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Akzentfrei mit Yoko Tawada

Habe ich geschrieben, dass ich mehr Bücher kaufe, als ich lesen kann? Vielleicht (Öffnet in neuem Fenster). Habe ich dazu noch einen Bibliotheksausweis, weil ich unmöglich alle Bücher kaufen kann, die ich lesen möchte? Definitiv.

Schon als Teenager war es mein Hobby, „in die Bibliothek zu gehen“. Damals gab es kein #bookstagram oder #booktok, die Katalogsuche im klobigen Computer war umständlich. Auf der Suche nach Lesestoff streifte ich durch die Gänge und blieb an schönen Buchrücken stehen. Buchcover können irreführend sein, aber es ist auch nicht realistisch, ein Buch nicht am Cover beurteilen zu wollen. Es ist das Erste, was wir sehen.

Ich kenne großartige Bücher in schrecklichen Umschlägen und mittelmäßige, unbedeutende Bücher, mit wunderschöner Covergestaltung. Wenn Menschen im Verlag (oder an alternativer entsprechender Stelle) ihren Job gut machen, ist das Buchcover ein erstes Versprechen an die Leser:in – neben dem Titel, auf das bisher Gesagte ebenfalls zutrifft. Hier kommt es vor allem bei übersetzten Büchern leider immer wieder zu Störfällen. Nichtsdestotrotz: Bücher danach auszusuchen, ob der Titel und das Cover gefallen, hat mich mehrfach zuverlässig zu guten Büchern und künftigen Lieblingsautor:innen geführt.

Stilleben mit Buch, 2024 © Kristina Klecko

So auch Ende 2023. Durch den Essaykurs von Sophia Hembeck* wurde ich angeregt, mehr Essays zu lesen. Als mein monatliches Buchbudget verbraucht war, fand ich mich vor dem Essayregal der Zentralbibliothek der Stadt Köln wieder. Ich ließ meine Augen wie früher über die Buchrücken wandern. Da war es: Ein schmaler rötlicher Band. Akzentfrei. Von Yoko Tawada. Konkursbuch Verlag. Noch nie gehört.

Die Anziehung eines Buches ist selbstverständlich nicht willkürlich. Meine Entscheidung, zu diesem und nicht zu einem anderen Buch im Regal zu greifen, ergibt sich aus der Summe meiner bisherigen Leseerfahrungen, meiner Interessen, meiner Fragen. Es ist abhängig von meiner Stimmung, vielleicht sogar vom Wochentag oder der Tageszeit. Das Wort „akzentfrei“ rührt an mir. Natürlich.

Ich messe Sprache viel Gewicht bei. Schon immer. Ich möchte mich präzise auszudrücken. Sprache ist kompliziert genug und nicht ohne Grund ein Mittel der Manipulation. Ich wundere mich, wenn Menschen sich weigern, für ihre Sprache Verantwortung zu übernehmen, wenn sie Ungenauigkeiten hinnehmen, sie als Pedanterie verstehen.

Historiker Timothy Snyder zählt in seinem Buch Über Tyrannei zwanzig Lektionen für Widerstand auf. Lektion neun: „Sei freundlich zu unserer Sprache“. Weil es wichtig ist. Weil es Realitäten schafft, lange bevor wir diese in Form von Nachrichten erleben können. Auf die eigene Sprache zu achten, auf das, was man sagt oder wiederholt, ist Gewaltprävention.

Ebenso kann ich es nicht verstehen, warum Menschen über Akzent spotten. Nach englischen Durchsagen in der Bahn lässt es sich immer wieder beobachten. Aber worüber genau wird gelacht? Was vermittelt das Lachen denjenigen, die mit Akzent sprechen?

„Man spricht heutzutage vom ‘Migrationshintergrund’, als wäre etwas Abgründiges grundsätzlich hinter dem Rücken versteckt. Der Akzent ist der Vordergrund der Migration.“ Yoko Tawada, „Akzent“ in akzentfrei

Im Deutschen habe ich keinen Akzent. Das ist Zufall. Angeblich können Menschen eine Fremdsprache akzentfrei erlernen, sofern der Erwerb bis zum elften oder zwölften Lebensjahr beginnt. Ob ich eine Fremdsprache ohne Akzent beherrsche, sagt möglicherweise etwas darüber aus, wann ich angefangen habe, diese zu lernen und wie intensiv ich ihr ausgesetzt war, nicht zwingend, wie sehr ich mich bemüht habe. Interessanterweise hören Menschen bei mir doch einen Akzent heraus, sobald sie erfahren, dass es etwas rauszuhören gibt. Ganz leicht nur, sagen sie dann, bei manchen Wörtern nur. Und tatsächlich. Auch ich höre es dann.

„Gäbe es keinen Akzent mehr, bestünde die Gefahr, dass man schnell vergisst, wie unterschiedlich die Menschen sind.“ Yoko Tawada, „Akzent“ in akzentfrei

In Yoko Tawadas Essayband gibt es auch außerhalb von Sprache viele schöne Gedanken und so freute ich mich, als ich ein paar Monate nach der Lektüre in einem japanischen Buchladen in Düsseldorf einen Roman der Autorin sah. Ich kaufte es, ließ es aber ungelesen im Bücherregal liegen. (Irgendwo habe ich die treffende Aussage gelesen, Bücher zu kaufen und Bücher zu lesen, seien zwei unterschiedliche Hobbys.) Ein paar weitere Wochen später hörte ich im Podcast Fempire der Autorin Rasha Khayat eine Lobeshymne auf Yoko Tawada. Sobald ich die aktuelle Lektüre beendet habe, werde ich mir den Roman vornehmen. Es könnte sich lohnen.

Vielen Dank, dass du mitliest. Bis in zwei Wochen!

Kristina

*Ende September startet die Wiederauflage von Hembecks Online-Kurs “Schreib deinen Essayband in sechs Monaten”, an dem ich damals teilgenommen habe. Möglicherweise sind noch ein paar Plätze frei. > zum Kurs (Öffnet in neuem Fenster)

Gern gelesen?

Vielen Dank, dass du mein Schreiben unterstützt.

Was andere machen

Tschüss, Sommer.

https://www.youtube.com/watch?v=gzI_GrBP2HM (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Interview mit Yoko Tawada, das Einblicke in ihre Denk- und Arbeitsweise gibt:

https://www.youtube.com/watch?v=H21iPL9k1jg (Öffnet in neuem Fenster)

Die Lobeshymne auf Yoko Tawada im Podcast Fempire. > zum Beitrag (Öffnet in neuem Fenster)

Was noch?

In der Literaturzeitschrift Mosaik43 ist meine Geschichte 100 Meter erschienen. > Zeitschrift ansehen (Öffnet in neuem Fenster)

Im Newsletter der queer-feministischen Kunst- und Design-Initiative And She Was Like: BÄM! ist eine gekürzte Version meines Textes “Frauen, die auf Männer starren (Öffnet in neuem Fenster)” erschienen, ohne England und Musik, dafür direkt unter einem Bild von Yoko Ono. > lesen (Öffnet in neuem Fenster)

Letztes Mailing: Die Erinnerung, die nicht spricht

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