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Die Bücher meines Lebens

Teil 2

Sandberg von Joanna Bator

Ich war sieben Jahre alt, als meine Klassenlehrerin bei der Kontrolle der Anwesenheit meinen Namen aufrief, mich anschaute und fragte, ob ich wisse, dass es eine Stadt in Polen gäbe, die ebenfalls Poznań heißt. Dass mir diese Frage noch oft im Leben begegnen würde, wusste ich damals nicht. Denn wenn es etwas gibt, dass ich beim Kennenlernen gefragt werde, genauso wie am Flughafen, beim Hotel-Check-in oder der BVG-Kontrolle, beinahe jeder möchte wissen, ob ich mir dieses Zufalls bewusst bin. 

Das Bedürfnis, mich mit meinem Namen und meinen Wurzeln auseinanderzusetzen, kam erst spät auf. Immer mal wieder richtete sich mein Blick auf das Nachbarland, erst aber die Literatur weckte mein wahres Interesse für die Vergangenheit. Vor zehn Jahren etwa stieß ich auf Sandberg, geschrieben von der polnischen Schriftstellerin Joanna Bator. Ein Gesellschaftsroman, der in einer polnischen Kleinstadt spielt.

„Unter dem Boden von Wałbrzych ist Kohle“, heißt es im ersten Satz, „und obendrauf Sand, und Menschen, die es aus der weiten Welt hierher, an die Stelle der Vertriebenen verschlagen hat.“

Wie ein Schleier legt sich die kalte Oktoberluft um die Stadt Wrocław, die 352 km südwestlich der Hauptstadt Polens liegt. An einem Morgen 2015 dreht der Wind die Blätter wie ein Uhrwerk seine Zeit. Die Altstadt mit ihren Kopfsteinpfastern, ihren bunten Fassaden und barocken Plätzen ist anmutig schön, ich plumpse direkt hinein. Ich genieße die Kulisse, trotte ziellos durch die Straßen, überquere den Rathausplatz und gehe zum Markt. Abends in der Pension bin ich völlig erschöpft. Die Einrichtung ist bescheiden. Holzbett. Tapete. Spiegel. Ich bin so müde vom Tag, dass meine Augen beim Durchsuchen des Zimmers zufallen und sie sich erst wieder öffnen, als mein Handywecker am nächsten Morgen klingelt.

Zwischen Wrocław und Wałbrzych liegen 64 km, was mit dem Zug 1 Stunde und 28 Minuten dauert. Pünktlich auf die Minute erreicht der Zug die Station Wałbrzych Główny, einen Ort, an dem ich erst mal nichts erkenne, was einer Stadt gleichkäme. Der Bahnhof ist vergessen leer und baufällig, um mich herum nur Gleise und ein paar geparkte Autos. Ich fange an mit mir zu verhandeln, ob ich gleich auf den nächsten Zug zurück warten soll oder das Risiko auf mich nehme, allein meinen Weg in die Altstadt zu finden. Ich laufe los.

Nach ein paar Minituen erblicke ich die ersten Häuser. Es regnet. Schon wieder beeindruckt von den alten Fassaden, nehme ich den Omnibus 6 zum Marktplatz. Ich staune, dass sich wie in Wrocław die Häuser ebenfalls schön aneinanderreihen, generell jedes Fenster zu seiner Tür passt. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Springbrunnen, der trotz des Regens unermüdlich von Tauben belagert wird. Ich laufe in den nächstgelegenen Laden und frage unbeholfen nach der „Tourystika Informatyoni“. Ob das Polnisch ist, weiß ich nicht, aber ich hoffe, dass man versteht, was ich meine. War es in Wrocław schon schwer gewesen, Menschen zu finden, die Englisch sprechen, scheint es hier ganz und gar ein aussichtsloses Unterfangen. Stattdessen lassen sich aber eine Menge Einwohner mit einer anderen Sprache neben der polnischen finden. Nämlich Deutsch. Und so treffe ich auf drei schwatzende Damen, von denen eine auf meine Frage mit „Mein Kind, du kannst Deutsch mit mir sprechen“, antwortet.

Gerda formt ihren Mund zu einem Lächeln. Ihre kurzen Haare sind Kastanienrot getönt, doch verraten die Falten in ihrem Gesicht in etwa ihr Alter. Es sind weiche Gesichtszüge mit freundlichen Augen und einer schmalen Nase. Ihr wuchtiger Hintern marschiert auf mich zu. Gerda packt mich am Arm und zieht mich aus dem Laden. Wir laufen ein Stück die Ul. Gdańska herunter, vorbei an den kleinen Läden mit dem Marktplatz im Rücken. Wir spazieren einen großen Bogen. Nach ein paar Minuten stellen wir uns einander richtig vor. »Judith«, sage ich »Judith Poznan«.

Es kommt, wie es kommen muss. Gerda blickt mich prüfend an. „Wusstest du, dass es eine Stadt in Polen gibt, die Poznań heißt?“ – „Jap, das weiß ich“, sage ich und füge, anders als sonst, noch hinzu: „Mein Name wird allerdings ohne den Akzent über dem N geschrieben. Warum, weiß ich nicht. Das muss wohl irgendjemand mal vergessen haben.“ Gerda überlegt kurz. Dann sagt sie: „Früher hieß Poznań Posen. Verrückt diese Menschen.“ Dem kann ich absolut nichts mehr hinzufügen.

Die Zeit mit Gerda vergeht schnell, denn sie ist sehr redselig. Ich mag ihr Deutsch mit dem polnischen Akzent, die Art, wie sie sich flink bewegt und ihren stolzen Blick, der sich stets nach oben gerichtet hält. Sie erzählt mir, dass sie eine Schwester in Paderborn hat, sie selbst aber nie auf die Idee kam, nach Deutschland zu gehen. Ihr Vater hatte damals kurz nach dem Krieg ein Haus gekauft und eine Bäckerei eröffnet. Ich vermute, dass Gerda zu einer der Familien gehörte, die nach sowjetischem Recht aus wirtschaftlich wichtigen Gründen bleiben durften. Eine Ausnahmereglung, die in Kraft trat und alle Deutschen innerhalb kürzester Zeit zu Polen machte. Gerda wurde 1944 geboren, jenem Jahr, in dem die Vertreibung der Deutschen aus den ehemals besetzten Gebieten begann. Millionen Deutsche wurden des Landes verwiesen, während andere Millionen Polen aus dem ehemaligen Ostpolen an der ukrainischen und weißrussischen Grenze von der Sowjetunion in das neu angeschlossene Polen umsiedelten. Oft kann ich mir solche Zahlen überhaupt nicht klarmachen, weshalb ich immer an kleine Schachfiguren auf einem Spielbrett denke, die einfach Zug um Zug von einer Hand immer weitergeschoben werden, so lange bis einer gewinnt. Manchmal glaube ich, die ganze Welt spielt Schach.

Die ehemalige Bergbaustadt Waldenburg in Niederschlesien gehörte bis zum Kriegsende zu Deutschland und wurde ab dann nur noch unter dem Namen Wałbrzych verzeichnet. Hier setzt auch der Roman von Joanna Bator ein, der eigentliche Grund für meine Reise. Ich möchte meine Bachelorarbeit über den Roman schreiben. Über den Begriff von Heimat, der darin eine wichtige Rolle spielt. Manchmal nämlich muss man seinen Schreibtisch verlassen, um die Wirklichkeit besser betrachten zu können, sich an Orte begeben, die einen Dinge besser verstehen lassen. Über Seiten beschreibt Bator, die selbst aus Wałbrzych stammt, in ihrem Buch, wie die Deutschen alles haben stehen und liegen lassen, wie die Straßenschilder ausgetauscht wurden und mit ihnen ein Stück Identität. Ich versuche mir den Moment dazwischen vorzustellen. Ich sehe eine Geisterstadt vor mir mit den hübschen Häusern, in denen keiner wohnt, den kleinen engen Straßen, durch die niemand läuft. Bator zeigt die Perspektive der Polen, die dort ankommen und plötzlich von deutschen Tellern essen, in deutschen Betten schlafen, beschreibt, wie man aus deutschen Gardinen polnische Hochzeitskleider macht.

Der Roman erzählt von der Geschichte dreier Frauen, die in Wałbrzych leben. Großmutter Zofia, Mutter Jadzia und Tochter Dominika.

Die Geschichte meiner Familien gleicht der vieler anderer und besonders darin, dass ich nur wenig über das Einzelschicksal meiner Groß- und Urgroßeltern weiß. Ich erinnere mich, dass mein Großvater immer irgendetwas von einem Stück Wald faselte, dass er eines Tages nach drüben fahren wollte, um einzufordern, was rechtmäßig ihm gehöre. In meiner Erinnerung als Kind hatte mein Großvater nie viel übrig für die Polen. Ein Groll, den ich mir damals nicht erklären konnte, nach dessen Ursprung ich mich nicht zu fragen getraut habe. Irgendwann im Laufe der Jahre legte sich sein Groll. Polnische Salami wurde gern gegessen, man fuhr regelmäßig von Berlin über die Grenze nach Polen Zigaretten kaufen oder ließ sich das Auto voll auftanken. Viel haben meine Großeltern über die Vergangenheit nicht gesprochen, gefragt habe ich nie. Jetzt, wo ich all das wissen möchte, ist es zu spät.

Bei dem Wort Nationalsozialismus schafft es Gerda immer wieder gekonnt auszuweichen. Nichts aus ihrer Erzählung deutet darauf hin, dass die Nachkriegsjahre eine harte Zeit gewesen waren. Gerda hat sich ihre Erinnerung, so wie viele andere auch, aufgehübscht. Aber soll sie sich doch erinnern, woran sie möchte, mir würde es im Traum nicht einfallen, sie in ihrer Erzählung zu unterbrechen. Trotzdem platziere ich die Worte Flucht und Vertreibung, nur um zu schauen, wie ihre Reaktion ist. Vor dem Büro der Touristeninformation angekommen, gleich neben der Bibliothek, verabschiede ich mich herzlich von Gerda, bedanke mich für den kleinen Spaziergang und beobachte ihren schnellen Gang, bis sie durch die Tür geht.

Ich verlasse die Altstadt und steige in den Bus A, der entlang der Wrocławska minutenlang geradeaus fährt. Eben noch in der edlen Altstadt, öffnet sich aus dem Busfenster schauend links und rechts von mir eine ganz andere Welt. Plattenbauten, nichts als Plattenbauten. Die Wohnsiedlung Piaskowa Góra, gebaut in den 1960er Jahren, liegt auf einem Hügel am Rande der Stadt. Als die Siedlung neu errichtet wurde, galt es als en vogue hier einzuziehen. Von dieser Zeit erzählt Bator auch. Detailgetreu spiegelt sie das Leben ihrer fiktiven Figuren, die auf 40 qm nicht viel haben, aber groß träumen. Viele, die hier früher lebten, wurden vertrieben, mussten für sich und ihre Familien ein neues Zuhause schaffen. Was für die Großeltern Erinnerung war, muss die dritte Generation um Dominika selbst rekonstruieren. Schwer wiegen die Altlasten auf den Schultern der vergewaltigten Großmutter, die nicht weiß, wie sie ihre Tochter lieben kann und erst mit der Enkelin alle stillgelegten Gefühle zum Vorschein bringt. Die Mutter Jadzia, die vom fernen Westen träumt, sich regelmäßig Föten aus dem Unterleib schaben lässt, sich nicht erklären kann, warum ihre Tochter Dominika so anders ist. Die durchschaut nämlich das Leben ihrer Eltern, ihrer Nachbarn. In die weite Welt möchte sie hinaus. Mit ihr ein neuer Anfang. Für Bator kann jeder selbst entscheiden, wie viel Bedeutung man den Teilelementen der eigenen Wurzeln beimisst. Die Schmerzen der Vergangenheit, das Trauma einer ganzen Gesellschaft, die Hoffnung auf ein besseres Leben, das alles zieht sich im Roman über mehrere Stockwerke hindurch.

Ich stehe vor einem riesigen rosa Wohnblock, zähle die Fenster, wie sie wabenartig jeweils 11 Geschosse nach oben reichen. Die 198 Fenster werden vom Regen berieselt, dessen Tropfen an dem Glas abperlen und nach unten laufen. Ein Gefühl der Wehmut überkommt mich. Ich denke an Gerda und meinen Großvater. Ich denke an die Vergangenheit, die wie ein schwarzer Schatten mich mit jedem Schritt begleitet. Zwar kenne ich die Plattenbauten in Marzahn und Hohenschönhausen schon deswegen, weil ich selbst die ersten Jahre meines Lebens dort verbracht habe, aber Zeit einmal genauer hinzuschauen, habe ich mir genommen. Die Wehmut schlägt um in Wut, ich weiß gar nicht woher sie kommt.

Der Regen wird heftiger. Ich laufe ein Stück die Ul. Janusza Kusocińskiego herunter, biege rechts in die Ludwika Hirszfelda und halte vor einem kleinen Café an. Draußen vor der Tür stehen Männer und betrinken sich genauso, wie Bator es beschrieben hat. Hier regiert Gleiches. Die Tristesse, sie muss weggetrunken werden.

Mein Weg führt mich weiter hoch zum nördlichen Rand des Berges, an dem ein großes Kaufland-Schild prangt. Ich blicke vom Berg Richtung Westen. Irgendwo da, ganz weit hinten, ist die Grenze zu Deutschland. Was für ein Unterschied zwischen dem Punkt, an dem ich stehe und der anderen Seite, auf der alles besser ist. Zwei Welten und doch ist die Luft, die vom Wind getragen wird, eigentlich dieselbe. Ich atme tief ein. Nach ein paar Stunden gewöhne ich mich an die Umgebung. Die Schönheit des Augenblicks liegt im Betrachter und so kann ich tatsächlich dem wilden Treiben zwischen all den hohen, bunten Häusern etwas abgewinnen. New York, denke ich, muss sich in etwa auch so anfühlen.

Anderthalb Stunden später bin ich zurück in Wrocław. Eiligen Schrittes suche ich die Bahnhofsbuchhandlung auf. Ich möchte mir die polnische Ausgabe von Bators Buch kaufen, bevor der Bus mich um 19:30 Uhr zurück nach Berlin fährt. Nicht, dass ich das Buch jemals lesen könnte, aber ich möchte es besitzen. Zu meiner Überraschung haben sie Piaskowa Góratatsächlich vorrätig, für 27,93 Złoty. Die junge Kassiererin, die ausgezeichnet Deutsch spricht, nimmt freundlich meine Kreditkarte entgegen, ich ahne es, ihr Blick bleibt kurz bei meinem Namen stehen. Komm schon, denke ich, frag mich nach meinem Namen. Die Frau öffnet ihren Mund. Sie sagt: »Oh, Poznan!« Ich denke: Ja, schieß los. Ihr Mund breitet sich zu einem Lächeln. „Wusstest du, dass der Großvater von Angela Merkel aus Poznań stammt?“

Ich bin sprachlos. Nein, das wusste ich nicht.

Anmerkung der Redaktion: Joanna Bator: Sandberg, Suhrkamp Verlag, aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Suhrkamp Verlag, 2011, 480 Seiten, 12,00 Euro

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