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Mensile: 482 – Italiens Sprachminderheiten und ihre Schutzmächte  

1983 hat sie sogar der Papst gewürdigt.

Johannes Paul II. besuchte im März 1983, vor ziemlich genau 40 Jahren, die Kleinstadt Termoli an der Adriaküste von Molise. 

Nach seiner Ankunft  mit dem Helikopter in dieser kleinsten und bis heute verkehrstechnisch schwach erschlossenen kleinsten Region Süditaliens grüßte das polnische Oberhaupt der Katholiken die örtlichen Würdenträger. Er rief dazu auf, den wirtschaftlichen Rückstand des Südens aufzuholen. Und er sagte (Öffnet in neuem Fenster): "Noch heute leben hier drei slawische Gemeinschaften, die ich (...) herzlich grüße."

Diese slawischen Gemeinschaften sind die Molisekroaten. 

Die Molisekroaten sind die Angehörigen der wohl kleinsten anerkannten Sprachminderheit Italiens. Es dürften heute kaum mehr als ein paar Tausend Menschen sein, die in den drei von Johannes Paul II. kleinen Gemeinden diese auch Moliseslawisch genannte Sprache beherrschen. 

Die Moliseslawen sind eine besonders spannende unter den insgesamt zwölf Sprachminderheiten, die der italienische Staat heute anerkennt und schützt. Um diese Minderheiten, auf Italienisch minoranze linguistiche, dreht sich die aktuelle Folge von Kurz gesagt: Italien. 

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/9-482 (Öffnet in neuem Fenster)

Besonders spannend sind die Molisekroaten erstens, weil sie eine so kleine – oder, genauer gesagt, dramatisch zusammengeschrumpfte Sprachminderheit sind: Dem (in meiner Podcast-Episode viel zitierten) Sprachwissenschaftler und Minderheitensprachenforscher Fiorenzo Toso zufolge siedelten sich slawischsprachige Flüchtlinge im 15. und 16. Jahrhundert in einer Reihe von Orten mehr oder weniger nahe an der Adriaküste nieder, von der mittelitalienischen Region Marken bis nach Apulien. Noch im 19. Jahrhundert hätten in den Regionen Abruzzen und Molise etwa 20.000 Menschen die heute Molisekroatisch genannte Sprache gesprochen. 

Heute ist Molisekroatisch – das mit seiner süditalienischen Melodie und seinem zugleich unverkennbar slawischen Wortschatz faszinierend klingt – vom Aussterben bedroht. Unter anderem, weil die drei heutigen Heimatgemeinden ihrer Sprecher unter einer ähnlich massiven Abwanderung leiden wie viele süditalienische Ortschaften. 

https://www.youtube.com/watch?v=rQmERHxxwnk (Öffnet in neuem Fenster)

 Der damals 80-jährige Gino aus Acquaviva Collecroce/Kruč spricht in einem YouTube-Video aus dem Jahr 2015 Molisekroatisch 

Zweitens sind die Molisekroaten aber auch deshalb eine besonders spannend Sprachminderheit, weil sie Teil eines Trends sind, der mir bei der Recherche zu dieser Episode von Kurz gesagt: Italien aufgefallen ist: Mindestens drei der zwölf anerkannten  Sprachminderheiten in Italien verbünden sich in jüngerer Zeit verstärkt mit ausländischen Schutzmächten.

In ihrem Kampf um Anerkennung durch den italienischen Staat, um öffentliche Wahrnehmung und – zumindest teilweise – um das Überleben ihrer Sprache bei jüngeren Generationen bekommen diese Gemeinschaften also verstärkt Unterstützung durch außen: durch einen Staat oder eine Region, in dem ihre Minderheitensprache die Mehrheitssprache ist. 

Sie folgen damit dem Beispiel von heute in Italien besonders stark geschützten Sprachgruppen: den deutschsprachigen Südtirolern, zu deren Schutz sich die Republik Österreich schon 1946 mit dem österreichisch-italienischen Pariser Vertrag verpflichtet hat (Öffnet in neuem Fenster); oder den Slowenischsprachigen im Nordosten des Landes, zu deren Schutz ab den 1950er Jahren internationale Abkommen Italiens unter anderem mit dem damaligen Jugoslawien (Öffnet in neuem Fenster) beigetragen haben.  

Die Sprachgruppen, die solchen internationalen Schutz genießen, genießen seit Jahrzehnten Rechte, von denen andere Minderheiten in Italien nur träumen können: auf Schulunterricht in der Muttersprache, auf Programmanteile in ihrer Sprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auf die Förderung von Kulturprogrammen und den internationalen Austausch mit anderen Sprechern. 

Das Beispiel der Slowenischsprachigen, der deutschprachigen (und mit ihnen der ladinischsprachigen) Südtiroler, aber auch der Französischsprachigen im Aostatal zeigt anderen Sprachgruppen: Wer eine ausländische Schutzmacht hat, steht besser da als andere. 

Die Molisekroaten und Kroatien

Für die Molisekroaten bietet sich als sprachliche Schutzmacht naheliegenderweise die Republik Kroatien an. 

Hohe Vertreter aus dem Land, das sich 1991 als vom großen Jugoslawien unabhängig erklärte,  haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die molisekroatischen Orte in Molise besucht. Die katholische kroatische Nachrichtenagentur IKA schreibt (Öffnet in neuem Fenster) von ersten Besuchen kroatischer Erzbischöfe in den drei Gemeinden schon in den 1980er Jahren, noch zu jugoslawischen Zeiten. In den 1990er Jahren, nach der kroatischen Unabhängigkeit, suchten dann Vertreter der Molisekroaten verstärkt die Verbindung nach Zagreb – und umgekehrt. 

2009 besuchte mit Stjepan Mesić erstmals ein kroatischer Präsident die Molisekroaten (Öffnet in neuem Fenster) – und schloss mit der Regierung der Region Molise Abkommen über die Förderung der Minderheitensprache im öffentlichen Leben ab. 

2018  besuchte seine Nachfolgerin Kolinda Grabar-Kitarović Acquaviva Collecroce/Kruč – und erklärte vor Reportern, die molisekroatischen Gemeinden seien "sehr wichtig" für ihr Land.

https://youtu.be/2fSLZnzbQ-M?t=37 (Öffnet in neuem Fenster)

Das englischsprachige kroatische Nachrichtenportal Total Croatia zitierte (Öffnet in neuem Fenster) aus einer von Grabar-Kitarović unter kroatischen und italienischen Flaggen gehaltenen Rede folgende Worte:

"Es liegt in der Verantwortung von uns allen, insbesondere des kroatischen Staates und seiner Führung, dafür zu sorgen, dass die kroatische Sprache den jüngeren Generationen in Molise und anderen Gebieten Italiens, in denen Kroaten leben, vermittelt wird".

Der kroatische Staat vertritt seine Schutzmachtfunktion also inzwischen ziemlich deutlich wahrnehmbar. Kroatien sei die "zweite Heimat" der Molisekroaten, erklärte die Präsidentin bei ihrem Besuch.

Staatliche Vertreter Italiens begrüßen diesen Einsatz der Führung in Zagreb für die Molisekroaten offiziell, das betont gerade die Region Molise in ihren offiziellen Erklärungen zu den Besuchen kroatischer Vertreter. 

Andererseits war es dem Präsidenten der Region Molise, Donato Toma von der rechtskonservativen Forza Italia,  2018 am Rande von Grabar-Kitarović' Besuch offensichtlich aber auch ein Bedürfnis, zu betonen (Öffnet in neuem Fenster), die molisekroatischen Gemeinden hätten bei all ihrer Besonderheit eine "italienische Kultur" und ein "cuore italianissimo", ein "zutiefst italienisches Herz".

Teilweise Recht haben wohl beide, die kroatischen Präsidentin wie der italienische Regionalpräsident:  Die Verbindung zum anderen Ufer der Adria  ist zumindest für einen Teil der Molisekroaten in jüngerer Vergangenheit bedeutend geworden, die gegenseitige Vernetzung ist dank der Digitalisierung so einfach wie nie zuvor. Aber Molisekroatisch ist heute,  Jahrhunderte nach der Auswanderung der Vorfahren der heutigen Sprecher von der Balkan-Halbinsel, eben auch – wie Sprachwissenschaftler Fiorenzo Toso schreibt –  stark beeinflusst von seiner süditalienischen Umgebung und im 21. Jahrhundert für kroatische Muttersprachler nur noch "einigermaßen verständlich".

Die Algheresi und Katalonien

Auf der zweitgrößten Mittelmeerinsel Sardinien verschaffte sich eine sprachliche Minderheit in Italien im September 2021 einen Tag lang einen besonders prominenten Platz in den internationalen Medien. Carles Puigdemont,  damals von der spanischen Justiz wegen Rebellion und Veruntreuung per Haftbefehl gesuchter katalanischer Separatist, reiste damals auf die Insel. 

Puigdemont wollte an einem Kulturfestival in Alghero teilnehmen – der westsardischen Hafenstadt, in der sich seit Jahrhundert eine katalanische Sprachinsel befindet. Auf dem Weg dorthin wurde Puigdemont festgenommen, tags darauf aber wieder freigelassen. Und nach seiner Freilassung  gingen die Bilder von der Umarmung Puigdemonts mit Algheros Bürgermeister Mario Conocicame um die Welt.

https://www.youtube.com/watch?v=JkMmbdCmyew (Öffnet in neuem Fenster)

Egal, was man vom Vorgehen der separatistischen Bewegung im spanischen Katalonien in den vergangenen Jahren hält, vom Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, (Öffnet in neuem Fenster) von den andauernden Protesten in Barcelona und anderen katalanischen Städten in den Jahren danach und von der teils heftigen bis gewaltsamen Antwort des spanischen Staats darauf: Die Separatisten haben Katalanisch zur bekanntesten Minderheitensprache Europas gemacht. 

Von dieser Bekanntheit profitiert zu einem kleinen Teil auch die westsardische Kleinstadt Alghero, in der im 14. Jahrhundert gezielt katalanischsprachige Menschen angesiedelt wurden – und in der bis heute etwa ein Fünftel der knapp 40.000 Einwohner das Alguerés-Katalanisch beherrscht.

https://youtu.be/yy5W6-i6CSE?t=360 (Öffnet in neuem Fenster)

Eine Bewohnerin Algheros spricht in einem Video zu einem Alguerés-Sprachkurs die für die Stadt typische Variante des Katalanischen 

2022 schloss die Stadt Alghero zum wiederholten Mal ein Abkommen mit Generalitat de Catalunya ab, mit den offiziellen Institutionen der autonomen Gemeinschaft Katalonien in Spanien. 

In der Mitteilung der Stadt Alghero (Öffnet in neuem Fenster) zu diesem Abkommen steht:

"Wir bauen auf der engen Verbundenheit zwischen Alghero und Katalonien auf, um sie zu stärken, aber wir wollen noch weiter gehen: Wir wollen bei neuen Herausforderungen in den Bereichen Handel, Tourismus, Wirtschaft, Kultur, Universitäten und Forschung zusammenarbeiten. Das heute unterzeichnete Abkommen ist ein wichtiger Schritt zur umfassenden Förderung der Beziehungen zwischen zwei Gemeinschaften, die sich lieben, respektieren und einander unterstützen".

Die Arbëresh und Albanien

Wie deutlich andere Sprachminderheiten bisweilen das Vorbild von deutschsprachigen Südtirolern und Slowenischsprachigen vor Augen haben,  zeigt eine Rede, die Alessandro Tocci im April 2022  in der Ortschaft Civita im süditalienischen Kalabrien gehalten hat.

Tocci ist Bürgermeister von Civita – einer der Gemeinden, in denen die vom italienischen Staat anerkannte Minderheitensprache Arbëresh gesprochen wird, eine seit Jahrhunderten in Südtalien verbreitete Variante des Albanischen. Am 19. April 2022 besuchte der damalige Präsident Albaniens, Ilir Meta, Civita. 

Der albanische Präsident Ilir Meta bei seinem Besuch in Civita. Das Foto hat Kurz gesagt: Italien-Abonnentin Susanne Tümpel – die zufällig am selben Tag in Civita war –  freundlicherweise zur Verfügung gestellt 

Bei diesem Besuch dankte Bürgermeister Tocci dem albanischen  Staatsoberhaupt laut der Regionalzeitung Corriere della Calabria (Öffnet in neuem Fenster)  für dessen Besuch, der "sehr wichtig" für die Gemeinschaft der Arbëresh sei. 

Tocci ergänzte, er bitte Meta, sich "beim Außenminister und der italienischen Regierung dafür einzusetzen, dass wir von der italienischen Regierung die lang ersehnte Anerkennung erhalten, auf die wir seit mehr als 500 Jahren warten, nämlich italienische Staatsbürger zu sein, aber auch als Bürger Albaniens anerkannt zu werden".

Und dann formulierte der Bürgermeister seine Forderung an Rom:

"Wir möchten, dass wir den gleichen Schutz erhalten, wie ihn die italienische Regierung der französischsprachigen Bevölkerung des Aostatals und der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols gewährt."

Direkter als so kann man den Wunsch, in der Rangliste der Sprachminderheiten aufzusteigen, nicht ausdrücken. 

A presto,

Sebastian

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