Zum Hauptinhalt springen

Birkenstock oder Die bange Frage, ob man alles „luxifizieren“ sollte (Oktober 2023)

Latschen die Aktien des Puschen-Primus nun gerade die Börse eher rauf oder runter? Ein Rätsel, das mich in etwa so arg fesselt wie die TV-Sendung „Herr Glööckler sucht das Glück (Öffnet in neuem Fenster)“. Interessanter dagegen die Erkenntnis, dass ich mir dank der Upbranding-Sucht vieler (Ex-)Marken aus der Mitte plötzlich ordentliche Hausschlappen und andere Basics kaum mehr leisten kann. Oder nur zähneknirschend. Und das Luxussegment scheint ohnehin völlig out of control. Was ist da los – und kann das gutgehen?

Hoher Spann & Seitenscheitel: Historisches Gruppenbild der 1774 gegründeten Marke, die nun zum Luxusreich von Herrn Arnault gehört. (Birkenstock/Archiv)

„Kann denn Luxus Sünde sein?
Darf es niemand wissen,
Was man sich gönnt,
Wenn man einfach alles verprasst, für'n Insta-Post …?“

– sehr frei nach Zarah Leander (Öffnet in neuem Fenster)

Als ich zehn oder elf war, begann mein liebstes Ritual. Einmal im Jahr, meist im Sommer, lud meine Großmutter mich zum Klamottenshoppen ein. In Eppendorf, viele Welten entfernt von unserem Wohnblock, umgeben von Problemvierteln. Oma und ich flanierten durch Kaufhäuser, inspizierten das Angebot der Modefilialisten und ließen uns in kleinen Boutiquen die neuen Jeans und Nickipullis zeigen. Hey, ich war ein pre-teen, wer braucht da Dinnersakkos?! Schon gar nicht in meiner hood. Zwischendrin schleckten wir ein Eis und zum Lunch ging's ins Block House. Einen Vor- und Nachmittag lang spielte Geld keine Rolle und ich fühlte mich wie eine (absolut keusche) „Pretty Woman“. 

Wir waren uns einig: In die Tüte wanderte nur, was mir gefiel. Egal, ob sich die Beute bei 40 Grad waschen ließ oder man einen Saum rauslassen könnte, sollte ich unerwartet rasch emporschießen. Gut erinnere ich mich an eine knielange Pepe-Jeans mit Rundnieten an der Seitennaht und kurzen Fransen am Beinausschnitt. Stolze 80 D-Mark kosteten diese Denim-Bermudas vor knapp 35 Jahren, was meine Mutter als Verschwendungssucht geißelte. Dieses rockige Teil habe ich allem Schulhofspott zum Trotz getragen, bis der Bund vom binge-eating zu arg kniff.

Ich erzähle Ihnen diese persönliche Anekdote, weil ich in den letzten Wochen mehrfach daran und darüber (nach-)denken musste. Beim IPO von Birkenstock, bei der E-Bike-Recherche und vor einigen Tagen beim Bummel durch die Outlet-Stadt Metzingen. Und jedes Mal wurde mir bewusster, dass vielleicht weniger die Mittelschicht schrumpft, der ich mich zurechne wie 75 Prozent aller Bundesbürger, sondern eher das, was wir uns leisten können. Die 80 Euro (!) für eine kurze Jeans jedenfalls würde ich mir heute sicher verkneifen. Wie meine Mum früher. Oder das Sweatshirt von Marc O’Polo, das ich mir damals bei P&C (Nord) für 50 Mark aussuchen durfte, und das jetzt währungsbereinigt sicher doppelt so teuer ist. Weil die Marke, wie die Konkurrenz im direkten Preisumfeld, sich längst in Richtung des lukrativeren Premium-Status aufgemacht hat. Ja, und wegen Inflation, Löhnen, Lieferketten, blablabla.

Was mich irgendwie zu Birkenstock führt, dem neuesten Spielzeug des Monsieur Arnault, der über seine Investmentfirma L Catterton (Öffnet in neuem Fenster) dort einstieg und einen Teil der Akquisition per Börsengang gegenfinanzierte. Schon toll, diese Schachpartien der rich & famous. Diesmal also mit einem (ursprünglich hessischen) Schuhfabrikanten, gegründet 1774 von Johann Adam Birkenstock, dessen Waren eher zufällig den Weg auf den Laufsteg fanden und ins Fadenkreuz des Luxusgiganten gerieten. 

Klicken Sie hier (o.) für die von mir vorgelesene Audio-Version.

Dazwischen erfand Johanns Ur-Ur-Enkel Konrad anno 1896 das Fußbett und die langsam expandierende Firma verschrieb sich vollends der Missionierung ihrer Zunft zum Zweck einer gesünderen, komfortablen Schuhkonstruktion. Etwa mit dem Buch „Fußorthopädie – System Carl Birkenstock“ aus dem Jahr 1947. Die spätere Bestseller-Sandale seines Sohnes Karl Birkenstock basierte übrigens auf einer flexiblen Einlage, die im Unternehmen bereits 1902 ausgetüftelt worden war. Bloß dass Karl daraus 1963 das Modell „Madrid“ formte. Beliebt bei Athleten, weil die Zehen den Schuh am Fuß halten mussten. Das stärkte ihre Wadenmuskulatur.

Bequem & bizarr: Konrad Birkenstock erfand das Fußbett, Mrs. Fraser machte es in den USA berühmt. Trotz solcher Reklamebilder. (Birkenstock/Archiv)

Den internationalen Durchbruch verdankte Birkenstock, wie so einige Marken, einer Frau: der deutschstämmigen Schneiderin Margot Fraser. Die reiste für einen Kuraufenthalt aus ihrer Wahlheimat Kalifornien 1966 nach Bayern, wo ihr wegen eines Fußleidens zum Tragen von Birkenstocks geraten wurde. Begeistert importierte Fraser die Sandalen in die USA, wo sie zunächst nicht über einen Platz in den Ökoläden San Franciscos hinauskamen (Öffnet in neuem Fenster), präsentiert zwischen Müsli und Räucherstäbchen. Die experimentierfreudigen 1970er und ihre freiheitsliebenden Blumenkinder kurbelten die Verkäufe kräftig an. Der Star: das Modell „Arizona“ (1973).

Die Modebranche hatte Birkenstocks dann spätestens im Juli 1990 auf dem Radar. Damals fotografierte Corinne Day die 16-jährige Kate Moss für das Magazin „The Face (Öffnet in neuem Fenster)“ am Strand Camber Sands (Öffnet in neuem Fenster), in East Sussex. Stylistin Melanie Ward suchte für mehrere der Bilder die klobigen Sandalen raus, die für sie zum angesagten „3rd Summer of Love“ passten.

Ende der Eighties begann eine zaghafte Demokratisierung der Mode, mit einem großen Gewicht auf der individuellen textilen Selbstverwirklichung der Gen X. Ein zweites „youthquake (Öffnet in neuem Fenster)“, quasi. 1988 hob Anna Wintour erstmals eine Stone-Washed-Jeans aufs Cover der amerikanischen „Vogue“ und 1992 wählte Marc Jacobs für eine vom Grunge inspirierte Perry-Ellis (Öffnet in neuem Fenster)-Kollektion die seltsam sympathischen Birkenstocks from Germany.

Cool & bedenklich: Teeniemädchen hat Spaß am Strand – mit diesem Briefing dürfte heute niemand mehr losziehen. Zu Recht. (Corinne Day/The Face)

Die Schlappen blieben allerdings in den folgenden rund 30 Jahren nicht durchgehend „cool“ , was in der Mode normal ist. Spätestens 2012 aber, als Phoebe Philo bei Céline Nerz-gefütterte „furkenstocks (Öffnet in neuem Fenster)“ zeigte und später auch Giambattista Valli, Proenza Schouler, Givenchy und Valentino (Öffnet in neuem Fenster) die Ökolatschen auf ihre runways hievten, begann eine dauerhafte Renaissance. Inklusive etlicher Designprojekte der Couturiers mit dem neuen Pariser Birkenstock-Studio namens 1774.

Heute tragen Kendall Jenner, „Barbie“, Gigi Hadid, Kaia Gerber und the artist formerly known as Kanye West (Öffnet in neuem Fenster) die Sandalen wie selbstverständlich. Manchmal gar mit Tennissocken. Kreisch! Gepriesen seien Trends wie Normcore (Öffnet in neuem Fenster). Die Hippietreter der Siebziger wurden 2020 von der britischen „Vogue“ zur „Sandale des Jahres“ gekürt und sind damit im nicht-orthopädischen Mainstream angekommen. Das Resultat einer Mischung aus Zeitgeist-Dusel und Marketing-Magie (Öffnet in neuem Fenster) von CEO Oliver Reichert.

Und plötzlich hat jeder Modemedienmensch eigentlich schon immer Schläppchen getragen. Liest man im „Tagesanzeiger (Öffnet in neuem Fenster)“ oder in „Die Zeit (Öffnet in neuem Fenster)“. Samt bärtiger Klischees von ungewaschenen Theologiestudenten, während die Verfasser selbst natürlich einzig aus Style-Motiven zur Jesuslatsche (Öffnet in neuem Fenster) griffen. Lieber believer oder fashion victim? Anderes Thema.

Ein globaler Run mit Folgen. In Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) wurde jüngst ein neuer Produktionsstandort (Öffnet in neuem Fenster) eröffnet, wo bald 1000 Mitarbeiter:innen bis zu 6,4 Millionen Paar Schuhe abliefern sollen. Allein diese hohe Stückzahl verbietet jegliches Liebäugeln mit dem Luxusbegriff, selbst im Vergleich zu einer Million Rolexuhren pro Jahr. Immerhin: Die Sandalen von Steve „Apple“ Jobs (Öffnet in neuem Fenster) wechselten bei einer US-Auktion für horrende 210.000 Euro den Besitzer. Und manches limitierte Modell des „Arizona“ muss man ebenfalls ersteigern, allerdings deutlich preisgünstiger, auf eBay.

Wem das zu sehr ins Tagesgeld greift, der könnte auf echte Römersandalen ausweichen, die „Pantoffelmann (Öffnet in neuem Fenster)“ Gunnar Födisch in Kraftsdorf (Thüringen) schon für unter 30 Euro anbietet. Ebenfalls Made in Germany (East) und umweht vom Geist der DDR-Aussteigerszene, deren Mitglieder sich gern als „Blueser (Öffnet in neuem Fenster)“ bezeichneten.

Halbgott in Beige: Schon in dieser Fotoserie wirkte Kan(Ye) West, als drücke ihn mental gehörig der Schuh. Was nicht an den Birkenstocks lag. (GQ)

Währenddessen fragt man sich ein wenig, was der LVMH-Impressario (Öffnet in neuem Fenster) mit dem Sortiment kauzig-(ur-)deutscher (Öffnet in neuem Fenster)Fußbekleidung anfangen will, das deutlich weniger sleek und sexy daherkommt als die geriffelten Alu-Trolleys von Rimowa (Öffnet in neuem Fenster). Kann und muss Birkenstock zum Luxus werden? Deutlich teurer als vor fünf, sechs Jahren sind sie schon. Oder geht es eher um einen Umsatzgaranten zum Einstiegspreis, zur Abrundung des edlen Portfolios? 

Letzteres klingt sinnvoll. Zwar boomt das High-Society-Shopping aktuell, jedoch werden erste Sollbruchstellen sichtbar. Stichwort: „China-Delle“. Für den Hinterkopf hier einige beeindruckende bzw. beunruhigende Streiflichter zu Luxuschancen und -problemen:

1899: Bereits in seinem Standardwerk „The Theory of the Leisure Class (Öffnet in neuem Fenster)“ stellt der US-Soziologe Thorstein Bunde Veblen (Öffnet in neuem Fenster) fest, „dass die Begehrlichkeit von Luxusgütern zwangsläufig deren Preis erhöhen müsse“. 

2001: Die Uhrenmanufaktur Richard Mille (Öffnet in neuem Fenster) schockt die Branche mit einem Zeitmesser für 135.000 Dollar, deutlich mehr als Platzhirsch Patek Philippe damals verlangte.

2022: Etwa 70 Prozent der Umsatzsteigerung bei Luxus-Lederwaren erzielten die bekannten Modemarken laut Informationen von Bain & Company nicht durch gestiegene Verkaufszahlen, sondern fast ausschließlich durch Preiserhöhungen. Wenigstens würde der Luxuskunde selbst in Krisenzeiten nicht illoyal werden, heißt es dort, bloß eben geringere Stückzahlen kaufen.

Oktober 2022 bis Januar 2023: Bottega Veneta erhöht den Verkaufspreis der „Cassette“-Handtasche nach Angaben von HSBC um 12 Prozent. Für einen „Woven Cabat“-Shopper aus Kunststoff verlangt Bottega Veneta etwa 10.000 Dollar. Seit 2019 soll Chanel manche Taschenmodelle um bis zu 74 Prozent verteuert haben. In China erhöhte die Maison Anfang des Jahres den Preis für die ikonischen Pattentaschen (Öffnet in neuem Fenster) um 1000 Dollar auf nun umgerechnet 11.000 Dollar. Teurer als in Paris.

Juli 2023: Louis Vuitton gibt bekannt, dass man sich bei seinen Uhren auf „Tambour (Öffnet in neuem Fenster)“-Modelle zwischen 18.000 und 52.000 Dollar konzentrieren wolle.

Paradox: Zugleich erläutert Jean-Jacques Guiony, CFO von LVMH:„Wir verkaufen die meisten Vuitton-Produkte nicht an reiche Menschen, sondern an Kunden, die genügend Geld haben, um sich gelegentlich etwas zu gönnen. Der Vorteil bei dieser Zielgruppe ist, dass sie viel, viel größer ist als die der Superreichen. Wir gehen davon aus, dass die obere Mittelschicht wohlhabender wird und wollen unser Angebot sowie Marketing auf sie zuschneiden.“

Frühchen: Die Gen-Z-Konsumenten tätigen ihre ersten Luxuseinkäufe früher als Millennials, mit circa 15 Jahren, und sie kaufen (und verkaufen!) mehr. Das liegt Angaben von The RealReal sowie Bain & Company daran, dass Luxusprodukte in dieser demografischen Kohorte vollends mit der Pop- und Internet-Kultur verschmolzen sind.

Selbstliebe: Für diese Zielgruppen ist Luxus nicht allein ein Symbol für Reichtum und gesellschaftlichen Status. Eher ein Weg, sich durch Produkte, die emotional ansprechen und zur intensiven Beschäftigung einladen, „glücklicher“ zu fühlen. Und das, bien sûr, auf sozialen Plattformen mit jedem zu teilen. Dementsprechend werden die Marken weiterhin und verstärkt alles tun, um diesen Dialog zu intensivieren und mit neuen Impulsen (sprich: collabos) zu versorgen.

Boom ohne Reue: Der Weltmarkt für Luxusprodukte wächst munter weiter; hinter den „personal luxury goods“ versteckt sich die Mode. (FT)

Zugleich entfallen auf Millennials und alle jüngeren Generationen im Jahr 2030 rund 80 Prozent der Ausgaben für Luxusgüter. Und zwar notfalls, weiß man bei Morgan Stanley, auf Pump, also mit „Buy now/Pay later“-Angeboten. 

eBay: Rund 62 Prozent der befragten Wiederverkäufer von Luxusaccessoires erzielten mitunter Erlöse über dem ursprünglichen Kaufpreis. Ein Grund dafür ist die Knappheit mancher Designs als Neuware. 

Der Run auf Vintage-Luxus im Zweitmarkt hat zum Auftauchen sogenannter „super-fakes“ geführt, deren Echtheit selbst ausgewiesene Experten kaum mehr anzweifeln. Ihr Preis bewegt sich dabei zwischen 10 und 50 Prozent des Originals.

Die Kategorie Menswear im Luxusbereich wird beliebter und teurer: Preise für Jacken und Mäntel legten in den vergangenen vier Jahren durchschnittlich um 20 Prozent zu, Sneaker um 10 Prozent und T-Shirts (!) um 55 Prozent. 

Die Kehrseite: Wo Luxusprodukte viral gehen, verlieren sie ihre Funktion als Elite-Kennzeichen und ihre preistreibende Exklusivität. Zwischen Wachstum und Seltenheit klug zu pendeln, das bleibt auch zukünftig die besondere Herausforderung im Highend-Bereich der Modeindustrie. Nur wenn Marken eine verführerische, immens verästelte Traumwelt aufbauen und lebendig erhalten können, wollen Kund:innen sich mit jedem Kauf ein Stück weiter hineinträumen.

Herbst 2023: Der deutsche Textil-Einzelhandel gibt bekannt, dass es quer durch die Sortimente zu Preissteigerungen von fünf bis zehn Prozent kommen dürfte, vor allem in „besonders modischen Kollektionssegmenten und höheren Preislagen“.

Oktober 2023: Die negativen Signale aus dem mass market nehmen zu, beispielsweise von Puma, Levi’s, Adidas und JD Sport.

Quellen: vox.com (Öffnet in neuem Fenster), ft.com (Öffnet in neuem Fenster), glossy.co (Öffnet in neuem Fenster), hypebeast.com (Öffnet in neuem Fenster), fashionunited.de (Öffnet in neuem Fenster), nytimes.com (Öffnet in neuem Fenster) („super-fakes (Öffnet in neuem Fenster)“; „highend watches (Öffnet in neuem Fenster)“), fashionista.com (Öffnet in neuem Fenster)

Ein spannendes Patchwork von Expertenstimmen und Statistiken, oder? Das für mich wichtigste learning: Wenn sich die Zahl der Bons nicht skalieren lässt, müssen eben die Summen darauf Stellen vor dem Komma dazugewinnen.

Damit kennen wir uns in den Medien aus, wo man schrumpfende Auflagen mit höheren Copypreisen pariert, abnehmende Klicks mit Paywalls und sinkende Einschaltquoten mit Plus-Angeboten. Logo, würde jeder McKinsey-Bubi (Öffnet in neuem Fenster) zu raten, weil ökonomisch valide. Ist bloß eben keine belastbare Zukunftsstrategie, sondern reines „Wasser-aus-dem-Wrack-Schöpfen“.

Muss sein: Wo ich den „Focus“ schon nicht lese, der 1993 mal als Nachrichtenmagazin startete und nun hauptsächlich Orthopäden empfiehlt.

Doch das sind echte LuxusProbleme. Mir geht es eher um eine middle class, die in Deutschland gar nicht so stark schrumpft wie oft kolportiert, sich aber trotzdem kaum mehr lustvollen, träumerischen Konsum leisten kann. Jenseits des vollen Rewe-Einkaufswagens, Schulbüchern, der Familienkutsche und einmal pro Jahr drei Wochen auf Kreta. Geht da wirklich noch Mode oder bloß Kleidung? Nach einer langen Phase, in der verlässliche Mainstream-Marken mit ebensolchen Passformen sich teuer Richtung Premium und drüber haben relaunchen lassen: CG Club of Gents, Marc O’Polo, Baldessarini, Strellson, Cinque, Bugatti (?) ... Für ehemalige Kernzielgruppen dürfte man sich dort nach einer Übergangszeit bald zu fein sein, sonst klappt das mit dem Upbranding und höheren Margen schließlich nicht wirklich. Somit reiht sich fashion fern der Nobelklasse zunehmend ein in die Basisgüter, die urplötzlich zum elitären Vergnügen gepimpt wurden. Der schnörkellose 600-Euro-Parka, der 6-Euro-Latte, das 4000-Euro-E-Bike, der 50-Euro-Kinobesuch, das McMeal zum Dean&David-Tarif ... Ja, das klingt jetzt vielleicht nach Leiden auf mittlerem Niveau, ist aber (nicht nur) mein reales Erleben am POS. Vieles von dem, was von Kindertagen bis ins junge Erwachsensein nicht geschenkt aber ohne großes Überlegen bezahlbar war, ist trotz gutem Gehalt so clever wie gnadenlos „luxifiziert“ worden, dass es nicht mehr für die shopping list, sondern allenfalls den Wunschzettel geeignet ist. Ich fühle mich immer öfter ausgepreist.

Where trends go to die: Wer in der Outletcity Metzingen nicht aufpasst, weiß irgendwann nicht mehr, bei welcher Marke er gerade vor der Stange steht. (PR)

Lassen Sie mich das mit einer kürzlichen Exkursion illustrieren. Ich war nämlich letzte Woche zum ersten Mal (shocking, ich weiß) in Metzingen. Jener Stadt, die ihre Seele den Resterampen verkauft hat, und deren Kinder nun in einem Einkaufszentrum aufwachsen müssen. Es nieselte unablässig, doch ich war in richtiger Kauflaune und dank eines passablen Mövenpick-Marché-Burgers voller Tatkraft. Nur wenige Besucher teilten an diesem Nachmittag meine Euphorie, es war gähnend leer. Umso besser, dachte ich, dann schnappt mir keiner die Knaller-Angebote weg. Äh, ja.

Zwei Stunden des Stöberns später rollten meine Augäpfel vor Langeweile in ihre Höhlen zurück. Ich wusste mitunter nicht mehr, wo ich vor der Stange stand: Boss, Joop!, Gant ... Same, same and NOT different. Kilometerweise Anzüge mit und ohne Baukasten, die vermutlich selbst der letzte stationäre Nachwuchs-Bankberater dankend hängen lassen würde. 0815-Daunenjacken, die ohne Logo auch von Uniqlo oder Lidl hätten stammen können. Nur teurer waren. Hemden mit sommerlichen Drucken, die im Outlet-Special-Sale noch teurer waren als brandneue Designs von Olymp oder Eterna. Lustlos ins CAD gerotzte Nylontaschen und -rucksäcke, gegen die ein Leinenbeutel ein Stil-Statement wäre. Kratzige Polyestermützen. Und ein Windsor-Sakko, bei dessen Preisetikett (stolze 549 Euro) ich hysterisch prustend den Store verlassen musste.

Kein Wunder, dass auf dem Parkplatz nur Premiumlimousinen und Shuttle-Busse für Asientouristen parkten, denn dieses Outlet bat zum Aderlass. For no reason, denn Modeschmankerl gab es nirgends zu entdecken. Eher biederen Durchschnitt mit sportlichen Etiketten. Dafür würde ich ein zweites Mal wohl nicht anreisen, weder aus Hamburg, China noch Stuttgart. Enttäuscht zog ich mit Pralinen aus dem Lindt-Shop und drei Packungen CK-Schlüpfern von dannen.

Nur noch Bückware: Das Modell „Mule Tokio“ aus der Kollektion Dior by Birkenstock kostet auf dem Graumarkt schon mal 2200 Euro. (Stockx.com)

Was diese Entwicklung mit dem Modemarkt insgesamt macht, wenn also selbst interessierte Medienmalocher mit Okay-Gehalt quasi in die Fast Fashion oder zu wie Pilze aus dem Web sprießenden Instabrands abgedrängt werden, bleibt abzuwarten. Unsicher bin ich mir auch, ob im von München bis Herford angepeilten Segment zwischen Premium und affordable luxury wirklich so viel Platz ist, wie die ehrgeizigen Aufsteiger der Mitte hoffen.

Insofern könnte Birkenstock mit Schuhen zwischen 45 Euro (sommerlicher Kunststoff) bis 2200 Euro (Dior by Birkenstock via StockX.com (Öffnet in neuem Fenster)) vielleicht doch eine wichtige Lücke schließen. Genügend Laufsteg-Glanz für Anonyme Ästhetiker wie mich und zugleich erschwinglich genug, dass der ETF-Sparvertrag nicht für Hausschuhe notverkauft werden muss. Nur mit Jesus, Revolution und jugendlicher Unschuld hat die Marke wirklich gar nichts mehr zu tun. Statt Bergpredigt, „Atomkraft, nein danke“ und Sommersprossen auf dem Näschen von Kate Moss heißt es jetzt ROI-Optimierung in Pasewalk und mehr LVMH-Projekte. Ich gehe dann mal öfter barfuß daheim. Ist billiger.

Wir lesen uns schon in wenigen Tagen wieder, dann mit meinem Tippletter „Siems GREAT to Me“.

Bleiben Sie gesund und neugierig,

Ihr Siems Luckwaldt

Kategorie Essays

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von LuxusProbleme und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden