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Folge 3: Papeete – Vier unterschätzte Fakten zu den italienischen Parlamentswahlen

Luigi Vittorio Ferraris war von 1980 bis 1987 Botschafter Italiens in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Achtziger, das ist vielen angesichts der Stranger-Things-getriebenen Verklärung (Öffnet in neuem Fenster) unserer Tage gar nicht mehr klar, waren in Westdeutschland eine Zeit weit verbreiteter Zukunftsangst. Ein Atomkrieg schien kurz vor der Tür zu stehen (was bei einem Teil der Friedensbewegung dieser Zeit in wahnhafte Panik mündete, wie man in diesem hörenswerten Feature (Öffnet in neuem Fenster) mit O-Tönen von 1983 nachhören kann). 

Viele Journalistinnen und Journalisten in Deutschland schrieben und sprachen damals  von der "No-Future-Generation" (Öffnet in neuem Fenster). Ferraris vertrat in diesen Jahren Italien in der verbündeten BRD.

In seinem 1988 veröffentlichten Buch "Wenn schon, denn schon – aber ohne Hysterie. An meine deutschen Freunde" schreibt Ferraris, eine seiner Hauptaufgaben als italienischer Botschafter habe darin bestanden, "den Deutschen mindestens zweimal im Monat zu erklären, dass die Welt morgen nicht untergehen wird". 

Viele Deutsche – und somit auch viele deutsche Journalistinnen und Journalisten – erklären bis heute anderen Menschen besonders gerne, dass morgen (oder spätestens übermorgen) die Welt untergehen wird.  

Manche von ihnen schreiben den anstehenden Zusammenbruch besonders gerne für Italien herbei, dieses Lieblingsziel deutscher Wunschträume und Klischees (Öffnet in neuem Fenster), das – so die These – ja ohnehin vom Chaos und der Unfähigkeit beherrscht sei und seit Jahren über  seine Verhältnisse lebe.

Da Italien vor Parlamentswahlen steht, die nach aktuellem Stand eine Rechtskoalition gewinnen könnte, sind solche Abgesänge gerade wieder relativ häufig zu lesen. In diesen Texten und Podcasts, Tweets, Videos und Radiobeiträgen kommen aber ein paar wichtige Fakten zu den anstehenden Wahlen und der darauf folgenden Regierungsbildung fast nie vor. 

Vier dieser unterschätzten Fakten über Italiens politisches System und seine  Parteienlandschaft erkläre ich in dieser Newsletter-Ausgabe. Diese Fakten helfen meinen Leserinnen und Lesern hoffentlich, die Berichterstattung über die Wahlen und deren Folgen besser (und vielleicht auch etwas entspannter) einzuordnen.

Warum in Italien so oft Regierungen stürzen

Dass Italienerinnen und Italiener am 25. September überhaupt ein neues Parlament wählen sollen, liegt an der Regierungskrise, die im Juli binnen weniger Tage eskaliert ist und am Ende zum Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi geführt hat, der seither nur noch geschäftsführend im Amt ist.

Draghi ist der 30. Regierungschef in gut 74 Jahren italienischer Republik, er führt die 67.  Regierung an.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte in derselben Zeit neun Bundeskanzler und 24 Regierungen.

Wie die Regierungskrise entstanden ist, die Draghi zu Fall gebracht hat – und warum in Italien so oft die Regierung stürzt, darum dreht sich die August-Episode von "Kurz gesagt: Italien". 

Das unübersetzbare Wort dieser Folge – Papeete–  ist heute ein fester Begriff im italienischen Politiksprech. Ursprünglich stammt es aus der Südsee – genauer gesagt aus dem Tahitianischen, der Sprache der Hauptinsel von Französisch-Polynesien.  Wie das passieren konnte, erkläre ich im ersten Teil der Folge.

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/3-neue-episode (Öffnet in neuem Fenster)

Und jetzt zu den vier unterschätzten Fakten zu den anstehenden italienischen Parlamentswahlen, die aus dieser Krise entstanden sind.

1. Koalitionen sind viel wichtiger als Parteien

Bei nationalen Parlamentswahlen können die wahlberechtigten Italienerinnen und Italiener mit ihrer Stimme darüber entscheiden, wer sie in den zwei Parlamentskammern vertritt: dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Beide Kammern werden aus der im September anstehenden Wahl deutlich geschrumpft  herausgehen – aufgrund einer im Jahr 2020 per Referendum besiegelten Verfassungsreform (Öffnet in neuem Fenster), die die Sitzzahl auf 400 (Abgeordnetenhaus) und 200 (Senat) verringert.

Das Wahlrecht – die Spielregeln, nach denen die Italienerinnen und Italiener abstimmen und nach denen ihre Stimmen in Sitze umgerechnet werden – haben die unterschiedlichen politischen Mehrheiten seit den 1990er Jahren mehrfach und teils drastisch geändert. Mehr dazu erzähle ich in der Podcast-Episode. Für die anstehende Wahl ist vor allem wichtig: Das derzeit gültige Wahlrecht hilft den Parteien, die sich schon vor der Wahl zu Koalitionen zusammenfinden. 

Anders als etwa in Deutschland oder Österreich üblich, tun sich also in Italien mehrere Parteien schon vor der Wahl zu Bündnissen zusammen, um ihre Chancen auf möglichst viele Parlamentssitze – und im besten Fall auf eine solide Regierungsmehrheit – zu erhöhen. 

Anfang August ist ein Bündnis vergleichsweise gefestigt:
das der drei Rechtsparteien Lega, Fratelli d'Italia (FdI) und Forza Italia (FI, der Partei des langjährigen Ex-Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi). 

https://twitter.com/MartinGenier/status/1556756307918585860?s=20&t=TdagjLRw6wx9hRZTCfd27g (Öffnet in neuem Fenster)

von links, die Parteichefs Silvio Berlusconi (Forza Italia), Giorgia Meloni (Fratelli d'Italia),  Matteo Salvini (Lega)

Zwei weitere Bündnisse zeichnen sich nach turbulenten Verhandlungen ab:

ein Mitte-Links-Bündnis aus der größten Mitte-Links-Partei Partito Democratico (PD) und weiteren linken Parteien

und

ein Mitte-Bündnis aus den Parteien Azione und Italia Viva.

Der Wahlsieger der letzten Wahl im Jahr 2018,  die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) scheint nach aktuellem Stand – wie damals – ohne vorherige Koalition anzutreten. 

An diesen vor der Wahl geschlossenen Bündnissen kann sich noch etwas ändern. Wichtig ist aber: Sie sind heute im politischen System ein wichtiger Faktor. Darauf zu schauen hilft, die Lage besser zu verstehen.

2. Umfragen sind in Italien meist weniger wert als anderswo

Eine der Gründe dafür, warum in Italien so oft Regierungen stürzen, ist das wacklige Parteiensystem: Jahr für Jahr spalten sich Parteien ab, werden neu gegründet, verschwinden wieder, tun sich mehrere Parteien zu einer neuen Partei zusammen. 

Jahrzehntelang, von 1948 bis 1992, war das italienische Parteiensystem stabil, mit immer denselben sieben relevanten Parteien von Christdemokrateen über Liberale bis Kommunisten und Postfaschisten. Dann, nach dem gigantischen Korruptionsskandal tangentopoli (Öffnet in neuem Fenster),  krachte das System zusammen. Seit den 1990ern ist die Parteienlandschaft enorm instabil.

Eine Folge dieser Instabilität: Die Beliebtheitswerte italienischer Parteien schwanken teilweise schnell und massiv. 

Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Im Sommer 2019 lag die rechte Lega um den damaligen Innenminister Matteo Salvini in Umfragen bei über 35 Prozent. Er fühlte sich stark genug für Neuwahlen, löste eine Regierungskrise aus, verzockte sich dabei aber – und stürzte mit seiner Partei ab. Die Lega pendelt seit Monaten nur noch zwischen 10 und 12 Prozent, stärkste Rechtspartei ist inzwischen die postfaschistische FdI. 

Auch die Umfragen vor Wahlen bewegen sich schneller als in anderen Ländern – und italienische Meinungsforschsinstitute tun sich besonders schwer damit, Ergebnisse vorherzusagen. Vor der Wahl 2018 unterschätzten die Institute etwa das Ergebnis der damaligen Mitte-Rechts-Koalition und der M5S erheblich – und überschätzten das Mitte-Links-Bündnis. 

Wer in den Wochen vor den italienischen Wahlen von Umfragen liest, sollte diese große Unsicherheit im Kopf haben.

3. Der Präsident entscheidet am Ende viel

Italien ist, wie Deutschland, eine parlamentarische Demokratie – in der die Regierung das Vertrauen der Mehrheit im Parlament braucht.

Ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Ländern:
In Deutschland wird der Regierungschef vom Parlament gewählt, bevor er sein Amt antritt.
In Italien holt sich der Regierungschef das Vertrauen des Parlaments, nachdem er sein Amt angetreten hat. 

Zuvor wird der mögliche Regierungschef (oder die Regierungschefin, die es aber bisher in Italien noch nie gab) vom Staatspräsidenten beauftragt, eine Regierungsmehrheit zu bilden. Der Staatspräsident kann in Italien auch die Ernennung eines Ministers oder mehrerer Minister ablehnen, wenn sie aus seiner Sicht Grundsätze der Verfassung  gefährden. Nach der Wahl 2018 machte der – damals wie heute amtierende – Präsident Sergio Mattarella davon Gebrauch und lehnte die Ernennung des Euro-Gegners Paolo Savona zum Finanz- und Wirtschaftsminister ab (Öffnet in neuem Fenster).

https://twitter.com/quirinale/status/1550149060908179456?s=21&t=TgddQkRfVShm3FYCqKZgcA (Öffnet in neuem Fenster)

der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella erklärt am 21. Juli die Auflösung der Parlamentskammern und die Ansetzung von Neuwahlen

Das zeigt: Der Präsident hat nach der Wahl ein entscheidendes Wort bei der Bildung der Regierung mitzureden. Auch das sollte jede und jeder beim Blick auf die Wahl in Italien und die mögliche neue Regierung im Kopf haben.

4. Regierungen in Italien sind kurzlebig

An dieser Stelle nochmals der Vergleich:

Die Bundesrepublik Deutschland hatte seit 1949 neun Bundeskanzler – und 24 Regierungskabinette.

Die Republik Italien hatte seit 1948 30 Ministerpräsidenten – und 67 Regierungskabinette.

Italienische Regierungen sind oft kurzlebig – und schon jetzt, vor der Wahl zeichnen sich mögliche Streitpunkte innerhalb der Bündnisse ab, die gerne die Regierungsmehrheit stellen würden. 

hierhin wollen die Spitzenkandidaten der Parteien am Ende: Palazzo Chigi in Rom, der Sitz des italienischen Ministerpräsidenten

Das gilt auch für das Rechtsbündnis aus FdI, Lega und FI, das nach aktullem Stand der Umfragen die besten Chancen hat – und sogar schon ein gemeinsames Wahlprogramm (Öffnet in neuem Fenster)veröffentlicht hat. Das Problem daran für die Rechtsparteien: Zu wichtigen Punkten wie einer (in Italien nach Ansicht vieler Expertinnen und Experten bitter nötigen) Steuer- und Rentenreform, zur Migration, zu den Plänen, die EU-Hilfen aus dem Anti-Corona-Krisenfonds Next Generation EU stehen in dem Programm teils nur sehr vage, im besten Bürokratie-Italienisch verfasste Versprechen wie "effizientere Nutzung der europäischen Mittel unter Bezugnahme auf den Anstieg der Energie- und Rohstoffkosten".

Das Rechtsbündnis aus den von Meloni, Salvini und Berlusconi angeführten Partei hat außerdem zwar grundsätzlich  geklärt, wer Regierungschefin oder Regierungschef würde, falls es für eine rechte Mehrheit reichte: nämlich die Person, deren Partei "die meisten Stimmen erhält". Doch einen offiziellen, gemeinsamen Kandidaten gibt es nicht – anders als vor den Wahlen 2001 und 2008, den bisher letzten Wahlsiegen der italienischen Rechten, jeweils angeführt von Berlusconi.  

Der Sozialwissenschaftler und Autor Lorenzo Pregliasco schreibt auf Twitter, die vor der Wahl geschlossenen Koalitionen würden die Regierbarkeit Italiens verhindern, die Bündnisse seien am Tag nach der Wahl schon hinfällig.

https://twitter.com/lorepregliasco/status/1550548020122484739 (Öffnet in neuem Fenster)

So war es auch nach der vergangenen Wahl 2018. Die Lega von Matteo Salvini war auch damals in einer Koalition mit Berlusconis FI und Melonis FdI angetreten. Nach der Wahl aber ging die Lega am Ende ein Regierungsbündnis mit der Fünf-Sterne-Bewegung ein. 

Das heißt: Selbst wenn die Umfragen Recht behalten und die Italienerinnen und Italiener am 25. September eine rechte Mehrheit ins Parlament wählen, heißt das noch lange nicht, dass die von dieser Mehrheit gestützte Regierung danach lange im Amt bleiben wird. Im Gegenteil: Eine langlebige Regierung wäre eine Überraschung. 

Sebastian Heinrich

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Kategorie Mensile

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