans Sterns Identität annehmen will? Oder ist jede Identität im Krieg gebrochen worden? Ist der erlebte Krieg, das einzige, das unzweifelhaft ist, das markiert. Man kann nicht an Martin Guerre (oder Sommersby) denken und muss es natürlich doch tun. Peter Flamm hat 1926 einen Roman geschrieben, der bereits damals schon im S. Fischer Verlag erschienen ist, der weit darüber hinaus geht, der die Doppelbödigkeit in eine atemlose Sprache legen kann, die uns restlos verwirrt, uns offen zurück lässt. Eine gute Verwirrung, die allerbeste, wie ich finde. Zum Glück gibt es nach 130 intensivsten Seiten noch Autobiografisches von Peter Flamm selbst und das ebenso lohnenswerte Nachwort von (Trommelwirbel) Senthuran Varatharajah.

Das sind beides Bücher, die ihr allen schenken könnt, die gern lesen oder gern lesen wollen. Sie beweisen beide, wie kraftvoll gute Literatur ist.

Geheimtipps

Und wenn ihr noch exklusivere Geschenketipps sucht (am 15. 12. mache ich auf Instagram auch wieder die monatliche Literatursprechstunde) diese beiden Schätzchen hier bringe ich auf jeden Fall unter:

Robert Steinmüller nimmt uns mit auf eine fiktionale Entdeckungsreise zu den dunklen Flecken des Mondes. In Die Meere des Mondes zeigt und erzählt der Buchgestalter und Typograf Schönes, Unglaubliches und Faszinierendes zu diesem magischen Planeten. Dieser Mond-Atlas mit händisch eingehängten Bildern ist ein kleines gestalterisches Meisterwerk und erinnert mich optisch und inhaltlich an Judith Schalanskys Arbeiten.

In Liebe von. Ein Bild. Ein Text. Eine Liebe. hrsg. von Helena Melikov und Lilli Geßner ist eine Special von Lost & Found und vereint 21 zeitgenössische Briefe mit alten Fotografien. Geschrieben haben dafür Anushka, Julia Meyer-Brehm, Swan Collective, Christian Dittloff, Rabea Edel, Carl Ensom, GPT-4, Sophia Hembeck, Ina Holov, Franziska König, Marie Krutmann, Charlotte Kunstmann, Lana Lux, Lisa Tracy Michalik, MINETTA, Marvin L.T. Müller, Noa Sophia Niss, Marit Persiel, Michael Schuster, Alexej Tikhonov, Erica Zingher.

Noch mehr Bibliophiles

Wenn wir schon bei schönen Ausgaben in liebevoller Gestaltung sind, muss ich euch unbedingt von einem Verlag erzählen, den ich in diesem Jahr entdeckt habe. Schon 2016 haben Bettina Augustin und Johannes Schneider den Verlag Golden Luft gegründet. Von Klassikern, Wiederentdeckungen und Zeitgenössischer Literatur gestalten sie umwerfend schöne Ausgaben der besonderen, der kleinen Formen. Bibliophiles in Heftform, gebunden in der ältesten Buchbinderei der Stadt Mainz. Es gibt auch Franz Kafka, Stefan Zweig oder John Burnside in diesen hübschen fadengehefteten französischen Broschuren (von 16 bis 44 Seiten, 12 bis 23 Euro), aber ich hab mich besonders über die Ausgaben dieser vier Autorinnen gefreut:

Annemarie Schwarzenbach Die vierzig Säulen der Erinnerung, mit einem Nachwort von Walter Fähnders.

Annelis Verbeke Verlorener Gesang / Mantel der Liebe, aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek, mit einem Nachwort von Laurette Artois und Sabine Schmitz.

Eva Schmid Sonne in einem leeren Zimmer, mit einem Nachwort von Daniela Strigl.

Jean Rhys Das Rauschen des Flusses, aus dem Englischen von Helke Voß-Becher, mit einem Nachwort von Helge Nowak.

Alte Bekannte

Seit ihrem Erzählband von 2018 Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird, den sie selbst aus dem Georgischen übersetzt hat, warte ich auf den Roman von Iunona Guruli. Brief ohne Absender ist jetzt bei weissbooks erschienen und hat jedes Warten gelohnt. Der Klappentext sagt:
»Brief ohne Absender« verknüpft poetisch kraftvoll die Ungeheuerlichkeiten im Leben einer georgischen Familie mit den politischen Umbrüchen eines Landes. Elena, die Ich-Erzählerin, wächst behütet in Tbilisi auf, tanzt in einem Folklore-Ensemble, deren Auftritte sie in die Luxushotels Istanbuls oder Taiwans katapultieren, und wenn sie nicht heimlich raucht, beobachtet sie auf dem Rücken treibende Frösche. Bis das Massaker der sowjetischen Armee vom 9. April 1989 an den friedlichen Demonstranten für die georgische Unabhängigkeit sie aus ihrer kindlichen Sorglosigkeit reißt. Elena beschließt, in Deutschland zu studieren, gerät in ein kriminelles Umfeld und strandet in Berlin. Als sie an einem Tiefpunkt, allein und verzweifelt, ein Brief ihrer Jahre zuvor verschwunden Kindheitsfreundin erreicht, macht sie sich auf die Suche, kehrt nach Georgien zurück und stößt tief in der Vergangenheit auf Antworten.

Saira Arsenischwilis (1933 - 2015) Kachetische Chroniken erscheinen nach längerer Ankündigung nun wohl bald im Wieser Verlag als Ach, Leben in der Übersetzung von Tamar Muskhelishvili. Auf 800 Seiten kann man aber auch mal etwas länger warten. Darauf könnt ihr euch laut Verlag freuen: Ach, Leben! – Kachetische Chroniken ist ein schier epochales Werk, das vor dem Hintergrund bolschewistischen Terrors eine Geschichte erzählt, die sich über die 1920er bis in die 50er Jahre erstreckt. Sie nimmt ihren Anfang im Keller eines Hauses in Telawi, einer Stadt der ostgeorgischen Region Kachetien: Rusudan und Maka halten Totenwache für Eva. Als Kammerspiel getarnt, entfaltet sich im klammen, von Kerzenschein spärlich beleuchteten Keller ein Sujet, das um den Sarg der Verstorbenen gesponnen wird. Eingebettet in die Familiengeschichte der drei Frauen und durchdrungen von Mosaikstücken der Erinnerung wird episodenhaft erzählt – von einer entführten Leiche; von der berüchtigten „Blutigen Hochzeit“; von dem Brief, den ein Kind nach Sibirien deportierter Eltern an Stalin schreibt; von einer vergangenen Liebe, die eine tragische Wendung nimmt; von menschlichen Abgründen und davon, wie das Menschliche in einem unmenschlichen System überleben kann.

Gesamtausgabe

Einzeln und im schönen Schuber (90 Euro) sind jetzt die gesammelten Romane und Erzählungen von Marlen Haushofer (1920 - 1970) in der ersten Werkausgabe dieser bedeutenden Autorin erschienen. Die wissenschaftlich kommentierte Ausgabe wurde hrsg. von Konstanze Fliedl, Stefan Maurer, Daniela Strigl, Georg Hofer, Petra-Maria Dallinger, Christa Gürtler, Liliane Studer und umfasst sechs Bände

Bd. 1: Eine Handvoll Leben, mit einem Vorwort von Angela Lehner
Bd. 2: Die Tapetentür, mit einem Vorwort von Arno Geiger
Bd. 3: Die Wand, mit einem Vorwort von Antje Rávik Strubel
Bd. 4: Himmel, der nirgendwo endet, mit einem Vorwort von
Bd. 5: Die Mansarde, mit einem Vorwort von Nicole Seifert
Bd. 6: Gesammelte Erzählungen, mit einem Vorwort von Clemens J. Setz

Falls ihr noch Platz auf dem Wunschzettel habt!

Termine

Zusammen mit Mareike Fallwickl (Öffnet in neuem Fenster) spreche ich am 10.12. um 19:30 Uhr auf Instagram über Diamantnächte von Hilde Rød-Larsen, aus dem Norwegischen übersetzt von Ursel Allenstein. Mareike Fallwickl hat gerade einen digitalen Lesekreis zu diesem Roman organisiert und moderiert und wir werden am 10.12. im Livestream nochmal gemeinsam über unsere Begeisterung für dieses Buch sprechen.

Am 11.12. spreche ich mit Daniel Schreiber im Literaturhaus Stuttgart (Öffnet in neuem Fenster) über Die Zeit der Verluste. Das freut mich aus mindestens zwei Gründen: Daniel Schreibers Buchpremiere hier im Berliner Theater des Westens vor über eintausend Menschen moderieren zu dürfen, war eine so außergewöhnliche, großartige Erfahrung, aber es wäre wunderbar, jetzt nochmal im kleineren Rahmen über sein neues Buch zu sprechen, dass mir so viel bedeutet. Und: Ich habe immer gesagt: Ich reise, sobald ich freiberuflich bin. Nicht ständig, aber immer mal wieder, wenn es sinnvoll ist. Jetzt im Dezember ist es eher ein sanftes Anlaufen, aber wer von euch in Stuttgart weilt: Ich würde mich so freuen, euch zu sehen.

Am 13.12. zeichnen Ludwig Lohmann und ich Folge 58 unseres Blauschwarzberlin Podcasts auf.

Am 14.11. um 20 Uhr gibt es dann auf Instagram den letzten Livestream vor der Weihnachtspause. Ich spreche mit Judith Keller über ihren fulminanten Roman Wilde Manöver und kann euch versprechen, das ist genau der letzte Schwung, den wir zum Jahresende brauchen.

Als Dank für alle Unterstützer:innen meines Steady Accounts, wird es am 29.12. die letzte #Freitagsstunde des Jahres geben. Um 20:23 Uhr sprechen wir über die Bücher, die uns in diesem Jahr bewegt haben, ja?

Und am 5.1.2024 um 20:24 Uhr gibt es dann die erste #Freitagsstunde im neuen Jahr. Und ich freue mich sehr, dass meine Freundin, mein Vorbild, meine Coach und Inspiration Clara Schaksmeier dann bei mir sein wird und wir mit euch über ganz vieles sprechen werden, was das neue Jahr zu einem richtig und umfassend guten machen soll.

Ich freue mich sehr, wenn ihr eine Steady Mitgliedschaft abschließen wollt. Die sind monatlich kündbar, sichern mir aber gerade eine wichtige Basis meiner Freiberuflichkeit. Auf meinem Steady Account gibt es je nach gewähltem Paket mehrmals pro Monat längere Texte zu verschiedenen Themen, literarische Analysen, Schulterblicke, Hintergründe und ihr könnt auch mit dem kleinsten Paket einfach diesen Newsletter, die monatlichen Literatursprechstunden oder den mariaslesekreis auf Instagram unterstützen, wenn ihr daran Gefallen habt. Im größten Paket bekommt ihr zwei Mal pro Jahr eine ganz persönliche Buchberatung von mir am Telefon, per Video, in eurem Berliner Lieblingsbuchladen oder per Mail, ganz wie ihr mögt.

Ich wünsche euch allen einen schönen Dezember. Wir lesen uns auf Instagram oder Steady. Und hier ganz sicher wieder am ersten Sonntag im Januar.

Auf ein gutes Lesen

Eure Maria

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Maria-Christina Piwowarski und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden