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Gelöscht wie geschrieben

Am Abend des 19. Februar schaue ich mal wieder eine Folge der Serie Friends. Rachel will ihrem Schwarm Joshua ihre Gefühle gestehen, indem sie ihm heimlich eine Notiz in die Jackentasche steckt. Die Notiz zu schreiben, fällt ihr schwer. Sie verwirft mehrere Entwürfe, gibt das Ergebnis Chandler zu lesen, der sie fragt, was sie weggeworfen habe, wenn das das Beste ist, was sie hinbekommen hat.

Diese Szene fällt mir wieder ein, als ich ein paar Stunden später durch Krach auf der Straße geweckt werde und nicht mehr einschlafen kann. In kaum 24 Stunden möchte ich das nächste Mailing veröffentlichen – und habe nichts. Normalerweise entstehen die Texte für „Was mache ich denn da?“ in ihrer ersten Fassung spätestens am Dienstag nach dem Erscheinen des letzten Essays. Ich nehme, was ich in meinen Schreibkursen sage, ernst: Ein Text muss liegen. Nach 25 veröffentlichten Beiträgen, das hier ist Nr. 26, habe ich eigentlich Vertrauen, dass irgendetwas doch noch gelingt. Im Zweifel kann ich wie Rachel das Letztbeste als fertig deklarieren. Doch wenn zwei Tage vor geplanter Veröffentlichung nichts gut genug erscheint, raubt es mir trotzdem den Schlaf.

Köln, Oktober 2020 © Kristina Klecko

Es ist nicht so, dass gar nichts entstanden ist, eher fühle ich mich wie Musiker Oxxxymiron, der in einem Song rappt, er habe mehr gelöscht als John Grisham geschrieben hätte. (John Grisham veröffentlichte im Laufe seiner Karriere über 40 Bücher, geschrieben hat er vermutlich einige mehr, so viel war es bei mir natürlich doch nicht, bei Oxxxymiron wahrscheinlich auch nicht – wir übertreiben für die Dramatik.)

Vielleicht sind mir auch die Texte von Autor:innen in den Kopf gestiegen, die sich fragen, ob ihre Arbeit angesichts der kleinen und großen Krisen der Welt überhaupt noch wichtig ist. Es schadet nicht, die eigene Bedeutung für die Gesellschaft ab und an zu evaluieren, doch zum einen haben spätestens mit der Pandemie die meisten Menschen ihren Platz auf der Relevanzskala recht genau aufgezeigt bekommen, zum anderen haben wir gesehen, dass eine Welt, in der nur vorkommt, was fürs Überleben relevant ist, auf Dauer nicht schön ist.

Was ich in den letzten zwei Wochen metaphorisch gelöscht habe:

#1: Einen Text über das Schreiben von Essays, der wie folgt begonnen hätte: Wer in Suchmaschinen „Essay schreiben“ eintippt, bekommt Tipps zur Erstellung von (wissenschaftlichen) Abhandlungen, die für das Schreiben literarischer Essays weitestgehend ungeeignet sind. Schön heißt es immerhin in einem Video von Studyflix,* der Essay sei ein „Spaziergang durch deine eigenen Gedanken“.

#2: Einen Text, in dem ich erkläre, warum der Essay Welches „wir“ soll es sein (Öffnet in neuem Fenster) ohne Musiktipp erschienen ist, mit folgendem Absatz: Ich konnte mich bis zuletzt nicht für ein Lied entscheiden. Einerseits hätte es gepasst, etwas Russisches auszuwählen, das Lied aus dem Theaterstück vielleicht, andererseits hallte in mir eine Instagram-Story nach, die einen Zusammenhang zwischen Streaminggeldern, Steuereinnamen und Kriegsfinanzierung herstellte. Doch vor allem hatte das Lied keinerlei Bedeutung mehr für mich. Es wäre eine lauwarme Gelegenheit gewesen, meiner Teenage-Melancholie zu frönen – und dafür wollte ich in der Tat nicht riskieren, falsche Signale zu senden.

#3. Einen Text über Anstand, in dem ich, und ich weiß selbst nicht mehr in welchem Zusammenhang, das Zitat der Journalistin Nicole Diekmann verarbeiten wollte:

„Ich kann diese betüddelnd vorgetragenen „So lernen Sie, Nein zu sagen“-Arien nicht mehr hören. Es geht darum, auszuhalten, nicht 24 Stunden am Tag von ALLEN gemocht zu werden. Wenn man aber ständig wie ein rohes Ei behandelt werden will, muss man sich halt entscheiden. Beides geht nicht.“ Nicole Diekmann auf Bluesky (Öffnet in neuem Fenster)

Nebenbei habe ich an einem Text gearbeitet, den ich in neu entflammter Verehrung für Ingeborg Bachmann mit „Injektionen von Wirklichkeit“ betiteln wollte. Diesen Text habe ich nicht gelöscht, doch der muss auf jeden Fall noch liegen.

Liebe Grüße und bis in zwei Wochen!

Kristina

PS: Die Erstfassung dieses Textes ist um vier Uhr morgens am 20. Februar entstanden. Es stimmt also, es entsteht immer etwas. Happy 26. Ausgabe 🍾 Danke, dass du dabei bist!

*Quelle (Öffnet in neuem Fenster) (YouTube)

Was andere machen

Musik für bessere Laune:

https://www.youtube.com/watch?v=V9oPTAUYv2w (Öffnet in neuem Fenster)

Kurzdoku für differenziertere Kulturdebatten:

https://www.youtube.com/watch?v=58Txl-T5Lzs (Öffnet in neuem Fenster)

Serie für spannende Fernsehabende:

https://www.zdf.de/serien/sloborn (Öffnet in neuem Fenster)
Hier schreibt

…Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion, heute Russland, geboren, seit 1997 in Deutschland, seit 2006 in Köln. Nach Stationen in Literaturvermittlung und der Nachhaltigkeitsbranche, bin ich seit 2024 freiberufliche Autorin, Texterin und Schreibdozentin.

Weitere Infos zu mir, meinen Texten und Schreibkursen findest du unter 🔗 www.kristina-klecko.de (Öffnet in neuem Fenster).

In diesem Mailing veröffentliche ich alle 14 Tage, jeweils am Freitag, kurze Essays über das Lesen, das Schreiben und das Leben drum herum. Immer am ersten eines Monats gibt es zudem einen Beitrag in der Mitgliedsrubrik 🔗 Romansuche (Öffnet in neuem Fenster) – über Fortschritte und Rückschläge auf der Weg zu meinem Debütroman. Die Mailingtexte sind kostenlos, wenn du mit einer Mitgliedschaft meine Arbeit unterstützt, freue ich mich natürlich sehr.

Archivblick

🔗 Die Erinnerung, die nicht spricht (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Warum schreiben? (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Empört euch nicht mehr (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Essays

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