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(Folge 5) Mensile extra : patrón – Warum selbst Fußball-Muffel nicht am Triumph des SSC Neapel vorbeikommen

Ein paar Worte vorweg:
Diese Extra-Ausgabe von Mensile – dem monatlichen Bonus-Newsletter zu jeder neuen Folge meines Podcasts Kurz gesagt: Italien – kann ausnahmsweise jede und jeder kostenlos lesen.

Eigentlich erhalten Mensile seit Anfang Mai nur noch diejenigen, die Kurz gesagt: Italien mit einer Mitgliedschaft finanziell unterstützen.

Diese Mensile-Ausgabe aber gehört zu einer Kurz gesagt: Italien-Episode aus dem vergangenen Jahr, zur Folge 5 mit dem Titel patrón (sie ist weiter unten im Text verlintk).

Es ist die einzige Folge, zu der ich bisher keinen Bonus-Newsletter verschickt hatte. Das hole ich jetzt nach – aus aktuellem Anlass.

Wer die nächsten Ausgaben von Mensile lesen will, kann einfach eine Mitgliedschaft (Öffnet in neuem Fenster) abschließen – mehr dazu am Ende dieser Ausgabe.

Wer Italien wirklich verstehen will, stößt früher oder später auf den Fußball. Weil der Sport selbst, vor allem aber das Spektakel um ihn herum im Land Auswirkungen hat, an denen niemand vorbeikommt.

Ja, auch in Italien ist einem erheblichen Teil der Menschen der calcio professionistico mehr oder minder egal: 46 Prozent der italienischen Bevölkerung zählt sich einer aktuellen Umfrage des Instituts Demos (Öffnet in neuem Fenster) zufolge nicht zu den tifosi, den Fußballfans.

Aber selbst diese knappe Hälfte der Bevölkerung entkommt dem Fußball nicht. Das gilt erst recht für die Menschen in Neapel, zu Italienisch Napoli, der einzigen Millionenstadt Süditaliens.

Panorama der Stadt Neapel, im Hintergrund der Vesuv.

Credits: Rob Alter/Flickr

Am Donnerstag, den 4. Mai, hat der SSC Neapel, der Profi-Fußballklub der Stadt, zum dritten Mal in der Geschichte die italienische Fußballmeisterschaft gewonnen, den scudetto.

Für den SSC Neapel – in Italien schlicht il Napoli genannt – ist es ein Triumph. Die Mannschaft hat sich den Titel fünf Spieltage vor Saisonende gesichert, ihre Verfolger können den Punkterückstand nicht mehr aufholen. Es ist die erste Meisterschaft für il Napoli seit 33 Jahren.

Wie groß diese Geschichte ist, konnten schon Ende April diejenigen US-Bürger erahnen, an die sich das Generalkonsulat der USA mit einer Security Alert (Öffnet in neuem Fenster)gewandt hatte, einer offiziellen Warnung.

Ihr Titel: Security Alert: S.S.C. Napoli’s Potential Victory (“Scudetto”).

Darin stand, nach der erwartbaren Meisterschaft des SSC Neapel könne es zu tagelangen "spontanen Feierlichkeiten" kommen, mit "entsprechender Zunahme von großen öffentlichen Versammlungen, starkem Verkehrsaufkommen oder Straßensperrungen, erheblichem Einsatz von Feuerwerkskörpern und Alkoholkonsum in der gesamten Stadt".

Sie hatten nicht übertrieben.

Das sind Aufnahmen aus Neapel, von den ersten Momenten nach dem Abpfiff der entscheidenden Partie Udinese - SSC Neapel, am Abend des 4. Mai:

https://www.youtube.com/watch?v=M9fod5SP2Ag (Öffnet in neuem Fenster)https://twitter.com/SerieA_EN/status/1654251528847257600?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)

Die Geschichte hinter dem Triumph des SSC Neapel beginnt für mich mit einem Paperback: einem 1991 gedruckten Buch, das erheblich dazu beigetragen hat, dass mein Leben sich eng mit Italien verwoben hat (Öffnet in neuem Fenster).

Golf von Neapel - Campanien steht auf dem Cover, unter dem Namen des Autors Hans Bausenhardt. Meine Mutter hat den Reiseführer Mitte der 1990er Jahre gekauft, vor unserem ersten Familienurlaub in Kampanien, der bevölkerungsreichsten süditalienischen Region.

Die neapolitanische Maradonenverehrung

1996 sollten wir zum ersten Mal Neapel besuchen, Hauptstadt Kampaniens und einzige Millionenstadt Süditaliens. Golf von Neapel - Campanien wurde zum Reisebegleiter, mit dessen Hilfe meine Mutter Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Cafès auswählte – und versuchte, vorab diese Stadt zu verstehen.

Das Cover des Buchs "Golf von Neapel - Campanien" mit einer bebilderten Karte des Golfs von Neapel und des Golfs von Salerno sowie des Cilento.

Auf einer der 85 Seiten im Kapitel über die Stadt Neapel steht im Buch dieser Abschnitt:

"Calcio"

Was weder Heiligen, Politikern und Literaten gelungen ist, nach Diego Maradona werden Straßen, Feriendörfer und Campingplätze benannt, ihm werden in den Gassen Altäre gebaut (bisher dominiert die Madonna noch über Maradona).
Als der SSC Napoli am 10. Mai 1987 zum ersten Mal in der Geschichte des italienischen Fußballs Meister wurde, triumphierte nicht nur die Stadt, der ganze Süden jubelte, überall flatterte Himmelblau, "grazie Napoli", "grazie Maradona".
Die "partita" (das Spiel) ist fester Bestandteil im napoletanischen Leben, man bringt ihr Opfer, wenn das längst nicht alle in der Form der (unbezahlbaren) Eintrittskarte tun, - wenn Napoli spielt, ist es ruhig und leer in den Gassen, nur an den Ecken stehen Menschenklumpen, die sich um die Reporterstimme aus dem Transistor ballen.
Italienische Siegesfeiern sind anders. Gewalt und Alkohol fehlen, dafür machen die "tifosi" jede Menge Krach und Bewegung. Ein Sieg bedeutet das totale Verkehrschaos mit einem unvorstellbaren Hupkonzert.

Hans Bausenhardts Beschreibung der Stadt in den Momenten der partita bleibt gut 30 Jahre nach Erscheinen des Buchs aktuell, mit einem technologischen Update: Wer nicht ins Stadion geht, sitzt oder steht heute in aller Regel vor einem Flachbildfernseher, notfalls vor einem Smartphone-Bildschirm.

Bausenhardts Sätze enthalten leider auch italienreiseführertypische Romantisierung ("Gewalt und Alkohol fehlen") und klischeehafte Übertreibung ("Der ganze Süden jubelte").

Trotz dieser Makel vermittelt der Autor aber eine Idee davon, warum am Fußball in Neapel nicht vorbeikommt, wer diese Stadt halbwegs begreifen will.

Vor allem mit diesem Einschub, den er in Klammern verpackt hat:

"Bisher dominiert die Madonna noch über Maradona"

"Bisher" und "noch", schreibt Hans Bausenhardt Anfang der 1990er Jahre.

Diego Armando Maradona, der von 1984 bis 1991 für den SSC Neapel aktive argentinische Weltstar, hatte einen überragenden sportlichen Anteil an den Fußballmeisterschaften eins und zwei, die der SSC Neapel 1987 und 1990 gewann.

Und so stark der Katholizismus und so tief verwurzelt die Verehrung für die Mutter Gottes bis heute in Neapel ist: Drei Jahrzehnte später hat Maradona die Dominanz der Madonna gebrochen – spätestens seit seinem Tod im November 2020, der für Hunderttausende napoletani ähnlich schmerzhaft war wie der Verlust eines engen Verwandten.

https://youtu.be/PwT3JGbBfQs (Öffnet in neuem Fenster)

Maradona gilt in der Altstadt von Neapel als Heiliger – gerade in den Straßen der quartieri spagnoli, im proletarischen Hinterland der Prachtstraße Via Toledo: in den bassi genannten Erdgeschosswohnungen, auf den Straßen, über denen die Wäscheleinen nicht als folkloristischer Gag hängen, sondern weil in den Häusern hier kaum jemand Platz für Wäscheständer oder Geld für einen Trockner hat.

Maradona hat der Stadt die Revanche über den Norden geschenkt

Maradona haben sie hier heiliggesprochen, weil er il Napoli 1987 und 1990 den sportlichen Triumph schenkte – und ganz Neapel die Revanche über die Fußballgroßmächte aus dem Norden, über die Klubs aus Mailand und Turin, wo die eingewanderten terroni, die Erdfresser aus dem Süden,seitJahrzehnten am Rand der Gesellschaft lebten. Die beiden scudetti gewann der SSC Neapel sieben und zehn Jahre nach dem Erdbeben (Öffnet in neuem Fenster), das in der südöstlich der Stadt gelegenen Gegend Irpinia Dörfer vernichtet, aber auch in die Metropole selbst Verheerung und Tod gebracht hatte (Öffnet in neuem Fenster). Il Napoli siegte 14 und 17 Jahre nach der bisher letzten Cholera-Epidemie, die in der Stadt gewütet hatte. (Öffnet in neuem Fenster)

Den Heiligenschein haben sie Maradona aber auch wegen seines Lebens außerhalb des Fußballfelds verpasst. Sie verehren ihn in Neapel für Benefizgesten wie etwa eine am SSC Neapel vorbei organisierte Benefiz-Partie, (Öffnet in neuem Fenster) für die Maradona 1985 auf einem schlammigen Fußballfeld in der Vorstadt Acerra auflief und mit deren Einnahmen die teure Operation für den Sohn eines Freundes finanziert wurde.

In der Stadt, deren Bewohner sich zu einem großen Teil bis heute als Opfer sehen – der italienischen Einheit von 1861 , des gierigen und kalten Nordens, der Bürokraten in Rom –, wird Maradona von vielen auch dafür geliebt, dass er sich als linker Revolutionär mit Millionenvermögen inszenierte (Öffnet in neuem Fenster): mit Che-Guevara-Tattoo auf dem rechten Oberarm, als Kumpel sich anti-imperialistisch gebender Diktatoren wie Venezuelas Ex-Staatschef Hugo Chávez und Kubas Langzeit-Präsident Fidel Castro.

Wegen beidem – seiner fußballerischen Extraklasse und seines revolutionären Charmes – vergibt eine überwältigende Mehrheit der Neapolitaner Maradona die dunklen Seiten seines Lebens: seine ziemlich unsozialistischen Steuertricks (Öffnet in neuem Fenster), die Verbindungen zur neapolitanischen Mafia, der Camorra (Öffnet in neuem Fenster), seinen exzessiven Drogenkonsum, seinen unrühmlichen Abgang aus Neapel im Jahr 1991.

Selbst der Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano, der wegen seiner Recherchen zur Camorra seit Jahren kein freies Leben mehr führen kann, hat zarte Gefühle für Maradona: Er habe den "unglücklichsten Menschen das Glück gebracht", sagte Saviano nach Maradonas Tod (Öffnet in neuem Fenster) der Zeitung La Stampa.

Maradona hat die Dominanz der Madonna gebrochen in Neapel. Man sieht
das an den Altären für ihn, die sie in der Altstadt errichtet haben, an den Maradona-Tattoos auf so vielen neapolitanischen Körpern.

Maradonas Heiligkeit bezeugt das im November 2021 erschienene Buch Il vangelo secondo Diego (Öffnet in neuem Fenster)(frei übersetzt: Das Maradona-Evangelium), zu dem unter anderem der frühere Erzbischof von Neapel und emeritierte Kardinal Crescenzio Sepe einen Text beigesteuert hat.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Maradonenverehrung in der Via Emanuele De Deo, mitten in den quartieri spagnoli.Tag für Tag pilgern Menschen hierhin, zu einem Wandbild Maradonas. Um das muráles herum spannen sie zu feierlichen Anlässen Schnüre mit blau-weißen Wimpeln über die Straße, in den Farben des SSC Neapel, die zugleich die Nationalfarben Argentiniens sind.

Das riesige Maradona-Wandbild in der Via De Deo in Neapel.

Das Maradona-Wandbild in der Via De Deo in Neapel (Credits: Flickr/Orlando Imperatore)

Das Wandbild hat 1990 der junge Anwohner Mario Filardi an die Fassade eines tristen Wohngebäudes gemalt (Öffnet in neuem Fenster). Von 2016 bis 2017 wurde es restauriert, der argentinische Künstler Francisco Bosoletti schenkte dem zweidimensional gezeichneten Körper Maradonas erstmals einen fotorealistischen Kopf. Einen Steinwurf von diesem Kunstwerk entfernt liegt die Pizzeria Santa Maradona, kein Witz (Öffnet in neuem Fenster).

Wer soll in so einer Stadt am Fußball vorbeikommen?


Natürlich haben die Menschen in Neapel Maradona auch im Mai 2023, zum dritten Meisterteile, in ihre Gesänge und Danksagungen eingeschlossen. Zum Beispiel Regisseur Paolo Sorrentino, der spätestens seit dem Oscar für seinen Film La Grande Bellezza (Öffnet in neuem Fenster)zu den berühmtesten Neapolitanern des Planeten gehört:

https://twitter.com/fanpage/status/1655286642842771457?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)

"Diese Meisterschaft hat sich ereignet, weil Maradona uns erklärt hat, wie man das macht. Und wir haben es gemacht."

Sorrentino hat Maradona schon 2021 gehuldigt: mit seiner auf Netflix erschienen Serie The Hand of God (Öffnet in neuem Fenster), die allen weiterhilft, die durchdringen wollen, was il Napoli im Allgemeinen und Maradona im Besonderen für die Menschen in der Metropolregion Neapel bedeutet, weit über den Fußball hinaus.

https://www.youtube.com/watch?v=s0o8jRVpij4 (Öffnet in neuem Fenster)

Diese Heiligengeschichte erklärt aber nicht, warum der SSC Neapel gerade jetzt, im Jahr 33 nach Maradona, wieder an der Spitze des italienischen Fußballs steht.

Womit wir beim patrón wären.

Hinter diesem Erfolg steht ein patrón, natürlich

Der patrón des SSC Neapel heißt Aurelio De Laurentiis.

Die patrón sind die Einzelherrscher der italienischen Fußballklubs – und ihre Macht geht oft weit über den Fußball hinaus. Ein patrón ist fast immer ein Mann, fast immer der Präsident in einem Fußballklub und immer der Mensch, dem dieser Klub gehört.

Patrón ist ein unübersetzbares italienisches Wort. Und die Geschichte hinter diesen mächtigen Menschen, an denen auch Fußballmuffel nicht vorbeikommen, erzähle ich in der fünften Episode von Kurz gesagt: Italien.

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/5-patron (Öffnet in neuem Fenster)

Ich möchte diese Episode gerade auch denjenigen Menschen empfehlen, die sie bisher bewusst nicht gehört haben, weil sie sich nicht für Fußball interessieren.

Denn eigentlich ist diese Folge besonders für Fußball-Muffel gedacht. Es geht in der Episode nicht um Viererketten oder Transfermarkt, sondern um die folgenschwere gesellschaftliche Macht der Männer an der Spitze der Klubs.

Graffiti mit dem Gesicht von Italiens langjährigem Regierungschef Silvio Berlusconi auf dem Körper des kubanischen Revolutionärs Che Guevara – und der Aufschrift "La Revolución es mia!"

Der mächtigste aller patrón, Silvio Berlusconi, als Che-Guevara-Verschnitt auf einem Wandbild, 2022 in Rom aufgenommen.

Der Filmproduzent hat il Napoli wieder hochgeholt

Der Triumph des SSC Neapel im Mai 2023 wäre ohne patrón Aurelio De Laurentiis nicht vorstellbar.

Aurelio De Laurentiis wurde 1949 als Sohn von Luigi De Laurentiis und Neffe von Dino De Laurentiis geboren: zwei im Umland von Neapel geborene Filmproduzenten, die viele Meisterwerke des italienischen Nachkriegskinos ermöglichten.

Zögling Aurelio selbst kam in Rom zur Welt, wurde dank dem Familienvermögen und seiner eigenen Tätigkeit als Mitgründer der mächtigen Filmproduktionsgesellschaft Filmauro steinreich.

2004 kaufte er il Napoli.

Der Klub lag damals, 14 Jahre nach der zweiten Meisterschaft der Maradona-Ära, am Boden: ein Gericht in Neapel hatte den inzwischen zweitklassigen Klub für zahlungsunfähig erklärt und ihm die Lizenz für den Profifußball entzogen.

De Laurentiis erwarb den Scherbenhaufen und verpasste ihm den Namen Napoli Soccer. Der Klub durfte in der Serie C neu anfangen, der dritten italienischen Fußball-Liga.

Luftaufnahme des Diego-Armando-Maradona-Stadions (bis 2020 Stadio San Paolo) in Neapel-Fuorigrotta.

Luftaufnahme des Diego-Armando-Maradona-Stadions (bis 2020 Stadio San Paolo) in Neapel-Fuorigrotta. (Credits: microinfo/Wikimedia Commons)

Er wolle il Napoli in fünf Jahren nach Europa zurückbringen, also in einen der europäischen Pokalwettbewerbe, sagte De Laurentiis im Sommer 2004 laut der Zeitung La Repubblica. (Öffnet in neuem Fenster)

Das Versprechen klang wie ein Ausfluss von Größenwahn. De Laurentiis hielt es. 2006 stieg Neapel in die zweite Liga auf – und durfte wieder den alten Namen SSC Neapel verwenden. 2007 schaffte das Team den zweiten Aufstieg in Folge, zurück in die Serie A. Und schon 2008 spielte der Klub wieder im Europapokal.

Seit der Saison 2010 ist il Napoli in jeder Saison im Europapokal vertreten gewesen. Neapel ist wieder einer der wichtigsten Schauplätze des europäischen Fußballs: als einzige Stadt Süditaliens, des seit über eineinhalb Jahrhunderten chronisch ärmeren Teils Italiens.

Die Rolle als Rächer des Südens gegen die bösen Nordmächte ist patrón De Laurentiis knapp zwei Jahrzehnten nach der Übernahme von il Napoli längst auf den Leib gewachsen. Man kann das schön in einem Interview beobachten, das De Laurentiis Anfang Mai dem US-Fernsehsender CBS auf Englisch gegeben hat, mit dem Meistertitel in der Tasche.

De Laurentiis beweihräuchert sich darin mit fast rührender Selbstliebe für seine Verdienste um den Napoli-Triumph. Und immer wieder streut er ein, die böse Uefa habe den Neapolitanern in diesem Jahr den Einzug in das Champions-League-Finale geklaut (mehr dazu hier (Öffnet in neuem Fenster)), aber so sei die Welt nunmal.

https://www.youtube.com/watch?v=D8DLozBt0hA (Öffnet in neuem Fenster)

Immer wieder lässt der Napoli-patrón den vittimismo durchscheinen: das Wälzen in der Opferrolle, das viele Norditalienerinnen und Norditaliener densüdlich von Rom lebenden Menschen vorwerfen – das aber auch vielen Süditalienern selbst massiv auf die Nerven geht.

Die Opfererzählung vom ausgeraubten Süden und die Klischee-Gefahr

Die große Erzählung hinter diesem vittimismo ist die, dass der Süden des Landes seit der italienischen Einheit im Jahr 1861 systematisch vom Norden ausgeplündert worden sei. Dass es wesentlich am Norden liege, dass Neapel heute nicht mindestens so wohlhabend wie Mailand und Kampanien nicht so wirtschaftlich blühend wie Kalifornien ist.

Gerade bei Napoli-Fans treibt diese Weltsicht bisweilen bizarre Blüten: etwa die US-amerikanische Konföderiertenflagge, die immer mal wieder in der Kurve der Neapolitaner auftaucht (Öffnet in neuem Fenster). Als Symbol für den vom Norden unterdrückten Süden, so verstehen das zumindest ein paar napoletani.

Wer Italien und gerade den Süden des Landes verstehen will, sollte sich andererseits aber vor einfachen Klischees hüten: Dass der SSC Neapel von Latina bis Brindisi und von Campobasso bis Reggio Calabria als Botschafter Süditaliens anerkannt würde, ist eine grobe Übertreibung.

Nur 20 Prozent der Fußball-Fans im Süden Italiens und auf den Inseln Sardinien und Sizilien geben laut dem Umfrageinstitut Demos (Öffnet in neuem Fenster)il Napoli als ihr Lieblingsteam an, Juventus Turin ist erheblich beliebter.

In meiner süditalienischen Schulzeit – zwischen Anfang und Mitte der 2000er Jahre und rund 130 Kilometer südlich von Neapel – hatte ich in acht Jahren an zwei unterschiedlichen Schulen genau einen Klassenkameraden, der Napoli-Fan war, dafür aber ein Dutzend juventini und noch eine beachtliche Zahl an Fans der beiden großen Mailänder Klubs Milan und Inter.

Klar, das war zur Zeit des historischen Absturzes des SSC Neapel – aber bis heute hat ein großer Teil der süditalienischen Fußballfans gar nichts für die napoletani übrig. Wer Zweifel daran hat, kann sich ja mal in Salerno-Pàstena oder Bari Vecchia umhören, wie viele Napoli-Fans dort leben.

In Stadt und Umland ist il Napoli gigantisch

Uneingeschränkt wahr ist aber: In Neapel selbst und nel napoletano, also im extrem dicht besiedelten Umland der Stadt, spielt der SSC Neapel eine gigantische Rolle.

In manchen Vierteln können auch calcio-Verächter diesen Fußballklub schlicht nicht überhören: zum Beispiel, wenn il Napoli zuhause in der Champions League spielt, im wichtigsten internationalen Vereinswettbewerb der Welt.

Dann schmettern schon vor Anpfiff die Heimfans die letzten zwei Wörter der Champions-League-Hymne so laut in den Abendhimmel, dass es Menschen noch in kilometerweit entfernten Stadtvierteln durch Mark und Bein geht.

https://youtu.be/iiVJ1K4IY5k (Öffnet in neuem Fenster)

Wie groß der im Mai 2023 gewonnene dritte Meistertitel für die Menschen in und aus Neapel ist, hat vermutlich niemand so gut in Worte gefasst wie Anfang Mai für den Corriere della Sera (Öffnet in neuem Fenster) der Anti-Mafia-Journalist Roberto Saviano:

Das ist ein einzigartiger Sieg, denn der Gewinn einer solchen Trophäe in Neapel geht weit über die sportliche Begeisterung hinaus. Die Stadt sieht ihn als eine Bestätigung ihrer selbst.

Und, weiter unten im Text:

[In Neapel herrscht] das Gefühl, immer der Letzte zu sein, weil man benachteiligt geboren wurde, das Bewusstsein, dass man entweder weggeht und seine Stadt, seine Familie, seine Liebsten verlässt – oder sich mit dem begnügen muss, was da ist: eine völlig unzureichende öffentliche Infrastruktur, baufällige Schulen; Verwaltungsbeamte, die sich als Königsmacher betrachten und denen nicht einmal die nationale Politik Einhalt gebieten kann.

Heute fühlen sich auch Sportmuffel – selbst diejenigen, die noch nie ein Fußballspiel gesehen haben – als Teil des Spiels; sie freuen sich, wenn Napoli gut spielt, reagieren mit Ungeduld auf unverdiente Niederlagen, enttäuscht, wenn es hakt, und begeistert auf Siege. Diese Mannschaft hebt die Stimmung der Stadt oder drückt auf sie. Niemand ist von diesem Leben ausgeschlossen, das vom Sport aus auf die ganze Stadt überschwappt. Es ist, als wäre il Napoli nicht die Mannschaft der Stadt – sondern als gehörte im Gegenteil die Stadt dieser Mannschaft.

Man muss sich auf dieses Gefühl einlassen können, um Neapel, diese große, spektakuläre, unfassbare Stadt, zu verstehen.

Zumindest ein bisschen.

Wer nach diesem Text noch acht Minuten lang eintauchen will in die zauberhaft-feierliche Atmosphäre des Napoli-Triumphs, der und dem empfehle ich diesen Auftritt des Musikers Liberato bei der Meisterfeier im Diego-Armando-Maradona-Stadion. Liberato macht die meiner Meinung nach derzeit beste Musik im neapolitanischen Dialekt – oder, wie die Neapolitaner sagen: in neapolitanischer Sprache.

https://youtu.be/Xn1NdG21Pqg (Öffnet in neuem Fenster)

Der ab Minute 3:30 aufgeführte Song heißt Tu t'e' scurdat' e me (zu Deutsch: Du hast mich vergessen).

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Kategorie Mensile

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