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Wie „Fernsehgarten“ auf Koks: Mein Tag beim OMR (Mai 2023)

Vielleicht ist es ein Fehler, diesen Kommentar zum OMR-Festival zu veröffentlichen. Selbst im safe space der LuxusProbleme-Community. Hm. Auf der anderen Seite soll man ja über seine Traumata offen sprechen. Als kathartischen Moment und Heilungsbeginn. Und beides ist wirklich dringend nötig nach (m)einem Tag inmitten von 70.000 Online Marketing Rockstars in den Hamburger Messehallen. <SEND> Zu spät ...

„Wir sind ja jetzt hier auf ’ner Digital Conference, so’n bisschen digital und so.“
– Jeremy Fragrance, Beauty-Influencer und TikTok-Philosoph

„Was war dein geilstes Beschleunigungserlebnis?“, fragt der Firmenkunden-Geschäftsführer von Vodafone den Ex-Rennfahrer und Investor Nico Rosberg (Öffnet in neuem Fenster) auf der in signalrote LEDs getauchten „Red Stage“. Mit jenem bemüht lockeren Unterton, der wohl an Männergespräche in der Gym-Umkleide erinnern soll. „Erzähl mal bro, heybro, wie läuft’s bei dir?“, so in der Richtung, Sie kennen das sicher. Die Antworten Rosbergs quittiert der Topmanager beeindruckt mit „ja, supercool“ und „ja, mega“.

Dieser Duktus ist Pflicht auf einer Messe, die den Namen Online Marketing Rockstars trägt und viel lieber ein Festival wäre. So wie Coachella, nur ohne echte Popgrößen, wüste(n) Location und California Dreaming (Öffnet in neuem Fenster). Stattdessen mit einer irritierenden Melange aus CeBIT (Öffnet in neuem Fenster), Azubi-Tag bei der Commerzbank und Circus HalliGalli (Öffnet in neuem Fenster). Aber dazu später mehr.

Zunächst höre und groove ich mich mal langsam ein, während dieses kurzen Eröffnungstalks, anmoderiert, aus mir schleierhaften Gründen, von Steven „Unser Mann bei den Oscars“ Gätjen (Öffnet in neuem Fenster). Auf der Videowand der riesigen Bühne tanzt eine IWC-Uhr (Öffnet in neuem Fenster) herum, inmitten von Vodafone-Logos. Seltsames Co-Branding, aber anderswo war für die Schaffhausener vielleicht kein Platz mehr im penetranten Sponsoring-Schilderwald zwischen den Messehallen. Bereits um fünf nach zehn ahne ich, dass dieser Weg kein leichter sein wird, wie ein längst gecancelter Sänger und Schirmmützenträger (Öffnet in neuem Fenster) es ausdrücken würde.

Klicken Sie hier für die Audio-Version dieses Newsletters – vorgelesen von mir.

Immerhin habe ich mich bestmöglich auf mein erstes Mal im wilden Hustle-Culture-Kosmos des Philipp W. (Öffnet in neuem Fenster) vorbereitet. Bereits um 6.30 Uhr stand ich auf dem Crosstrainer, eine aufpeitschende Erfolgs-Playlist im Gehörgang und bloß eine Banane im Magen. Kurze Dusche, rasch in den 3-D-Stretchanzug gesprungen, für eine Power Hour ins Büro und dann ab ins Pitch-Getümmel. Ein echter Miracle Morning (Öffnet in neuem Fenster) also. Nur für den Bulletproof Coffee (Öffnet in neuem Fenster) war ich zu faul und unser Mixer zu laut. Ich wollte schließlich meinen noch selig schlummernden Mann nicht wecken. #relationshipgoals

Jetzt stehe ich in der vollen U-Bahn. Um den Hals das Einlassticket im üppigen Format des Brustbeutels, den alleinreisende Kinder von der Lufthansa mit Tickets und Notfallnummern vollgepackt kriegen. Den OMR-Pass tragen noch etliche andere Fahrgäste, quasi eine Art Erkennungszeichen von jungen und nicht mehr ganz jungen Web-Durchstartern. Wie der Wacken (Öffnet in neuem Fenster)-Sweater für Metal-Fans oder die Blumenketten beim Schlagermove (Öffnet in neuem Fenster). Unser laminiertes Pappquadrat weist dagegen jene aus, die es im Business geschafft haben und die Zukunft rocken (werden). Oder die jemanden kennen, der ihnen eine Akkreditierung schnorrt. Rund 500 Euro wollen schließlich erstmal durch hilfreiche Kontakte und venturecapital amortisiert werden. 

Zurück in der Vodafone-Welt beantworte ich in Gedanken kurz die Frage des Firmenkundenchefs. Mein geilstes Beschleunigungserlebnis? Wahrscheinlich, als ich mit ungefähr vier Jahren von einem riesigen Felsbrocken in Hagenbecks Tierpark (Öffnet in neuem Fenster) kopfüber auf den Boden knallte. Blutüberströmt und heulend mit Mama im Bus nach Hause. Mega. On stage muss Rosberg, der den linkischen Sketch bewunderswert gut gelaunt und schlagfertig meistert, gerade angeben, ob sein E-Bollide auch mit einer Vodafone-SIM-Karte ins Netz geht. Da lugt jetzt der Vertriebler im Vodabro durch. Mehr Excel als Extase. Rasches Selfie mit den vollen Zuschauerreihen im Hintergrund und Kulissenabgang rechts.

Tja, apropos Extase. Was nun folgt, das haben einige von Ihnen, werte Community, sicherlich bereits in (Branchen-)Medien gelesen: der Auftritt von Parfüm-YouTuber Jeremy Fragrance. Ein Ereignis, das mitverantwortlich dafür ist, dass dieser Newsletter mit einem Tag Verspätung in Ihrer Inbox landet. Eine Begegnung der dritten Art (Öffnet in neuem Fenster), die mich nicht nur am 9. Mai verstört und hysterisch grinsend aus der Halle flüchten ließ. Nein, das bizarre Geschwafel des weiß gewandeten Hans-Klok (Öffnet in neuem Fenster)-Doubles beschäftigt mich bis heute.

Vielleicht, weil es all die Vorahnungen und Befürchtungen summiert und verdichtet, die ich schon 2011 als Speaker auf dem Luxury Business Day in München zu Protokoll gab (Öffnet in neuem Fenster). Vielleicht auch, weil Mr. Fragrance (Öffnet in neuem Fenster), der eigentlich Daniel Sredzinski heißt und aus Oldenburg kommt, mit seinen wirren Entgleisungen einerseits überhaupt nicht beispielhaft ist für die beim OMR gebotene Vortragsqualität und Debattenkultur. Punkt. Und gleichzeitig eben leider doch perfekt symbolisiert, was alles schiefläuft im Bermuda-Dreieck aus Content-Kakophonie, persönlicher Reichweite und Start-up-Szene. Statt Herrn J. Dufts Ausführungen süffisant zu zerpflücken, wie es viele Kollegen getan haben (Öffnet in neuem Fenster), hier einige Geschmacksmuster seines spontanen Motivationstrainings auf Basis von Tony Robbins (Öffnet in neuem Fenster)’ Mülleimer. Der Titel: „Power, Baby! Wie Jeremy Fragrance das Attention Game gewinnt“ … #ätänschnblies

„Ich bin jemand, der gerne zieht. Gib mir das geile Essen, stimuliere mich sexuell, Baby. Gib mir die geile Musik, Alter. Aber jetzt bin ich in einer Phase, wo ich euch Energie geben möchte.“

„Brüllt jetzt mal alle: Krrrraft, Power, strrrrrength. Wenn ihr euch nämlich sagt, ich bin ein Loser, ich bin ein A*schgesicht, dann fühlt ihr euch wie ein A*schgesicht. Wenn ihr euch dagegen sagt: ‚Ich bin geil und gesund, Alter‘, dann fängt euer Gehirn an, genauso zu denken.“

„Macht aus euch ’ne Brand, damit ihr nicht so leicht ersetzbar seid. Weil: Die AI kommt und outsourced alles, inkl. der Influencer. Aber es geht ja los mit Autofahrern und Kassierern.“

„Denkt an eure Autosuggestion: Ich bin geil, ich bin gesund, ich bin krass. Und resolve core conflicts. Hast du was mit Mutti oder Vati besprechen, wenn die kurz vorm Tod sind, dann macht das, dann bist du frei. Mach aus dir ’n Brand, enjoy the digital life und hab ’n geilen inneren Dialog.“

„Wenn die Leute denken, ich nehm’ Koks, ist das nicht als ein geiles Kompliment anzusehen? Ich hab in meinem Leben noch nie Drogen genommen, ich trinke auch keinen Alkohol. Aber ist doch geil, wenn die Leute das denken.“

„Die Sache ist, ich darf nicht lügen. Ich habe ein ziemlich krasses Mindset und ich bin auch ethisch sehr geil unterwegs. Ich könnte es mir sehr leicht machen. Ich könnte jeden Tag fünf Mädels ******, ich könnte euch alle vera*schen. Das kann ich aber nicht machen, Alter.“

Als Mr. Fragrance dann noch raushaut, er wäre Luke Skywalker (wohl eher: Jeremy Sh*ttalker), drückt mein Gehirn den panic button. Ich drängle mich ins Freie, durch die Menge der Schaulustigen, die ihre ungläubig stierenden Augen nicht von diesem Verbal-Unfall abwenden können. War das Narzissmus im destruktiven Endstadium, doch eine Substanz-Überdosis oder braucht da jemand dringend eine Intervention? Eigentlich gar nicht zum Lachen jedenfalls.

Und wenn du schon denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo Judith Williams her. Das sympathische Zwiegespräch mit ihr versöhnt meine aufgewühlte Psychosomatik und klärt mir den verquasten Bregen. Kurz bedauere ich die vielen Zwerchfellkrämpfe, die mich bei den Kalkofe-Parodien auf „die Brillanten-Tante vom Teleshopping (Öffnet in neuem Fenster)“ über die Jahre mächtig schüttelten. Und ich staune über die Größe von Williams’ Cura Cosmetics Group (Öffnet in neuem Fenster), ein Unternehmen, das in Innsbruck rund 200 Mitarbeiter beschäftigt, und Produkte für eigene Marken sowie White-Label (Öffnet in neuem Fenster)-Linien für Drogerien entwickelt. Bis zu 100.000 Pflege-Pakete gehen bei HSE (Öffnet in neuem Fenster) („Here Shopping Entertains“) an manchem Wochenende raus, das schafft wohl kaum eine deutsche Innenstadt.

Die TV-Verkaufspionierin rät Newcomern wie etablierten Playern u. a.:

- baldmöglichst Erfahrungen mit Live-Commerce (auf Instagram, TikTok, in der T-Mall etc.) zu sammeln, über den in China (Öffnet in neuem Fenster) selbst Autos für bis zu 100.000 Euro verkauft werden.
- die Regeln, Geschwindigkeiten, Stärken, Schwächen und Unterschiede der einzelnen Social-Plattformen zu kennen, zu beherzigen und auszunutzen.
- sich authentisch zu geben, vor und hinter der Kamera, und keine fake stories zu erzählen.
- zu lernen, dass heute nicht mehr die Marke, sondern der Kunde der Star ist, dem ihre Produkte zu mehr Glanz, Selbstbewusstsein, emotionalen Erlebnissen o.ä. verhelfen sollen.
- als Start-up nicht sofort überall erhältlich sein zu wollen und schon die nächsten zig Kollektionen im Blick zu haben, sondern zunächst ein ausgereiftes Angebot zum Bestseller zu machen. So habe Williams es selbst bei ihren „Höhle der Löwen (Öffnet in neuem Fenster)“-Beteiligungen BitterLiebe (Öffnet in neuem Fenster) und Bedrop (Öffnet in neuem Fenster) gehandhabt.

Blanker Neid überkommt mich, das gebe ich offen zu, beim nachfolgenden, ebenfalls spannenden Vortrag von Influencerette Carmushka (Öffnet in neuem Fenster) alias Carmen Kroll. Die fährt mit einem vierköpfigen Team, diversen Kanälen und eigener Modelinie um die fünf Millionen Euro im Jahr ein. Nach sechs Jahren emsiger Aufbauarbeit. Kroll macht zum Glück keinen Hehl aus dem Preis – Stichwort: Verkauf der Privatsphäre – den sie dafür zahlt. Und dem Umstand, dass authentisches (schon wieder dieses Wort) Community-Management eigentlich kaum delegiert werden kann. Sie antworte auf jede Regung ihrer Follower höchstpersönlich. Worauf Carmushka gut verzichten kann: allzu detaillierte Briefings von Markenpartnern.

Puh, so viel spät-kapitalistisches Stürmen und Drängen macht ganz schön hungrig. Zum Glück ist beim OMR für reichlich Verpflegung gesorgt, von der Food-Court-Halle B7 über diverse Foodtrucks im Außenbereich und Getränke-Bars allerorts. Was nervt: Bezahlt wird alles only (!) mit dem Chip am Einlassbändchen, wie früher per Kunstperle im Robinson Club (Öffnet in neuem Fenster). Eine E-Mail-Rechnung (s. oben) kalkuliert den finanziellen Schaden der eigenen Gelüste während der Messe: vom Pastrami-Sandwich für zwölf Euro (das habe ich mir verkniffen) über eine lauwarme kleine Pizzaecke für sechs Euro bis zum extrem säurebetonten OMR-Riesling von Dreissigacker für 11,50 Euro. Jeweils plus wahnwitzige Pfandbeträge, damit ja niemand fürs Abräumen bezahlt werden muss, sondern die klammen Besucher das g’fälligst selbst erledigen.

Blöd bloß: Die Retoure-Schlangen sind in der Tagesmitte, als das Festival in Volllast fährt, endlos lang. Prompt verpasse ich den Talk mit Star-Streamer MontanaBlack (Öffnet in neuem Fenster), während ich auf die Rückbuchung meines Koziol-Tellers (Öffnet in neuem Fenster) warte. Ebenfalls im roten Drehzahlbereich: die WLAN-Netze in sämtlichen Hallen sowie draußen – und auch der Mobilfunk kapituliert gegen 14 Uhr für einige Zeit. Das „O“ in OMR wackelt bedrohlich.

Bei dem Geschiebe der Menschenmassen, zuweilen so übel wie beim Hafengeburtstag am Wochenende zuvor, wird es schwierig mit dem effizienten Networking. Auch an den Ständen sind spontane Meetings Mangelware. Wer keine Termine vorab vereinbart hat oder die zahlreichen After-Work-Events mitnimmt, wo das deutlich entspannter klappt, der nimmt mehr Eindrücke als Abschlüsse mit heim.

Nach dem Lunch im Stehen merke ich, wie die verzweifelte coolness und Zukunftshörigkeit dieser Mover & Shaker-Veranstaltung allmählich an meinen Kräften zehrt. Der „Mega, ich feier’ das voll“-Jargon geht mir auch gehörig auf den veganen Keks. Als Folge davon verschwimmen die letzten Stunden meines Messetages zu einem surrealen Potpourri aus Szenen, Keynote-Fetzen, Stirnrunzeln und Riesling-Reflux.

Im Gedächtnis-Protokoll notiere ich Folgendes: Transformationsforscherin Maja Göpel (Öffnet in neuem Fenster) erzählt was vom Klimawandel und einem Marshmellow-Experiment (Öffnet in neuem Fenster). Vermutlich hat sie Recht. Sind das im vollen Saal alles Göpelianer oder schon die Geissen-Ultras, die auf Papa Robert warten? Kai Pflaume moderiert. Klar, warum nicht. Wer an Metaverse und Rockstars denkt, landet ja automatisch bei dieser bundesdeutschen Unterhaltungs-Allzweckwaffe. Hatte Flori Silbereisen keine Zeit?

Auf Pflaumes „Conference“-Bühne steht eine Tresenkulisse, die aus Peter Steiners Theaterstadl (Öffnet in neuem Fenster) stammen muss. An der Theke sitzt Christiane Underberg (Öffnet in neuem Fenster) vom gleichnamigen Unternehmen für Taschenrutscher (Öffnet in neuem Fenster) aka Kräuterbitter. Sie trägt ein CI-grünes Kostüm (kurzer Uta-Ranke-Heinemann (Öffnet in neuem Fenster)-Flashback) und kennt sich bestens mit Nachhaltigkeit aus. Außerdem, google ich später, beriet sie früher Angela Merkel und machte 1958 als eine der ersten deutschen Frauen den Jagdschein. Ihre Verbindung zum OMR? Schnell erklärt, wie bei vielen Speakern, die das Programm bereichern – und heillos zerfasern lassen: Sponsor, Medienpartner, friends of the Westermeyer (Öffnet in neuem Fenster) brand.

Ein Krankenkassenvorstand, ebenfalls Tresensitzer, sagt tatsächlich diesen Satz: „Ich glaube, die Digitalisierung wird uns zukünftig schon ein Stück voranbringen.“ Allein das ist doch 500 Euro wert, oder? Der Thekentalk geht weiter, obwohl eigentlich längst Robert Geiss dran ist. Funke-Chefin Julia Becker (Öffnet in neuem Fenster) hält ein vom Zeitdruck unbeirrtes Plädoyer für Qualitätsjournalismus, Pressefreiheit und gemeinsame Initiativen aller Verlage. Pünktlich zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes will man mit Kampagnen dazu aus allen Rohren feuern. Das wird Frau Underberg gefallen. Waidmannsheil.

Okay, jetzt sitzt da plötzlich die Orthopädin und Beauty-Unternehmerin Dr. Barbara Sturm (Öffnet in neuem Fenster), die mal was mit George „Lederhaut“ Hamilton (Öffnet in neuem Fenster) hatte, und deren Cremes jetzt die Promis vertrauen. Sie und Pflaume haspeln sich durch einen gehetzten Minitalk, ohne Mühen darauf zu verschwenden, einen Link zum Event herzustellen. Beim OMR darf jeder mal, for a small extra-fee. Als der Geissens-Patriarch endlich auf die Bühne darf, kann ich kaum mehr folgen. Zu viel Input, zu viel geistige Antimaterie, zu viel „Hyper, Hyper“.

Hängen bleibt seine überraschend abgeklärte Bodenständigkeit und die Zahl von fast 380 Folgen (Öffnet in neuem Fenster), die seit 2011 abgedreht wurden. Auch der OMR-Auftritt wird 2024 zu sehen sein. Wie schön. Ansonsten hat er es mit Technik nicht so, sagt Geiss. Ich könnte wieder fragen, warum er dann hier ist, aber vermutlich reichte die Drehgenehmigung für die nächste Staffel als Ticket. Und mittlerweile ist es mir auch völlig egal.

Ich stapfe zur blauen Bühne, die durch die vielen Futterbuden in der Halle riecht wie die Gruner+Jahr-Kantine um 14.30 Uhr. Lecker, wenn man noch Appetit hat, übel, wenn man Neues über die Podcastszene lernen will. Wobei: Selbst ohne Geruchsbelästigung und ohrenbetäubendes Besteckklappern sind die Vorträge und Panels zu diesem Themenkomplex highly underwhelming. Erschöpft kichern muss ich über die Ankündigung einer Moderatorin: „Auf dieser Bühne werden gleich ein paar Menschen kommen.“ Das wäre wirklich megakrass.

„Welcome to the internet, have a look around.
Anything that brain of yours can think of can be found.
We've got mountains of content, some better, some worse.
If none of it's of interest to you, you'd be the first.“

- Bo Burnham (Öffnet in neuem Fenster), „Welcome to the Internet“

Stattdessen erklärt Podcaster LeFloid (Öffnet in neuem Fenster), warum er keine Gutscheincodes von Werbekunden mag, alle Produkte vorab selbst testen möchte und wirbt für ein über Zahlen hinausgehendes Vertrauen von Marken in kreative Macher. Leider kein Wort darüber, weshalb sein „Die Sprechstunde (Öffnet in neuem Fenster)“-Format mit Athletic Greens (Öffnet in neuem Fenster) (Link zu einer kritischen ZDF-Doku) zusammenarbeitet, einem hochpreisgen Nahrungsergänzungmittel-Produzenten mit dürftiger Deklarierung und frenetischer (US-)Fanbasis.

Egal, Smoothie drüber. Sam Bankman-Fried (Öffnet in neuem Fenster) war schließlich auch schon hier, vor seiner Verhaftung, und durfte das Blaue vom Kryptohimmel herunterlügen. Boris Becker ist diesmal dabei und „Medieninsider“-Kollege Simon Pycha (Öffnet in neuem Fenster) will gar Thomas „Hackenschuss“ Hornauer (Öffnet in neuem Fenster) gesichtet haben. Als Besucher, nicht Redner. Das OMR-Festival, ein (extrem!) toleranter Querschnitt durch die Gesellschaft ... Zahlen, die ich mir zu Podcasts dennoch mitgeschrieben habe: 20 Millionen Deutsche hören Podcasts, über 60 Prozent täglich. Na ja.

Ich hetze am Underberg-Mini-Riesenrad, jonglierenden Gauklern auf Stelzen und dem Stand vom Kliemannsland (Excuse me ... ?) vorbei zu Pamela Reif. Der event space ist leider bereits wegen Überfüllung geschlossen. Mist. Die OMR-App meldet zudem, dass der Talk des Rappers Haftbefehl über seine Kollabo mit Snipes (Öffnet in neuem Fenster) ausfällt. Ich hoffe, nicht wegen eines Haftbefehls. Ha ha ha, argh. Als mir ein Maskottchen-Biber von Obi auf die Schulter klopft – mehr Offline-Marketing geht ja wohl nicht – fasse ich den Entschluss, zu gehen. Und mein Smartphone in den Flugmodus zu stellen.

Wie singt Woosung von der Band The Rose, einer meiner derzeitigen Lieblinge, so schön: „F*ck this modern life (Öffnet in neuem Fenster)“. Statt seiner wird in Hamburg später Oli P. auftreten. Sicher ein irre netter, anno 1998 gar heißer Typ, und der Text zu „Flugzeuge im Bauch (Öffnet in neuem Fenster)“ fällt mir nach drei Gin Tonics sicher auch wieder ein. Trotzdem: Ohne Mich [ihr] Rotzlöffel.

Was habe ich gelernt an (m)einem Tag OMR?

Nun ist es immer ganz leicht, auf Menschen einzudreschen, die etwas wagen, mit viel Mut und Leidenschaft aufbauen und zum Erfolg steuern. Manchen Schlingerkurs inklusive. Darum will ich mir und Ihnen den „Ich hätte das alles viel hochwertiger, geistreicher, stimmiger und günstiger hingekriegt“-Zeigefinger ersparen. Meine Eindrücke sind eine subjektive Stichprobe, Momentaufnahmen eines fulminanten Feuerwerks an Inhalten, so bunt und qualitativ schwankend wie das Internet, wie Bo Burnham es fantastisch besungen (Öffnet in neuem Fenster) hat. Nicht mehr, nicht weniger.

Der beste Vergleich, um OMR-Neulingen eine grobe Idee zu geben, was sie erwartet, ist vielleicht der mit dem „ZDF- Fernsehgarten (Öffnet in neuem Fenster)“. Allerdings auf Koks, Ecstasy und Steroiden. Eine Sendung, die man gesehen haben muss, um es zu glauben, deren Einschaltquoten aber schlicht nicht wegzudiskutieren sind.

Was mir noch aufgefallen ist: Ein Marketingfestival ist eine ebenso performative Veranstaltung wie eine Modemesse oder -woche. Jeder spielt die ihm zugedachte oder intuitiv übernommene Rolle und hofft, das richtige Kostüm zu wählen und seinen Text nicht zu vergessen. Denn: Die peer group ist ein gnadenloser Kritiker.

Doch was genau erwirbt man eigentlich mit den 500 Euro für zwei Messetage sowie die Möglichkeit, exklusive Master Classes zu buchen, die ich nicht besucht habe? Das wohlige Gefühl, schon oder noch am Ball zu sein. Die Zukunft mindestens zu verstehen wenn nicht gar mitgestalten zu können. Bezeugt von 70.000 anderen Success-Jüngern. Nicht wichtig, ob derlei Hoffnungen berechtigt sind und vom Line-up eingelöst werden. Keep the faith (Öffnet in neuem Fenster).

Wie sagte Judith Williams: „Wir verkaufen schon lange keine Produkte mehr, wir verkaufen Emotionen.“ Und das ist beim OMR nicht anders. Ich rocke das, ich bin innovativ, kreativ, ich bin es mir wert. So irgendwie dürfte das Unterbewusstsein die Erlebnisse vertaggen. Und wenn die wohlige Gewissheit einige Wochen später wieder abebbt, die neuen LinkedIn-Kontakte sich tot stellen, dann ist es höchste Zeit, die Karten für 2024 zu kaufen.

Das Schlusswort hat noch mal das verkannte Dialektik-Genie mit dem Duftwässerchen-Fetisch:

„In so einem richtig geilen alten Buch steht zum Beispiel drin: Die menschlichen Zellen werden gebaut aus Nahrung, Luft und Wasser. Krasses Statement. Früher war das alles viel unkomplizierter. Das ist aber nicht der primäre Grund für Gesundheit, höchstens der secondary. Der primäre Grund ist das Mindset.“

Jeremy Fragrance

Disclaimer: Als Redakteur von „Capital“ möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ich hier ausschließlich meine Privatmeinung zu Protokoll gebe, denn mit der ans OMR-Festival angedockten Konferenz FinanceForward (Öffnet in neuem Fenster) sind wir personell wie organisatorisch ein Stück weit Teil des Westermeyer’schen Komsos’. Meine kommentierenden Ausführungen beziehen sich auch nicht auf diese, von den Kollegen veranstaltete, Tagung zur Zukunft des Bankwesens. Einfach schon deshalb, weil ich sie gar nicht besucht habe und mir weder zu Speakern noch Atmosphäre ein Urteil erlauben kann. Fair ist fair.

Kategorie Essays