Die Erinnerung, die nicht spricht
„Glaubst du, dass ich mich zu stark mit der Geschichte, nein, dem Leid meiner Großeltern identifiziere?“ Judith Fanto, Viktor
Ich setze mehrmals an. Ich wusste, es wird schwer. Ich habe mir einen neuen Füllfederhalter gekauft. Nein, nicht dafür, ich brauche keinen Grund, um ein Schreibgerät zu kaufen. Doch ich wusste, es wird ein Füllfederhalter-Text. So nennt Sängerin Taylor Swift Songtexte, die „beängstigend ehrlich“* sind – oder es zu sein vorgeben?
Es ist normal, sich beim Schreiben zu fragen, ob etwas zu ehrlich ist. Zu viel verrät – über sich und andere. Das literarische Schreiben verwebt Realität und Fiktion so, dass im besten Fall niemand erkennt, wo die Grenze verläuft. Vielleicht gibt es keine Grenze. Das Uneindeutige und gleichzeitig Schöne beim Schreiben ist: ich kann „ich“ schreiben, ohne mich zu meinen, und ich kann mich hinter einem „sie“ verstecken, oder „er“.
„(…) ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt.“ Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein
Schreiben im Café in Köln, 2024 © Kristina Klecko
Versuchen wir ein „sie“.
Die Frauen treffen sich am Brunnen, der so lange trocken ist, dass niemand weiß, ob es dort jemals Wasser gegeben hat. Sie bilden, sitzend und stehend, je nach Erschöpfungsgrad, einen unsauberen Kreis. Sie erzählen sich ihre Familiengeschichten. Jede hat ihr Päckchen zu tragen, denkt sie, sagt jedoch nichts, weil die Einzelteile ihres Päckchens noch ungeordnet verstreut sind. Was erzählen? Wie erzählen?
Ein paar Monate später hat sie alles, was zum Päckchen gehört und sich in ihrem Besitz befindet, zusammengetragen und in Häufchen gelegt. Sie denkt, damit kann man was machen, aber warum hat es so lange gedauert?
Am 28. August 1941 befiehlt der Oberste Sowjet die Umsiedlung der Russlanddeutschen aus der Wolgaregion gen Osten. Nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion ist die deutsche Minderheit im Land verdächtig. Die Menschen werden kollektiv der Spionage und Kollaboration beschuldigt. 2024 erlebt sie den Tag zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst als einen Gedenktag, der an die Ungerechtigkeit erinnert.
Vorher ging es sie nichts an.
In den ersten zehn Jahren ihres Lebens ist sie ein gewöhnliches Kind in Russland. Mit einem ukrainischen Nachnamen allerdings, den die Familie vom Großvater hat und für den es in den 1990er Jahren genug dumme Sprüche auf dem Schulhof gibt. Warum die Eltern „das Andere“ nicht thematisieren, wird deutlich, als der Umzug nach Deutschland nicht mehr verheimlicht werden kann. Plötzlich heißt es auf dem Schulhof: „Geh weg, du gehörst nicht zu uns.“ Sie lächelt drüber weg, versteht es nicht, und es spielt bald keine Rolle. Neues Land, neue Fragen. Sie weiß immer noch nicht, warum sie in Deutschland sein darf.
Bei Familienfeiern ist immer wieder von Umzügen der Urgroß- und Großeltern die Rede. Irgendjemand musste alles hinter sich lassen, wurde enteignet, zum Arbeiten geschickt. Ein Geburtsort hieß auf einmal anders. Alles lange her und längst nicht mehr wahr…
Als ihr die Erinnerungshäufchen zum ersten Mal auffallen, ist sie in ihren Zwanzigern. Sie hört etwas, sie kauft Bücher, stapelt sie ungelesen in die Regale. Sie bleibt auf Distanz. Wie sehr, merkt sie, als sie andere Menschen kennenlernt, deren Familien „umziehen“ mussten. Diese Menschen betreiben Familienforschung als Hobby und stellen Fragen, die sie nicht beantworten kann. Sie versteht bis heute nicht, warum es sie so lange nicht interessiert hat. Obwohl. Ein bisschen war da die Angst, sich zu sehr auf die Erinnerung einzulassen. Sich etwas anzueignen, das ihr nicht zustand. Die Erinnerung zu missbrauchen. Dann lieber nicht so genau hinsehen, auf keinen Fall berühren.
Heute weiß sie: Hinsehen, interpretieren, missinterpretieren, übertreiben, verwerfen, wieder hinsehen – das alles ist unvermeidlich und gehört dazu.
Das ist das Päckchen.
Vielen Dank, dass du mitliest. Bis in zwei Wochen – dann wieder am Freitag.
Kristina
* Quelle (Öffnet in neuem Fenster)
Was andere machen
In ihrem Nichtwissen ist sie viele.
https://www.youtube.com/watch?v=UxCwFXP8YIA (Öffnet in neuem Fenster)Bücher: Georg Smirnovs Zurichtungen. Gedichte (Link (Öffnet in neuem Fenster)) und Inna Hartwichs Friedas Enkel (Link (Öffnet in neuem Fenster)).
Information: WDR-Stichtag zum Erlass zur Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen (Beitrag (Öffnet in neuem Fenster)) und Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte (Website (Öffnet in neuem Fenster)).
Was noch?
In der Literaturzeitschrift Mosaik43 ist meine Geschichte 100 Meter erschienen, die im ersten Lockdown entstanden ist. > Zeitschrift ansehen (Öffnet in neuem Fenster)
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