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MCP - Der Literatur-Newsletter #12 Juli 2022

Liebe Leser*innen,

scheinbar ganz im Mainstream befindlich, hat mich den halben Juli diese berühmte Pandemie vom Lesen abgehalten, die in diesem Sommer nun wohl auch die letzten Einhörner erwischt hat. Hattet ihr es alle schon, Coronski? Überraschenderweise haben die zwei Wochen des erzwungenen Einigelns gar nicht zu exzessivem Lesen geführt, obwohl ich doch dachte, dass eine Quarantäne genau dafür da sei, aber offen gestanden war meine Aufmerksamkeitsspanne nur haselmausgroß. Und so ganz sind meine sieben Sinne auch noch nicht zurückgekehrt, deshalb gibt es diesmal auch einen sehr verkürzten Newsletter zum einjährigen Jubiläum.

Das gilt es allerdings mal kurz in Gedanken zu feiern und deshalb möchte ich mich zuerst von Herzen bei euch mittlerweile 2752 Lesenden bedanken, die diesen Newsletter im letzten Jahr monatlich ins Postfach bestellt haben. Es wird ihn weiterhin geben, dank euch, so viel steht fest.

Apropos Jubiläum: Im Juli war mir kaum etwas auf der Welt eine so überraschende Freude, wie die bezaubernde Freundschaftserklärung von Barbara und Stefan Weidle im Buchmarkt (Öffnet in neuem Fenster). Die beiden Verleger*innen begleiten meinen Weg wohl schon am längsten (auf jeden Fall aber am treuesten) von allen anderen Menschen im Literaturbetrieb und es ist kein Zufall und auch kein Ausgleich sondern pure Liebe, dass ich heute einen Roman aus dem Weidle Verlag (Öffnet in neuem Fenster) als eines meiner wichtigsten Bücher aus meinem Lebensbuchregal vorstelle. Aber das heben wir uns brav für den Schluss dieses Newsletters auf.

Was im Juli - neben der Tatsache vierzig zu werden - tatsächlich auch enorm aufregend war, war eine kleine Veröffentlichung im Zeit Magazin (Öffnet in neuem Fenster). Wer mag, kann den Text über mein Regal noch online nachlesen (Öffnet in neuem Fenster). Dass sich die Formulierung „Bretter, die die Welt bedeuten“ bei Stefan Weidle oben im Text auf die Buchladentheke des ocelots bezieht und dass Die Zeit mit dem gleichen Wortlaut (ohne mein Wissen und Zutun) mit der genau so benannten Überschrift auf meine heimischen Regalbretter deutet, ist ein schöner Zufall, der mir gerade zeigt, wie verwandt sich alles anfühlt, was ich gerade tun und sein darf.

Und da ich ja schon zugegeben habe, relativ wenig gelesen zu haben im Juli, kann ich euch ebenso freimütig gestehen, womit ich stattdessen eine gute Zeit verbracht habe: In der ARD-Mediathek könnte ihr die empfehlenswerte Serie Arde Madrid (Öffnet in neuem Fenster) anschauen, die sich mit Ava Gardners Jahren in der spanischen Hauptstadt beschäftigt und deren witziges Intro mich mit jeder Folge ein bisschen gesünder gemacht hat.

Und bis Anfang September könnt ihr in der Mediathek von 3Sat noch die inspirierende Dokuserie Art is a State of Mind (Öffnet in neuem Fenster) schauen und Bernhard Zünkeler dabei begleiten, wie er seinen gut bezahlten Job als Wirtschaftsjurist an den Nagel hängt und sich ganz und gar der Kunst verschreibt und sie so out of the box denkt, wie ich es noch nicht erlebt habe. 

Der vor uns liegende August wird mit ein paar ersehnten Terminen ein willkommener Ausgleich zu den vergangenen ruhigen Wochen sein. Ich freue mich, dass wir uns on- und offline zu einigen Gelegenheiten sehen können werden. Kommt ihr vorbei? Schaut ihr rein?

Was mich schlussendlich soghaft aus der Leselethargie gerissen hat, erfahrt ihr in der verschobenen Podcastfolge #42 von Ludwig Lohmann (Öffnet in neuem Fenster) und mir am kommenden Mittwoch, am 3. August. Um 20:30 Uhr gehts wie immer auf dem Instagramkanal von blauschwarzberlin (Öffnet in neuem Fenster) los. Ich weiß nicht, ob sich wirklich schon überall herumgesprochen hat, dass unser Podcast damals eigentlich als Instagram-Live-Literaturgespräch gestartet ist. Als Insta-Lives noch nach 24 Stunden in der Versenkung verschwunden sind, haben wir irgendwann begonnen, die Tonspur quasi als Nebenprodukt mitzuschneiden und zu konservieren. Ich glaube, kein anderer (Literatur)Podcast funktioniert so. Seit Februar 2019 treffen wir uns nun jeden Monat und sprechen an Grauburgunder über zuletzt Gelesenes. Wenige Tage nach dem Livestream kann man das Gespräch dann immer auch als Podcast (Öffnet in neuem Fenster) hören. Es ist einer meiner liebsten Termine in jedem Monat und ich kann es kaum erwarten, den vermissten Ludwig Lohmann nach unserer letzten Transatlantikfolge (Öffnet in neuem Fenster) endlich wieder an meiner Seite zu haben.

Und endlich wieder Premierenfeeling: Am 11.8. um 20 Uhr moderiere ich im Pfefferberg Theater die Buchpremiere (Öffnet in neuem Fenster) von der grandiosen Julia Friese und ihrem intensiven Debütroman „MTTR“ (Öffnet in neuem Fenster)

Und darum gehts im Roman, der am 10.8. im Wallstein Verlag (Öffnet in neuem Fenster) erscheint:

Ein Millenial soll Mutter werden und will alles, nur nicht die eigene deutsche Familie reproduzieren. Ein gesellschafts- und sprachkritischer Roman erzählt drei Trimester – und die Zeit danach.

»Alle Befürchtungen waren wahr, und alles war gerecht gewesen.«
Ein Test im Büro bringt die Gewissheit: Teresa Borsig ist schwanger. Von der Idee einer Familie fühlt sie sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Da sind die Erinnerungen an ihre Kindheit, an Distanz, Disziplin und Schläge. In der Abtreibungsklinik von den Schwestern zum Schlucken der Tablette gedrängt, geht Teresa in den Widerstand: Sie will doch Mutter werden. Nein, Mama will sie werden. Kann man geben, was einem selber fehlt?
Das Gesundheitssystem nimmt die Schwangere auf wie einst die Eltern. Effizient. Kalt. Man will doch nur ihr Bestes. Und ihr Baby in einem Wärmebett isolieren. Wie hoch ist die Überlebenswahrscheinlichkeit ihres Säuglings? Ärzte und Schwestern sprechen über ihren Kopf hinweg. Teresa schreit. Sie solle sich mal nicht so wichtig nehmen, sagt das Krankenhaus.
»MTTR« erzählt von den Auswirkungen deutscher Nachkriegserziehung, erzählt die Unfähigkeit der Babyboomer, Gefühle zu zeigen, und wenn dann nur durch Ersatzhandlungen: Kauf, Korrektur und Sorge. Jeder Dialog ist eine Boshaftigkeit. Fast bemerkt man sie nicht, denn aktengraue Gefühlstemperatur und grobe Unbeholfenheit sind Alltag in Deutschland. Werden Millennials, wie Teresa, sie reproduzieren?

MTTR: Mean Time To Recover bzw. auch Mean Time To Repair (abgekürzt jeweils MTTR) wird als die mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall eines Systems definiert. Diese gibt an, wie lange die Wiederherstellung des Systems im Mittel dauert. Sie ist somit ein wichtiger Parameter für die Systemverfügbarkeit. (Quelle: Wikipedia)

Und dann gibt es zwei Instagram-Buchgespräche im August auf die ich mich ganz besonders freue: 

Am 18.8. spreche ich um 20 Uhr auf meinem Instagramkanal (Öffnet in neuem Fenster) mit Christine Koschmieder über ihren zutiefst beeindruckenden Roman „Dry“ (Öffnet in neuem Fenster), der am 17.8. im geschätzten Kanon Verlag (Öffnet in neuem Fenster) erscheint.

Dry handelt vom Trinken und wie es ein Leben bestimmt. Und es handelt vom Aufhören. Dass sich eine Frau aus der Abhängigkeit ins Schreiben begibt. Klar tritt sie eine Reise in die Kindheit, zum früh verstorbenen Mann, zu den eigenen Rollen als Mutter, Geliebte, Tochter an.

Christine Koschmieder scheint immer alles geschafft zu haben: Sie hat den Tod ihres Mannes verarbeitet, drei Kinder großgezogen, Karriere im Kulturbetrieb gemacht. Heimlich geholfen hat ihr dabei der Alkohol. Doch mit Ende 40 weiß sie nicht mehr weiter und liefert sich in eine Suchtklinik ein. Dort begibt sie sich auf Spurensuche. Ist der Krebstod ihres Mannes wirklich der Grund für ihre Abhängigkeit, oder liegen die Wurzeln nicht viel tiefer? Christine Koschmieder hat einen mutigen autofiktionalen Roman geschrieben, der unter die Haut geht. Radikal ehrlich und mit literarischer Meisterschaft erzählt sie von sich und von uns. Dieses Buch ist eine Mutprobe.

Und ebenfalls im Instagram-Live spreche ich am 24. August mit Shelly Kupferberg über ihren wunderbaren Roman „Isidor“ (Öffnet in neuem Fenster), der genau an diesem Tag bei Diogenes (Öffnet in neuem Fenster) erscheinen wird.

Dr. Isidor Geller hat es geschafft: Er ist Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, Multimillionär, Opernfreund und Kunstsammler und nach zwei gescheiterten Ehen Liebhaber einer wunderschönen Sängerin. Weit ist der Weg, den er aus dem hintersten, ärmlichsten Winkel Galiziens zurückgelegt hat, vom Schtetl in die obersten Kreise Wiens. Ihm kann keiner etwas anhaben, davon ist Isidor überzeugt. Und schon gar nicht diese vulgären Nationalsozialisten.

»Was für Kunst hing im prachtvollen Wiener Domizil meines Urgroßonkels? Mit dieser Frage begann meine Recherche und mündete in eine ganz andere Frage: Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts von ihm übrigbleibt?« Anhand von Familienbriefen und Fotos, alten Dokumenten und Archivfunden zeichnet Shelly Kupferberg die Konturen eines erstaunlichen Werdegangs nach, eines rasanten gesellschaftlichen Aufstiegs. Urgroßonkel Isidor war eine schillernde Figur, ein Macher und ein Lebemann, der den Luxus, die Kunst und besonders die Oper liebte. Auf ihrer Spurensuche, die sie von Ostgalizien nach Wien, von Budapest nach Hollywood und Tel Aviv führt, stößt Shelly Kupferberg auf unzählige Geschichten: aufregende, verblüffende, komische und immer wieder tragische. Die Geschichte von Isidor und den Seinen – ein berührendes Buch über das Schicksal einer jüdischen Familie.

Und nun zum versprochenen Lebensbuch, einem meiner Ewigliebsten. Mit diesem Buch hat sie nämlich angefangen, meine Faszination für Übersetzungen und meine Liebe zu ach, bitte lest selbst und lest es vor allem laut und lest es gern vor:

Es gibt kaum einen Prosatext, der so unfassbar schön ist, wie Wsewolod Petrows „Manon Lescaut von Turdej“ (Öffnet in neuem Fenster). Aus dem Russischen übersetzt hat es Daniel Jurjew und zwar so gekonnt und empathisch, dass kein Hauch der flirrenden Melancholie dieses brillanten Textes verlorengeht.
Geschrieben 1946, wurde der Text erst 2006 in Russland veröffentlicht und liegt Dank des großartigen Bonner Weidle Verlags seit 2012 auch auf Deutsch vor. Mit einem erhellenden Kommentar von Olga Martynova und einem Nachwort von Oleg Jurjew. Dieses nicht einmal hundertseitige Kleinod ist nahezu prädestiniert dazu, dass sich Liebende die Geschichte unter der Bettdecke vorlesen, zuflüstern, entgegen hauchen. In einer Art Kammerspiel, einem unbestimmten Lazarettzug zwischen nicht näher bezeichneten Fronten, verfällt der namenlose Protagonist – ein nervöser, feingeistiger Wertherleser – der Krankenschwester Vera Muschnikowa, die unbändig und sprühend für das Leben selbst stehen könnte. Eine der traurigsten und zartesten Liebesgeschichten, die ich kenne und einer der weltschönsten Texte, die wir überhaupt lesen können. Ich glaube damals bin ich dem Weidle Verlag verfallen und habe zum ersten Mal verstanden, wie unabhängige Verlage arbeiten und welche Schätze sie uns schenken. Und es ist nicht das einzige Buch dieses Verlags in meinem Lebensbuchregal. Irgendwann verrate ich euch, was dort noch aus dem Weidle Verlag steht.

Jetzt für den August, lieber Leser*innen wünsche ich euch Sonne und nahes Wasser, ich wünsche euch Zeit und Erholung und natürlich gute Lektüren und ein mehr als haselmausgroßes Aufnahmevermögen um all das gebührend zu genießen.

Ich gönne mir für Ende August einen wenig Urlaub nach all den tollen Events und freue mich hier auf ein Wiederlesen mit euch am letzten Sonntag im September.

Bis dahin wünsche ich euch ein gutes Lesen

Eure Maria

PS: Am ersten Sonntag im Monat ist auf Instagram ja immer der Fragesticker für die Literatursprechstunde offen. Also das nächste Mal am 7. August. Urlaubsbedingt pausiert das dann im September und geht am ersten Sonntag im Oktober weiter. Dafür gibt es am 13.8. aber endlich eine neue Auswahl für mariaslesekreis (Öffnet in neuem Fenster).

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