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+Sonderausgabe+ Ribaltone oder Strohfeuer? Antworten zur Regierungskrise in Italien

Der Regierung Italiens unter Ministerpräsident Mario Draghi droht seit Donnerstagnachmittag das Aus. 

Was genau passiert ist, was das bedeutet und wie es jetzt weitergehen könnte, das erkläre ich – so gut, wie das derzeit möglich ist  – in dieser Sonderausgabe des Kurz gesagt: Italien-Newsletters. 

Sie soll Antworten auf ein paar wichtige Fragen zur Regierungskrise liefern.

Was ist in Italien gerade los?

Am frühen Donnerstagabend kündigte Ministerpräsident Mario Draghi erst seinen Rücktritt an. 

https://twitter.com/seisselberg/status/1547624923115319298?s=20&t=dietYLlpX4WlozoOXDoQUg (Öffnet in neuem Fenster)

Eine gute Stunde später lehnte Staatspräsident Sergio Mattarella dann aber das Rücktrittsgesuch Draghis ab. 

Der Präsident verschickte  – unter anderem über den Twitter-Account des Präsidentenpalasts auf dem Qurinalshügel in Rom (Öffnet in neuem Fenster) – eine Mitteilung, die am Ende ins politichese abgleitet, in die rätselhafte Sprache der höchsten italienischen Institutionen. 

Mattarella, steht in der Mitteilung, habe Draghi 

"aufgefordert (...), vor dem Parlament  zu sprechen, damit in dem dafür vorgesehenen Forum die durch den Ausgang der heutigen Senatssitzung zustandegekommene Situation bewertet wird."

Was Mattarella damit genau meint? So richtig wissen das auch viele Journalisten in Italien nicht. 

https://twitter.com/bastianoenrico/status/1547674291780689920?s=20&t=AoaElJkfnBN7TlTBpK0SIw (Öffnet in neuem Fenster)

Fest steht am Morgen nach dem Ausbruch dieser Krise, dass Ministerpräsident Draghi fürs Erste im Amt bleibt. 

Fest eingeplant ist (Stand Freitagmorgen) außerdem, dass Draghi am kommenden Mittwoch (20. Juli) Mattarellas Bitte nachkommen und vor den beiden Parlamentskammern, dem Abgeordnetenhaus und dem Senat, sprechen wird. 

Was wird er dort genau tun?

Realistisch erscheinen momentan zwei Möglichkeiten:

  • Entweder bestätigt Draghi seinen Willen, zurückzutreten

  • oder er überdenkt seine Entscheidung  – und holt sich am Mittwoch doch noch das Vertrauen des Parlaments, weil sich die Lage, die ihn zum Rücktritt bewogen hat, bis dahin aus seiner Sicht verbessert hat.

Womit wir bei der zweiten Frage wären.

Warum ist die Regierungskrise eigentlich  ausgebrochen?

Der kurzfristige Grund ist das Ergebnis einer Abstimmung im italienischen Senat am Donnerstag. Die Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, kurz: M5S), einer der Parteien im Regierungsbündnis hinter Mario Draghi, boykottierten die Abstimmung über ein Gesetzesdekret namens decreto aiuti – und machten damit deutlich, dass sie sich nicht mehr als Teil der Regierungsmehrheit sehen. 

Ministerpräsident Draghi sah darin einen Anlass dafür, seinen Rücktritt anzukündigen. 

Er hatte in den vergangenen Wochen mehrfach erklärt, dass er nur Regierungschef bleiben werde, wenn die M5S Teil seiner Koalition bleiben. 

Draghi war im Februar 2021 als Chef einer Regierung der nationalen Einheit angetreten. Zu ihr gehören seither Parteien von der rechtsnationalen Lega um Ex-Innenminister Matteo Salvini über die konservative Forza Italia des ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, die populistische M5S bis zur Mitte-Links-Partei Partito Democratico (PD) und mehreren kleineren Parteien. 

Draghi hat sich stets als überparteilicher Regierungschef präsentiert: als pro-europäischer, dem Bündnis mit den USA und anderen Nato-Partnern verpflichteter Staatsmann – aber nicht als Parteipolitiker. In einer Pressekonferenz kurz vor Weihnachten 2021 bezeichnete der 74-jährige Draghi sich selbst als nonno al servizio delle istituzioni, also als "Opa im Dienst des Staates". 

https://www.youtube.com/watch?v=kdqjVj0B-aI (Öffnet in neuem Fenster)

Ohne M5S, so Draghis heutiges Argument, wäre es mit der Einheitsregierung und mit der Rolle als überparteilicher Opa der Nation dahin. Und somit hätte er nach eigener Ansicht auch keinen politischen Auftrag mehr, Italiens Regierung anzuführen.

Was steht in dem Gesetz, über das die Regierung Draghi gestolpert ist?

Das von der M5S abgelehnte, 14 Milliarden Euro schwere decreto aiuti enthält eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen, um die Folgen der massiven Teuerung (die in Italien ähnlich stark ist wie in Deutschland) für die Bürgerinnen und Bürger abzumildern und den klimafreundlichen Umbau der Energieversorgung  im Land zu beschleunigen. Darunter sind eine Soforthilfe in Höhe von 200 Euro für einen großen Teil der italienischen Haushalte und Regeln, die den Ausbau erneuerbarer Energien in Italien erleichtern sollen.

Gesetzesdekrete (Öffnet in neuem Fenster) wie das decreto aiuti sind im politischen System Italiens Rechtsakte, die die Regierung ohne Zustimmung des Parlaments  erlassen kann und die sofort wirksam werden. Das Parlament muss diesen Gesetzesdekreten aber spätestens 60 Tage danach zustimmen, sonst werden sie rückwirkend wieder aufgehoben.

Das politische Problem bei diesem Dekret: die Fünf-Sterne Bewegung hatte seit Wochen laut Kritik an mehreren seiner Bestandteile geäußert und ihre Zustimmung infrage gestellt. Unter anderem forderte der M5S-Chef und frühere Ministerpräsident Giuseppe Conte eine Regelung, die weiter einen leichten Zugang zu einem seit Monaten wirksamen und umstrittenen Zuschuss für energetische Sanierungen von Gebäuden ermöglichen sollte. Conte und die M5S wollten außerdem eine Regelung tilgen, die in Italiens Hauptstadt Rom den Bau einer Müllverbrennungsanlage ermöglicht hätte (die M5S sind seit Jahren erbitterte Gegner solcher Anlagen). 

Die italienische Kommunikationsmanagerin Aida Khalilova hat das zu diesem Tweet inspiriert:

https://twitter.com/aidakhalilova_/status/1547659131527368708?s=20&t=dietYLlpX4WlozoOXDoQUg (Öffnet in neuem Fenster)

Weil Ministerpräsident Draghi das decreto aiuti einerseits für sehr wichtig hielt und sich andererseits seit Wochen abzeichnete, dass die M5S ihre Zustimmung verweigern könnten, verband er die Abstimmung über das Dekret im Senat mit der Vertrauensfrage. Hätte Draghi also für das Dekret nicht die Mehrheit der abgebenen Stimmen bekommen, wäre er zum Rücktritt gezwungen gewesen. 

Die M5S-Abgeordneten entschlossen sich für ein bemerkenswertes Verhalten: Sie nahmen an der Abstimmung im Senat einfach nicht teil. Dadurch drückten sie einerseits aus, dass sie mit dem Dekret nicht einverstanden waren. Andererseits ermöglichten sie es Draghi aber trotzdem, die nötige Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu erhalten. Die bekam Draghi auch: 172 Ja- und 39 Nein-Stimmen sprach der Senat seiner Regierung das Vertrauen aus und verabschiedete das decreto aiuti.

Draghi wollte trotzdem zurücktreten. Weil er, wie oben erwähnt, keine Regierung ohne die M5S anführen will. Zumindest momentan nicht.

Warum hat die Fünf-Sterne-Bewegung ausgerechnet jetzt die Krise ausgelöst?

Hinter der Ablehnung des decreto aiuti stecken ein grundsätzliches Unbehagen der M5S mit ihrer Rolle in der Regierung Draghi – und eine tiefe Krise der Partei.

Das Unbehagen hat mit inhaltlichen Konflikten zwischen M5S-Chef Conte und Ministerpräsident Draghi zu tun. In den vergangenen Monaten hatte Conte deutliche Kritik an den Waffenlieferungen der Regierung an die Ukraine geäußert. Anfang Juni sagte er vor Journalisten (Öffnet in neuem Fenster), der Ukraine sei jetzt "ausreichend geholfen worden". Länder wie die USA und Großbritannien würden weiter Waffen liefern, Italien solle sich aber darauf konzentrieren, Friedensgespräche zu führen.  Draghi bestand auf weiterer militärischer Unterstützung für den ukrainischen Verteidigungskampf. Conte protestierte, aber fügte sich. Bis der Streit um das decreto aiuti ausbrach. 

Die tiefe Krise der Fünf-Sterne-Bewegung lässt sich an den nackten Zahlen ablesen. Bei der vergangenen Parlamentswahl im Jahr 2018 holte die M5S rund 32,7 Prozent der Stimmen (Öffnet in neuem Fenster) und wurde stärkste Regierungspartei. Laut den jüngsten Umfragen liegt sie nur noch zwischen 10 und 12 Prozent.

https://twitter.com/you_trend/status/1544225429854248962?s=20&t=dietYLlpX4WlozoOXDoQUg (Öffnet in neuem Fenster)

Die 2009 aus einer Protestbewegung gegen Korruption entstandene Partei, die sich als weder rechts noch links versteht, hatte sich seit ihrer Gründung das Ziel auf die Fahnen geschrieben, die italienische Politik zu revolutionieren. Vor der Wahl 2013, bei der die M5S erstmals ins italienische Parlament einzog, versprach der Parteigründer und in Italien seit den 1980er Jahren bekannte Komiker Beppe Grillo, man werde die Volksvertretung "öffnen wie eine Thunfischdose". (Öffnet in neuem Fenster) 

2022 hat die M5S vier Jahre in wechselnden Regierungskoalitionen hinter sich: erst anderthalb mit der rechtsnationalen Lega, dann anderthalb mit der früher verhassten Mitte-Links-Partei PD, seit Anfang 2021 als Teil der Einheitskoalition unter Draghi. 

https://twitter.com/AFP/status/1547631995122905096?s=20&t=24Ps3yU5B-1E2cFqku-FMQ (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Teil der verbliebenen Partei sieht in diesem Wandel von der Protestbewegung zur staatstragenden Partei den Hauptgrund für die Krise der M5S – und blickt mit Neid auf die Umfragewerte der einzigen größeren Partei Italiens, die derzeit nicht zur Regierung gehört: die rechtsnationale und teils offen neofaschistische Fratelli d'Italia (FdI) um die Abgeordnete und frühere Ministerin Giorgia Meloni, die derzeit bei etwa 23 Prozent liegt und somit die führende Kraft im rechten Lager ist. 

Dieser Teil der M5S hält ein Ausscheiden aus der Regierung Draghi für die beste Lösung, um bei der nächsten Parlamentswahl eine Bruchlandung zu vermeiden. Diese Wahl findet im kommden Frühjahr statt, falls die Wahlperiode wie geplant zu Ende geht. Aber auch frühere Neuwahlen sind möglich – vor allem, falls Ministerpräsident Draghi tatsächlich stürzt.

Ein Teil derjenigen Fünf-Sterne-Politiker, die der Regierung Draghi treu bleiben wollen, haben die Partei dagegen Ende Juni verlassen. Der bekannteste aus dieser Gruppe ist Außenminister Luigi Di Maio, der nach längerem Streit mit Parteichef Conte eine eigene Parlamentsfraktion mit dem Namen Insieme per il Futuro ("Gemeinsam für die Zukunft") gegründet hat, aus der bis zur Parlamentswahl eine Partei werden soll. 

Wie geht es jetzt weiter?

Die entscheidende Frage ist, ob aus dieser Krise ein ribaltone wird, also ein echter Umbruch in der politischen Landschaft – oder nur ein fuoco di paglia, ein sommerliches Strohfeuer, an das sich ein paar Jahren nur noch Politiknerds erinnern werden. 

Option 1: Draghi könnte am kommenden Mittwoch seinen Rücktritt bekräftigen, obwohl  Staatspräsident Mattarella ihn am Donnerstag zunächst abgelehnt hat. Damit Mattarella den Rückzug  doch noch akzeptiert, müsste Draghi den Präsidenten wohl davon überzeugen, dass er tatsächlich keine dauerhafte Mehrheit im Parlament mehr hinter sich hat.

https://twitter.com/dpa/status/1547652436784910336?s=20&t=24Ps3yU5B-1E2cFqku-FMQ (Öffnet in neuem Fenster)

Nach dem Rücktritt könnte Mattarella gemäß dem italienischen Verfassungsrecht eine andere Person damit beauftragen, eine Regierungsmehrheit zu bilden, die möglichst bis zum Ende der Wahlperiode im Frühjahr 2023 hält. Oder der Präsident löst das Parlament auf – und bringt Neuwahlen auf den Weg, bei denen laut aktuellen Umfragen das rechte Lager um FdI und Lega blendende Chancen auf einen Sieg hätte. 

Option 2: Mario Draghi bleibt trotz seiner Rücktrittsankündigung am Ende doch noch im Amt, weil er eine Mehrheit im Parlament findet, die seine Regierung trägt. Voraussichtlich würde die M5S nicht mehr zu dieser Mehrheit gehören. Zwei Vertreter der anderen Regierungsparteien, die ehemaligen Ministerpräsidenten Enrico Letta (PD) und Matteo Renzi (heute Chef der Kleinpartei Italia Viva), sagten am Donnerstag schon, sie würden sich um eine solche Mehrheit bemühen.

Was bedeutet diese Krise für Italien?

Dass diese Krise zu einem ungünstigen Zeitpunkt kommt, zeigt sich schon an den Reisen, die Draghi als amtierender Ministerpräsident wohl vor seinem Termin im Parlament am Mittwoch noch absolvieren wird. Anfang kommender Woche wird er in Algerien sein,  um mit der Regierung dort zu verhandeln. Algerien ist eines der Länder, von denen Italien künftig mehr Erdgas beziehen will, um weniger abhängig von Lieferungen aus Russland zu sein.

Die Suche nach Erdgasimporten ist nur eine der dringenden Aufgaben, die für die italienische Regierung in den kommenden Wochen und Monaten anstehen: Dazu gehört auch der Kampf gegen die Inflation, die sich in Italien noch drastischer  auswirkt als in Deutschland, weil die durchschnittlichen Nettolöhne deutlich niedriger sind. 

Unter Ministerpräsident Draghi war Italien außerdem bisher ein zentraler Player der europäischen Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – was sich unter anderem an der gemeinsamen Reise Draghis mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und den Präsidenten Frankreichs und Rumäniens, Emmanuel Macron und Klaus Iohannis, nach Kyjiw zeigte. 

https://twitter.com/DailyWorld24/status/1537378876548169728?s=20&t=pkY6n3l35KNS3HTvmbdkMw (Öffnet in neuem Fenster)

Sollten die innenpolitischen Turbulenzen in Italien weitergehen, wird das voraussichtlich auch die Staatsfinanzen erheblich belasten. Der Spread, der Zinsunterschied zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen, stieg am Donnerstag im Zusammenhang mit Draghis Rücktrittsankündigung auf über 220 Punkte (Öffnet in neuem Fenster), Anfang April hatte der Wert noch unter 100 gelegen. 

Das heißt, dass Italien auf neu ausgegebene Anleihen an seine Gläubiger mit Stand Donnerstagabend 2,2 Prozentpunkte mehr Zinsen zahlt als Deutschland – was angesichts der hohen italienischen Staatsverschuldung  eine massive finanzielle Belastung ist. 

Dazu kommt der Umgang mit der schweren Dürre im Norden Italiens – die die Trinkwasserversorgung in etlichen Gemeinden erschwert und Bauern ihre Existenz kosten könnte.

https://www.youtube.com/watch?v=OAMvfterWnM (Öffnet in neuem Fenster)

Es gab in der Geschichte der italienische Republik selten so schlechte Zeitpunkte für eine Regierungskrise.

Sebastian Heinrich

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