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MCP – Der Newsletter #19 April 2023

Liebe Leser*innen,

während in Leipzig so langsam die Buchmesse ihrem Ende entgegengeht – wie wunderbar ist eigentlich der hochverdiente Preis der LBM für Dinçer Güçyeter und seinen Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ich feiere immer noch – schicke ich euch ein paar Lesegedanken zu meinem April. Nach dem Marathon für die 50. blauschwarzberlin Podcastfolge, bei der Ludwig Lohmann und ich über 50 Bücher aus unabhängigen Verlagen gesprochen haben, war in den letzten Wochen kaum etwas auf meinem Lesestapel, wovon ich euch heute schwärmen könnte. 

Hä? Entschuldigung. So meine ich das eigentlich nicht. Es gab natürlich ganz viele grandiose Lektüren, die mich begeistert haben in den vergangenen Wochen, aber sie erscheinen alle erst im Sommer und vor allem im Herbst. Keine Angst, euch wird keine einzige literarische Perle entgehen, ich berichte dann zu gegebener Zeit über Neues aus der Feder schon lange innig bewunderter Autorinnen, deren künftige Bücher ich jetzt schon lesen durfte, neue Lieben und literarische Glanzlichter, die ich entdecken durfte in ganz frischen Verlagsprogrammen, die erst noch das Weltenlicht erblicken werden. 

Der BücherFrauen-Literaturpreis Christine

Was mich in den kommenden Wochen literarisch besonders beschäftigen wird, steht auch schon weitestgehend fest, denn gemeinsam mit Anita Djafari und Karen Nölle darf ich Teil der Jury für den BücherFrauen Literaturpreis Christine sein. 

Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen (erstmals 2021 an Mely Kiyak für „Frausein“) und würdigt deutschsprachige und ins Deutsche übersetzte literarische Werke (Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Reportagen, Biografien) der vergangenen zwei Jahre. Ausgezeichnet werden soll die Arbeit von Autorinnen, die mit ihrem Schreiben zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Stärkung von Frauen und Mädchen beitragen. Bei Übersetzungen wird das Preisgeld von 10 000 Euro zwischen Autorin und Übersetzerin hälftig geteilt. Die damit verbundene Statuette »Christine« ist benannt nach der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Christine de Pizan (1364 bis nach 1429). Sie wurde gestaltet von der Karlsruher Künstlerin Kassandra Becker.

Die Regionalgruppen der BücherFrauen, dem Branchennetzwerk für Frauen in der deutschsprachigen Buchbranche, haben folgende elf Titel für den Preis nominiert und uns eine hervorragende Literaturliste geliefert, mit der wir nun als Jury weiterarbeiten können, über eine zu extrahierende Shortlist bis dann zur Frankfurter Buchmesse die Preisträgerin verkündet wird. Nominiert sind:

  • Fatma AydemirDschinnsHanser 2022

  • Shida BazyarDrei KameradinnenKiepenheuer & Witsch 2021

  • Radka DenemarkováStunden aus Blei (Übersetzung: Eva Profousová), Hoffmann & Campe2022

  • Mareike FallwicklDie Wut, die bleibtRowohlt 2022

  • Odile KennelLustVerlagshaus Berlin 2021

  • Selene MarianiEllisWallstein 2022

  • Sofi OksanenHundepark (Übersetzung: Angela Plöger), Kiepenheuer & Witsch 2022

  • Sharon Dodua OtooAdas RaumFischer 2021

  • Gabriele RiedleIn Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Eine Art AbenteuerromanAufbau Verlag(Die andere Bibliothek) 2022

  • Slata Roschal153 Formen des NichtseinsHomunculus 2022

  • Claudia SchumacherLiebe ist gewaltigdtv 2022

Lieblingsbuch (nicht nur) im April

Ansonsten möchte ich euch natürlich noch von einer Literatur begeistern, die mich im Monat April so in den Bann ihrer Sprache, ihrer Erzählweise, ihrer Geschichte und ihrer Form gezogen hat, dass sie schon auf den ersten Seiten ein Lebensbuch geworden ist. Ein Buch, das nachklingt und mich nicht loslässt, auch wenn ich es fast schon auf jedem Kanal beschwärmt habe, werde ich vermutlich nie fertig mit diesem berauschenden Text:

Doireann Ní Ghríofa „Ein Geist in der Kehle“ (Übersetzung Cornelius Reiber Prosa und Jens Friese Lyrik)

Was für ein ungewöhnliches und brillantes Werk, was für eine sprachmächtige Wucht. Worum geht es? Wir dürfen sehr davon ausgehen, dass die Dichterin Doireann Ní Ghríofa sehr an ihrem eigenen Leben entlang geschrieben hat. Sie hat drei kleine Kinder zuhause, das vierte ist unterwegs, Geld ist meist knapp. In ihrem Leben herrscht viel Chaos, aber auch viel Liebe. Bei der Geburt des vierten Kindes, einem Mädchen nach drei Söhnen, kommt es zu unerwarteten Komplikationen, eine Grenzerfahrung in einer anspruchsvollen Zeit, die ja ohnehin eine Grenzerfahrung im Leben jeder Frau ist. Doireann Ní Ghríofa erinnert sich in dieser Phase ihres Lebens an ein Gedicht von Eibhlín Dubh Ní Chonaill (c. 1743 - c. 1800), eine Totenklage an den Geliebten, die im 18. Jahrhundert entstanden, heute ein irisches Nationalepos ist. Sie kennt diesen Text schon aus Schulzeiten, aber plötzlich entwickelt sie ein unfassbar tiefes Interesse für diese Geschichte und versenkt sich ganz in die Recherche. Die Durchlässigkeit von Geschichte, die enge Verbindung zutiefst weiblicher und künstlerischer Themen lassen sie nicht mehr los. Die Suche nach den Spuren der Verfasserin gibt unserer Autorin im Heute Halt, sie entwickelt eine regelrechte Obsession für das Leben von Eibhlín Dubh Ní Chonaill. Als Adlige, aber katholisch, hatte sie es im historischen Kontext Irlands besonders schwer. Sie wurde zudem mit 15 Jahren mit einem viel älteren Mann verheiratet, war bereits ein halbes Jahr später Witwe und verliebte sich mit Anfang 20 unsterblich in einen jungen Hauptmann im Dienst Maria Theresias, den sie gegen den Willen ihrer Familie heiratete. Als durch ein böse Intrige, dieser Art Ó Laoghaire ermordet wurde, schrieb sie ein Gedicht von solcher Macht und Kraft, das von so viel Liebe und Begehren und Glück und Trauer und Wut erzählt, dass es die Jahrhunderte überdauerte, auch wenn von seiner Verfasserin danach kaum etwas bekannt wurde, nicht einmal, wo sie begraben ist. So viel zu recherchieren wie möglich, macht sich Doireann Ní Ghríofa zur Aufgabe und zieht daraus ungeheure Kraft für ihr eigenes Leben und Schreiben. „Dies ist ein weiblicher Text.“ Es ist definitiv ein Text, der sich mit sehr weiblichen Themen beschäftigt, mit dem Schwangersein, Gebären, Stillen, der Fürsorge … aber er handelt auch von der besonderen Anstrengung eine Mutter und gleichzeitig auch eine Künstlerin zu sein. Und er erzählt vom typischen Niederringen weiblicher Genies durch Männer, die die Geschichte schreiben und das Werk und Leben schreibender Frauen klein halten wollen. Dieser Text ist ein kraftvolles Aufbegehren, ein präzises Benennen, er ist spannend und poetisch und gehört zum Allertollsten, was ich nicht nur in diesem Jahr lesen durfte. 

Vorfreude auf den Mai

Im Mai gibt es wieder ein paar tolle Gelegenheiten, bei denen ich mit Autorinnen über ihre neuen Bücher sprechen darf und ich kann kaum fassen, wie interessante Wege meine Arbeit manchmal nimmt, denn auf diesen ankündigenden Blick wirkt alles, wie ein fein aufeinander abgestimmtes Themenkonzept, dabei hat mich jedes Buch und jede der drei großartigen Autorinnen auf ganz eigene Weise begeistert. Wie wundersam das Leben eben auch ist. Nun gut. Der Reihe nach:

Am Montag, den 8. Mai werde ich um 20 Uhr auf Instagram mit Ulrike Juchmann über ihr neues Buch „Sei du selbst, alle anderen gibt es schon“ im Gespräch sein und bin schon wahnsinnig gespannt auf unseren Austausch zu ganz vielen Themen, die mich gerade sehr umtreiben. Der Untertitel lautet: Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben und dieses Thema könnte gerade nicht besser in mein Leben passen und ich bin ganz sicher, es wird auch viele von euch begeistern, was Ulrike Juchmann dazu zu sagen hat.

Und das sagt der Verlag zum Buch: Fast alle Frauen haben Denk- und Verhaltensmuster verinnerlicht, die ihnen schaden. Bedingt durch Erziehung und gesellschaftliche Normen meinen sie oft, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen: Besonders höflich sein. Sich kümmern. Schön sein. Selbst erfolgreiche Frauen knabbern an ihrem Selbstwert und betrachten ihr Können und ihren Körper durch die Defizitbrille.
Doch wie können Frauen den Blick auf ihre Kompetenzen, ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial richten – auf das, was sie wollen? Die Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Juchmann zeigt in ihrem Buch die besten Tools aus 25 Jahren Arbeit mit Frauen. Ihre besondere Methodenkombination aus Achtsamkeit, Arbeit an Glaubenssätzen und Körperübungen hilft dabei, hinderliche Erwartungen abzustreifen.

Mit Judith Poznan werde ich gleich drei Mal über ihren neuen Roman „Aufrappeln“ sprechen dürfen, der am 17.5. erscheint: Als Vorpremiere am 13. Mai bei der Party der Agentur Gegensätze im Taunus, am 19. Mai um 20 Uhr im Livestream auf Instagram und am 31. Mai vor Publikum bei der Buchpremiere im Berliner Pfefferberg Theater.

Das sagt der Verlag zum Buch, in das ich mich schlagartig verliebt habe, wie in Judith selbst ja schon vor langer Zeit, als wir gemeinsam die Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht haben: Als Judith am Morgen des Karfreitags ihr Bad betritt, ereignet sich etwas Unerwartetes: Aus dem Klo heraus schaut ihr eine Ratte entgegen. Die nächsten Tage werden auch nicht besser, denn aus heiterem Himmel trennt ihr Freund sich von ihr. Eben war noch alles gut und dann ist ganz plötzlich nichts mehr gut. Judith sitzt auf der Couch, als der Vater ihres Kindes mit einer Tasche die Wohnung verlässt und ganz leise die Tür hinter sich schließt. Jetzt also alleinstehend mit Kind. Die nächsten Monate werden nicht einfach. Die Welt geht unter, mehrmals. Und dann wieder doch nicht. Die Seelenlage gerät durcheinander. Niemand muss den anderen nach einer Trennung am nächsten Tag noch mal wiedersehen – es sei denn, man hat ein gemeinsames Kind. Als Paar scheitern, aber zusammen Eltern bleiben ist das erklärte Ziel. Ein neuer Lebensplan muss also her, für sie drei als Patchwork-Familie, aber auch für Judith als Mutter und Single-Frau.
Wie all dies gelingen kann, erzählt Judith Poznan in ›Aufrappeln‹. Sie erzählt von traurigen und ernsten, aber auch von absurden und heiteren Momenten nach einer Zäsur im Leben – aufrichtig, warmherzig und unheimlich witzig.

Und ein absoluter Herzenswunsch von mir war es auch, mit der großartigen Saralisa Volm am 24. Mai um 20 Uhr auf Instagram über „Das ewige Ungenügend“ zu sprechen. Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers, so der Untertitel, ist gerade ganz frisch erschienen und ich feiere diesen mutigen, ehrlichen, wütenden und klugen Text in jedem Gedanken, ja in jedem einzelnen Buchstaben.

Das sagt der Verlag zum Buch: Wie viel Hyaluron passt in das Gesicht einer intelligenten Frau? Wie viel Botox kann ich meiner politischen Haltung zumuten? Wie viel Hängebrust ertragen? Saralisa Volm steckt mittendrin im Schönheitswahn. Es ist Zeit für körperliche Selbstermächtigung, besseren Sex, echte Wut, entspanntes Altwerden und dafür, endlich nein zu sagen.
Überall ist Körper. Überall ist Bewertung. Kein Entkommen. Was macht das mit uns? Saralisa Volm, Schauspielerin, Filmproduzentin und Kuratorin, ist hin- und hergerissen zwischen der Generalsanierung ihres Körpers und einem großen »Fuck you«. Kann man sich nicht einfach unförmig finden und trotzdem das Leben genießen? Die 38-Jährige hat sich beruflich und privat intensiv mit dem Thema Körper beschäftigt. Hier erzählt sie die Geschichte ihres ambivalenten Verhältnisses zum eigenen Körper. Sie ist der Ausgangspunkt für die feministische Auseinandersetzung mit dem Thema. Wer ist schuld an unserem Schönheitsdilemma? Und vor allem: Was können wir Frauen ihm entgegensetzen.

Ich freue mich unbändig auf diese drei Autorinnen, diese drei ganz besonderen Bücher, diese Gespräche und hoffe, dass ihr alle dabei seid und wir uns online am 8., 19. und 24. Mai und vielleicht sogar in echt am 13. oder 31. Mai sehen werden.

Und natürlich wird es auch eine Folge #52 unseres blauschwarzberlin Literaturpodcasts geben: Am 17.5. um 20:30 Uhr öffnen Ludwig Lohmann und ich dafür eine ganz besonders gute Flasche Grauburgunder.

Neues im April

Und zum Abschluss möchte ich euch noch drei phänomenal gute Neuerscheinungen mit auf den Weg geben:

Saša Stanišić hat ein zum Niederknien gutes Buch für Kinder ab elf Jahren geschrieben. Regina Kehn hat „Wolf“ illustriert und ich bin mir ganz sicher, dass diese Geschichte um Außenseiter, Mut, Zusammenhalt, Solidarität und Freundschaft euch auch ohne Kinder gleichermaßen zum Lachen, zum Weinen und zum Nachdenken bringt.

Es gibt endlich neue Essays von Teju Cole: „Black Paper“ wurde von Anna Jäger und Uda Strätling übersetzt und trägt den Untertitel Schreiben in dunkler Zeit. Teju Cole ist ein Autor, von dem ich jedes Wort, jeden Gedanken geradezu aufsauge und dessen Sicht auf die Welt mein Leben und mein Lesen immer besser machen.

Die neue Ausgabe der sagenhaften MaroHefte #11 hat mich mal wieder völlig umgehauen. Das ist und bleibt einfach eine wahnsinnig gute Reihe und ihr solltet euch alle mal genau anschauen und idealerweise sammeln. Band 11 von Lou Zucker, illustriert von Josephin Ritschel: „Eine Frau geht eine trinken. Alleine“ heißt ein verdächtiges Heft, denkt den Flexen-Gedanken weiter und legt den Finger in die Wunde all der weiblich gelesenen Personen, die eben nicht einfach mal so gedankenlos allein ausgehen können. Lasst diese Wunde heilen!

Ich freue mich auf viele literarische Begegnungen im Mai.

Bis dahin habt ein gutes Lesen. Bleibt sanft – mit euch und anderen.

Eure Maria



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