Mit Argusaugen
Es ist Samstagmorgen in der Barockabteilung des Kölner Wallraf-Richartz-Museums. Ich stehe so dicht an Juno und Argus von Peter Paul Rubens, dass ich darauf vorbereitet bin, jeden Moment das Schrillen des Warntons zu hören, der mir, den wenigen Besucher:innen und der Museumswärterin anzeigt, dass ich dem Gemälde zu nahe gekommen bin. Aus dieser Entfernung sehe ich nichts vom Motiv, aber ich sehe Falten im Gewebe, feine Risse in der Farbe und Macken. Was von Weitem bloß Fläche ist, zeigt nun ein Leben, die Spuren der Jahrhunderte. Das Bild soll um 1610 (vor 415 Jahren!) entstanden sein. In welchem Zustand erwarben es die Kölner Kunstfreunde 1894 für das Museum? Wie oft standen Besucher:innen vor einer leeren Wand, weil das Gemälde restauriert wurde?

Köln, Januar 2025 © Kristina Klecko
Ein älterer Mann und eine junge Frau betreten den Raum. Sie unterhalten sich leise, unten links sehe man Engel oder Kinder, sagt der Mann. Es seien Putten, antwortet die Frau und ich weiß, dass sie recht hat, weil ich es gerade in der Bildbeschreibung bei Wikipedia nachgelesen habe. Putten, recherchiere ich später, sind männliche Babys oder Kleinkinder, die mit oder ohne Flügel und (fast) nackt dargestellt werden. In der klassischen römischen Mythologie symbolisierten Putten Liebe und Leidenschaft, etwa Amor als liebesbringender Gott. Im Mittelalter wurden spirituelle Wesen, Engel, die zwischen den Menschen und Gott vermitteln, populärer. Sie wurden sowohl als Kinder als auch als Erwachsene, geschlechtslos und immer bekleidet dargestellt.
Man sieht weniger, wenn man nicht weiß, was man sich ansieht, und riskiert, das Abgebildete falsch zu deuten. Auf dem riesigen Gemälde Juno und Argus sieht man zwei Frauen, die Augen aus dem Kopf eines Mannes lösen, dessen Körper ihnen zu Füßen liegt. Man könnte die beiden Frauen für blutrünstige Weiber halten, die Xanthippen, die Furien der Weltgeschichte. Die, die betrogen, entrechtet und eingekerkert wurden, und nun Rache nehmen. Verständlich, aber doch nie Sympathieträgerinnen.
Bilder sind das Ergebnis von Auswahl. Wer oder was wird wie von wem zu welchem Zweck dargestellt?
Der antike römische Dichter Ovid, 43 vor Christus geboren, erzählte die Geschichte hinter dem Bildmotiv in seinen Metamorphosen so: Die römische Göttin Juno erwischt ihren Mann Jupiter beinahe (und zum wiederholten Mal) bei Ehebruch. Jupiter verwandelt seine Geliebte Io in eine Kuh, aber Juno lässt sich nicht täuschen und möchte die Kuh als Geschenk haben. (Es ist unklar, ob man wirklich von „Geliebter“ sprechen kann, denn Ovid legt nahe, dass es sich bei der „Verführung“ um ein Gewaltverbrechen handelte.) Damit seine Lüge nicht auffliegt, gibt Jupiter nach und Juno lässt Io, die Kuh, vom hundertäugigen Argus bewachen. Nach einer Weile trägt Jupiter dem Gott Merkur an, Argus (und seine hundert Augen) mit seinem Flötenspiel in den Schlaf zu wiegen, und ihm den Kopf abzuschlagen. Als Juno Argus‘ Leichnam findet, entnimmt sie die Augen aus seinem Kopf und setzt diese ins Gefieder der Pfaue ein. (Danach rächt sie sich allerdings doch noch an Io – nicht an Jupiter –, was aus meiner Sicht einer feministischen Korrektur bedarf.)
Im Museumsshop erwerbe ich eine Postkarte des Gemäldes. Nicht wegen der Putten oder Argus, sondern wegen Juno. Seit ich gelesen habe, dass Juno als weibliche Entsprechung des Genius gilt, sich diese Bedeutung im Patriarchat aber nicht durchgesetzt hat, weil wir uns unter Genies nur Männer vorstellen können, ist sie meine Lieblingsgöttin der antiken Mythologie. Hast du auch eine?
Vielen Dank, dass du mitliest und bis in zwei Wochen.
Kristina
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Piratensender Powerplay: True Crime Folge zum “Heizhammer” und die Frage: Wie konnte denn das eskalieren? 🔗 zur Folge (Öffnet in neuem Fenster)
Eine ausführliche Besprechung des Bildes Juno und Argus gibt es in einem Video mit dem Kunsthistoriker und Direktor des WRM Marcus Dekiert:
https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/kunstgeschichten_peterpaulrubens (Öffnet in neuem Fenster)…Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion, heute Russland, geboren, seit 1997 in Deutschland, seit 2006 in Köln. Nach Stationen in Literaturvermittlung und der Nachhaltigkeitsbranche, bin ich seit 2024 freiberufliche Autorin, Texterin und Schreibdozentin.
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