Folge 4: Magnamagna – Nein, das war kein Rechtsruck
Zwei Zahlen gehen mir nach dieser Parlamentswahl in Italien nicht aus dem Kopf:
63,9 und Neun.
Nur 63,9 Prozent der Menschen, die dazu das Recht hatten, haben ihre Stimme für Abgeordnetenhaus und Senat abgegeben.
Und um neun Prozent ist dieser Anteil eingebrochen, 2018 hatte die Wahlbeteiligung noch bei 72,9 Prozent gelegen.
Es ist ein "historischer und dramatischer Rückgang", schreibt das Wahlforschungsinstitut CISE an der römischen Universität LUISS (Öffnet in neuem Fenster).
Es ist leider keine Überraschung.
Die aktuelle Podcast-Folge: von Misstrauen und Lösungen
Dieses Schrumpfen der Wahlbeteiligung war zu erwarten.
Und das war ein Grund dafür, dass ich mich Wochen vor der Wahl entschlossen hatte, in der aktuellen Podcast-Episode über das unübersetzbare Wort magnamagna zu sprechen.
Magnamagna ist ein Wort, das in Italien in Gesprächen über Politik oft fällt, häufig im Satz "Qui è tutto un magnamagna", das ist hier alles ein großes Magnamagna.
Es ist ein Wort, in dem verständliche Frustration und Skepsis stecken – aber auch populistische Vorurteile, Zynismus und Vorwände dafür, sich selbst aus dem politischen Leben rauszuhalten.
Diese Folge erzählt die Geschichte hinter magnamagna.
Sie handelt vom Misstrauen vieler Italienerinnen und Italiener in die Politik, von den Gründen dafür — und von möglichen Auswegen.
https://kurzgesagt-italien.podigee.io/4-magnamagna (Öffnet in neuem Fenster)Verständlicherweise wird nach dieser Parlamentswahl – in Italien wie in vielen anderen Ländern – vor allem über die Ergebnisse gesprochen: in erster Linie über den triumphalen Sieg der rechten Fratelli d'Italia (FdI) um Giorgia Meloni, frühere Jugendministerin und Bürgermeisterkandidatin in Rom.
Über die Frage, wie weit rechts diese Nachfolgepartei einer Nachfolgepartei des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (Öffnet in neuem Fenster) wirklich steht. Und darüber, welche Folgen das alles für Italien und den Rest Europas haben wird.
Aber jeder Deutung dieses Wahlergebnisses fehlt ein wichtiger Teil, wenn die geschrumpfte Wahlbeteiligung darin nicht vorkommt.
Wanderung von rechts nach rechts
Welche Folgen dieser Einbruch hatte, hat der Kommunikationsberater Gianluca Di Tommaso auf Twitter schön zusammengefasst.
Di Tommaso hat die Wahlergebnisse der Parteien von 2018 und 2022 verglichen – aber nicht die Werte in Prozentpunkten, sondern die absolute Zahl der Stimmen, die die Parteien erhalten haben.
https://twitter.com/gditom/status/1574337159833821186?s=20&t=daLwA1qVE_hQF4WO4-fDmA (Öffnet in neuem Fenster)Alle größeren Parteien außer einer haben drastisch an Stimmen verloren: von den knapp 14 Prozent Minus des mittig-linken Partito Democratico (PD) bis zu den 60,1 Prozent Verlust der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die 2018 euroskeptisch-populistisch war und heute als recht eindeutig linke Partei gilt.
Die Gewinnerin waren die FdI, die – trotz niedrigerer Wahlbeteiligung – ihre Stimmenzahl mehr als vervierfacht (!) haben.
Wie sie das geschafft haben, zeigen die Zahlen zur Wählerwanderung der Wahlforscher vom CISE (Öffnet in neuem Fenster) und die unten abgebildeten Werte des Meinungsforschungsunternehmens YouTrend.
https://twitter.com/you_trend/status/1574701994866085894 (Öffnet in neuem Fenster)Fast die Hälfte (!) der Wählerinnen und Wähler, die 2018 die rechtsnationale Lega gewählt hatten, stimmten diesmal für FdI.
Dazu kommt ein erheblicher Anteil früherer Wählerinnen und Wähler von M5S und der rechtskonservativen Forza Italia, die ebenfalls zu FdI gewandert sind.
Artikel und Beiträge in deutschen Medien, in denen von einem "Rechtsruck" in Italien die Rede ist, liegen deshalb in meinen Augen in ihrer Grundannahme falsch. Es sind vor allem Menschen von zwei rechten Parteien zu einer anderen rechten Partei gewandert.
Und es sind Menschen von den M5S nach rechts abgewandert. Eine plausible Erklärung dafür wäre, dass die M5S sich seit 2018 drastisch verwandelt haben. Damals waren sie noch als populistisch-euroskeptische Partei angetreten. Seither aber waren die M5S die einzige Partei, die über vier Jahre lang an der Regierung beteiligt war. Ihr heutiger Parteichef Giuseppe Conte war zweieinhalb Jahre lang Ministerpräsident, baute in dieser Zeit unter anderem ein Vertrauensverhältnis zur deutschen Kanzlerin Angela Merkel auf und verhandelte für Italien aus, dass das Land den größten Batzen Geld aus dem Corona-Hilfsfonds der Europäischen Union bekommt.
Die schlüssige Erklärung also: Menschen aus dem rechten Lager, die 2018 die M5S gewählt hatten, weil sie gegen das System waren, haben sich seither zu einem erheblichen Teil abgewendet – und sind diesmal bei den FdI und Giorgia Meloni gelandet.
Der Ruck weg von den Wahlurnen
Italien hat keinen Rechtsruck erlebt.
Der bemerkenswerteste Ruck war der weg von den Wahlurnen.
Sinkende Wahlbeteiligung ist nicht nur in Italien ein Problem, klar. Bei den Präsidentschafts- wie bei den Parlamentswahlen in Frankreich war das ebenfalls ein erhebliches Thema (Öffnet in neuem Fenster) – und auch in Deutschland ist die Beteiligung seit den 1990er Jahren lange gesunken.
Aber in Deutschland haben sich die Zahlen – zumindest bei Bundestagswahlen und vielen Landtagswahlen – stabilisiert, bei den Bundestagswahlen ist die Beteiligung sowohl 2017 als auch 2021 wieder gestiegen.
In Italien geht es seit 15 Jahren Wahl für Wahl nach unten.
2006 hatten noch über 84 Prozent der stimmberechtigten Italienerinnen und Italiener ihr Parlament gewählt. Seither ist die Beteiligung von Wahl zu Wahl zurückgegangen (Öffnet in neuem Fenster) – bis auf die 63,9 Prozent vom Sonntag, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Weil der Rückgang noch sie so massiv war wie diesmal.
Besonders dramatisch sind die Zahlen in Süditalien. Im Süden wird seit Jahrzehnten weniger gewählt als im Norden, weil Bürgerinnen und Bürger sich in Norditalien stärker an Politik beteiligen, weil das Vertrauen in die lokalen Institutionen dort größer ist.
Das hat auch erheblich damit zu tun, dass im Norden Italiens der Staat besser funktioniert: Busse und Bahnen, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und Bibliotheken sind in Bologna besser als in Bari, sie haben in Bergamo eine völlig andere Qualität als in Ragusa.
Diesmal ist der astensionismo im Süden aber so krass, dass etwa in den Provinzen Crotone und Reggio Calabria weniger als die Hälfte der Berechtigten zur Wahl gegangen ist. In der Provinz Neapel, mit 3,1 Millionen Einwohner die mit der drittgrößten Bevölkerung Italiens, waren es nur knapp über 50 Prozent.
Das Nachrichtenportal "Il Post" hat die Daten in einer übersichtlichen interaktiven Karte dargestellt.
https://www.datawrapper.de/_/xpr1b/ (Öffnet in neuem Fenster)Wie sich die mit den Jahren so drastisch gesunkene Wahlbeteiligung auswirkt – auf das Wahlergebnis, auf die Zusammensetzung des Parlaments, auf die politische Richtung, die Italien einschlägt, hat Lorenzo Pregliasco, Mitbegründer des Meinungforschungsinstituts YouTrend, Autor und Podcaster, mit einer Zahl und zwei Jahreszahlen verdeutlicht.
Pregliasco schreibt auf Twitter:
https://twitter.com/lorepregliasco/status/1574319495136550912?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1574319495136550912%7Ctwgr%5Ef697a4e2b7da82f89352e2461d50d0b7ba799bf1%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.ilpost.it%2F2022%2F09%2F26%2Faffluenza-elezioni-destra%2F (Öffnet in neuem Fenster)Heute gewinnt das Mitte-Rechts-Bündnis mit 12 Millionen Stimmen deutlich die Wahlen.
2008 verlor die Mitte-Links-Partei PD mit 12 Millionen Stimmen deutlich die Wahlen.
Warum es bei Wahl 2022 diesen seit Gründung der italienischen Republik einmaligen Einbruch gegeben hat, werden Sozialforscherinnen und -forscher voraussichtlich untersuchen.
Für den langfristigen Abwärtstrend gibt es aber seit Längerem Erklärungen – und es gibt Lösungsansätze.
Auch darüber spreche ich in der aktuellen Podcast-Episode – unter anderem mit Luca Misculin, Politikjournalist bei "Il Post", der dazu bereichernde Gedanken mit mir tauscht.
A presto!
Sebastian Heinrich