Mensile: Moka - Von einem Kaffee-Boykott, der auf Vinyl gepresst wurde
So tief gespalten Italien auch sein mag, zwischen Norden und Süden, zwischen Stadtzentrum, periferia und campagna, zwischen links und rechts: Der caffè am Ende eines mindestens halbwegs üppigen Mittag- oder Abendessens ist ein Ritual, das mutmaßlich eine absolute Mehrheit der Menschen in allen Gesellschaftsschichten seit Jahrzehnten pflegt.
Zu diesen Menschen gehörte offensichtlich auch Giorgio Almirante.
Zu schreiben, Giorgio Almirante sei kontrovers gewesen, wäre eine mächtige Untertreibung.
Almirante, 1914 im Thermalort Salsomaggiore geboren, war während der faschistischen Diktatur Ministerialdirektor im Kulturministerium. Er war hochrangiger Redakteur der antisemitischen und rassistischen Zeitschrift La Difesa della Razza, in der er unter anderem 1942 ein Loblied auf den Rassismus schrieb (Öffnet in neuem Fenster), der in Italien "Nahrung für uns alle" werden müsse, um nicht den "Mischlingen und Juden" in die Karten zu spielen, die sich andernfalls als Italiener ausgeben könnten.
Im demokratischen Italien schwor Almirante dem Faschismus nie ab.
Er war 1946 Mitbegründer und danach Chef des MSI, einer der einflussreichsten neofaschistischen Parteien Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab 1948 war Almirante 40 Jahre lang ununterbrochen Abgeordneter im italienischen Abgeordnetenhaus, einer der beiden gleichberechtigten Parlamentskammern Italiens.
Almirante machte aus seiner Nostalgie für die Gewaltherrschaft unter Benito Mussolini nie ein Hehl. Er verfolgte aber ab dem Ende der 1960er-Jahre die sogenannte politica del doppiopetto, um den MSI zumindest halbwegs salonfähig zu machen: Die Strategie bestand darin, sich öffentlich zur demokratischen Ordnung und sogar zur europäischen Einigung zu bekennen – aber gleichzeitig halböffentlich und verdeckt weiterhin den Kontakt zu gewaltbereiten neofaschistischen Extremisten zu pflegen.
Mittagspause in einem "hochentzündlichen" Sommer
Am 18. Juni 1973 ist Giorgio Almirante mit seiner Frau Assunta, seinem Sohn und dem MSI-Politiker Michele Marchio auf der Autobahn A1 unterwegs. Almirante ist auf dem Weg vom nordostitalienischen Triest nach Rom, wo er an diesem Tag dem Corriere della Sera zufolge (Öffnet in neuem Fenster) Staatspräsident Giovanni Leone treffen soll, um mit ihm über eine der für italienische Sommer typischen Regierungskrisen (Öffnet in neuem Fenster) zu sprechen. An der (damals schon legendären (Öffnet in neuem Fenster)) Autobahnraststätte Cantagallo nahe Bologna legen sie eine Mittagspause ein, sie wollen essen.
Der Sommer 1973 ist politisch "hochentzündlich", wie der Corriere schreibt. Im Mai hat ein angeblicher Anarchist in Mailand bei einem bis heute nicht befriedigend aufgeklärten Terroranschlag mit einer Bombe vier Menschen getötet (Öffnet in neuem Fenster). Es ist ein Sommer in den in Italien extrem turbulenten und blutigen 1970er Jahren.
Und es sind erst 28 Jahre vergangen seit dem Ende der faschistischen Diktatur, die ab 1943 in einem Teil Italiens einhergegangen ist mit der Besetzung durch Nazi-Deutschland. Die Gegend um die Raststätte Cantagallo gehört zu diesem Teil Italiens.
Und Cantagallo ist nur 16 Kilometer von Marzabotto entfernt.
In Marzabotto ermordeten ab dem 29. September 1944 deutsche SS-Angehörige 770 Menschen mit kaum fassbarer Brutalität (Öffnet in neuem Fenster) – unter Mithilfe aus der Region stammender italienischer Faschisten (Öffnet in neuem Fenster). Insgesamt töteten in Marzabotto und den angrenzenden Gemeinden deutsche Kämpfer und italienische Faschisten wohl über 1800 Menschen (Öffnet in neuem Fenster).
https://www.deutschlandfunk.de/italien-vor-75-jahren-marzabotto-schauplatz-eines-100.html (Öffnet in neuem Fenster)Unter den Menschen, die in der Raststätte Cantagallo arbeiten, an der dazugehörigen Tankstelle, ist die Erinnerung daran im Sommer 1973 tief verwurzelt. Cantagallo liegt in der Emilia, in diesem überwiegend links regierten und von ganz überwiegend antifaschistischen Menschen bewohnten Landstrich.
Giorgio Almirante und seine drei Begleitpersonen steigen in Cantagallo also aus dem Auto. Sie betreten das Restaurant der Raststätte, die damals Mottagrill genannt wird. Der Mottagrill Cantagallo ist ein autogrill a ponte, eine jener spektakulären Autobahnraststätten, die sich über die beiden Fahrspuren der Autobahn spannen und die in Italien als Ikonen der Wirtschaftswunderzeit gelten (und über die ich in der ersten Folge von Kurz gesagt: Italien (Öffnet in neuem Fenster) spreche).
Postkarte mit Ansicht des Mottagrill Cantagallo aus dem Jahr 1965 (Credit: Commons Wikimedia / collezione privata)
Wie der Corriere schreibt, setzen Almirante und die drei anderen sich an diesem heißen Junimittag im Sommer 1973 an Tisch 30 des Restaurants mit Blick auf den Verkehr der A1.
Sie bekommen zunächst den ersten Gang serviert: Penne mit Tomatensoße und Wurstteller für den neofaschistischen Parteichef, eine Portion der fettigen Schweinefleischwurst cotechino mit Linsen für seine Frau Assunta.
Dann aber, so ist es in verschiedenen Quellen zu lesen, erkennt einer der Kellner Almirante. Die Nachricht spricht sich unter dem Personal herum – und sämtliche Angestellte stellen die Arbeit ein.
Dem Corriere zufolge tritt der Saalchef der ultrarechten Tischgesellschaft gegenüber und sagt:
"Das Personal streikt gegen Ihre Anwesenheit und weigert sich, Ihnen Obst und caffè zu servieren."
Wie Almirante darauf reagiert, dazu gibt es unterschiedliche Versionen. Laut Corriere soll er dem Saalchef gesagt haben, für den Umgang mit Menschen wie den streikenden Kellnern bräuchte es "energischere Leute".
Einer der Angestellten sagt demnach, mit Blick auf die nahegelegene Regionalhauptstadt: "Hier in Bologna bekommen Faschisten nichts zu essen. Wir sind ja schließlich nicht in Reggio Calabria." Reggio Calabria, das zur Erklärung, liegt am südlichsten Zipfel des italienischen Festlands. In Süditalien befindet sich in den Nachkriegsjahrzehnten ein Großteil der Hochburgen des MSI.
Almirante und Begleitung verlassen in jedem Fall an diesem Junimittag das Mottagrill-Restaurant, sie fahren zur Tankstelle vor. Aber auch dort werden sie nicht bedient: Die Tankwarte und das restliche Personal erklären den Berichten zufolge, sie seien Antifaschisten.
Almirantes Begleiter Michele Marchio soll daraufhin geblafft haben: "Ich werde Euch noch zeigen, wer ich bin. Ihr werdet noch von mir hören." Dann düsen der MSI-Parteichef und Konsorten ab – und bekommen erst in einem Autogrill im weiter südlich gelegenen Roncobilaccio ihren Tank vollgetankt.
Die faschistische Rache für den caffè-Streik
Drei Tage nach dem caffè-Streik rächen örtliche Faschisten Parteichef Almirante.
Am 21. Juni 1973, gegen 12.30 Uhr, so schreibt es das auf die Geschichte der 1970er Jahre spezialisierte Portal Spazio70 (Öffnet in neuem Fenster), betreten zunächst zwei junge Männer den Mottagrill Cantagallo und werfen Flugblätter des MSI umher. Kurz darauf folgen ihnen etwa 30 weitere Faschisten, die antikommunistische Parolen rufen und den römischen Gruß zeigen, das faschistische Vorbild für den Hitlergruß.
Zwei Angestellte des Autogrill werden verprügelt, auch zwei herbeigerufene Polizisten werden laut Spazio70 verletzt. Zwei Stunden später geht per Telefon eine Bombendrohung in Cantagallo ein, das Lokal wird evakuiert. Es ist ein Fehlalarm.
Solidaritätsballade für die Streikenden
16 Angestellte von Cantagallo aber schlagen sich noch Jahre später mit den Folgen des antifaschistischen caffè-Streiks im Mottagrill gegen Giorgio Almirante herum. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie, sie werden angeklagt – und zwei Jahre später freigesprochen.
Um die Prozesskosten zu finanzieren, nimmt die antifaschistische Musikgruppe Canzoniere delle Lame eine Ballade mit dem Titel Al Cantagallo auf, die den spontanen Streik nacherzählt.
https://www.youtube.com/watch?v=MNKBJXBU274 (Öffnet in neuem Fenster)Darin heißt es unter anderem, mit Blick auf Almirante:
Marzabotto è ancor troppo vicina
Faccia presto ad alzare le suole
Nelle fogne può dir ciò che vuole
Ma a Bologna non deve parlar.
Ma a Bologna non deve parlar.
Marzabotto ist noch zu nahe / Er soll sich schnell davon machen / In der Kloake darf er sagen, was er will / Aber in Bologna darf er nicht sprechen.
Der Streik ist fast vergessen, Neofaschist Almirante wird weiter geehrt
Giorgio Almirante starb vor ziemlich genau 35 Jahren, am 22. Mai 1988, an den Folgen einer Hirnblutung.
Er wird auch knapp 35 Jahre nach seinem Tod verehrt von rechten italienischen Parteien wie den Fratelli d'Italia der derzeitigen Regierungschefin Giorgia Meloni – die Almirante zu seinem Todestag immer wieder mit salbungsvollen Worten geehrt hat, zuletzt 2022. (Öffnet in neuem Fenster)
https://twitter.com/GiorgiaMeloni/status/1263764617999847424?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)Zahlreiche italienische Gemeinden ehren Almirante heute mit nach ihm benannten Straßen. Regelmäßig wird sogar in Kommunen darüber gestritten, Straßen neu nach ihm zu benennen, etwa 2021 in Zevio, in der norditalienischen Provinz Verona (Öffnet in neuem Fenster).
Der spontane Streik der Autogrill- und Tankstellen-Mitarbeiter in Cantagallo im Sommer 1973 ist dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Glücklicherweise hat die Autorin, Dozentin und Podcasterin Chiara Alessi diese Geschichte in ihrem hörenswerten Podcast Cosa c'entra am 13. April erzählt.
https://www.ilpost.it/episodes/la-autogrill-cantagallo-e-una-fiamma-tricolore/ (Öffnet in neuem Fenster)Wie die italienische Kaffeekultur entstanden ist, warum im Land eigentlich ganz überwiegend Espresso getrunken wird – und welche Rolle dabei die von Giorgio Almirante erst unterstützten und später verherrlichten Faschisten spielten, darum geht es in der aktuellen Episode von Kurz gesagt: Italien, die seit Freitagmorgen online ist.
https://kurzgesagt-italien.podigee.io/10-moka (Öffnet in neuem Fenster)Über Giorgio Almirante und Italiens Neofaschisten spreche ich ausführlich in der Podcastepisode LVI, über den italienischen Faschismus und seine Folgen.
https://kurzgesagt-italien.podigee.io/6-lvi (Öffnet in neuem Fenster)A presto – und buona pausa caffè, sobald es wieder so weit ist.
Sebastian Heinrich
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