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Von Forken und Fackeln: Stinksauer und stolz drauf (Essay)

Homo erectus, Homo sapiens, Homo furiosus. Wir haben offenbar eine neue, problematische Evolutionsstufe erreicht: den Wutbürger. Kulturgeschichte des aufgebrachten Mitmenschen.

Schwer zu sagen, wann alles begann. Fest steht jedoch: Die jüngsten Ereignisse, die in der Bedrohung von Robert Habeck und in der Beschimpfung des Bundeskanzlers (Öffnet in neuem Fenster) im Hochwassergebiet mündeten („Verbrecher“; „Lügner“; „Volksverräter“), sind bloß die Speerspitze einer jahrelangen, sukzessiven Fehlentwicklung. Denn es brodelt schon länger. Die Bauern, die jetzt wegen gestrichener umweltschädlicher Subventionen auf die Barrikaden gehen, stehen ganz in der Tradition der letzten Jahre, mit denen das Wüten salonfähig wurde.

In den sozialen Netzwerken wie auf der Straße: An die Stelle des Arguments ist das Geschrei getreten, an die Stelle des Gesprächs das Gepöbel. Das, an sich, ist keineswegs neu. Meinungsverschiedenheiten, Konflikte, böses Blut – das alles gab es schon immer. Selbst die Beleidigung ist gewissermaßen eine Kulturleistung. Schon der englische Neurologe John Hughlings Jackson (1835-1911) schrieb nicht ohne Grund: „Der erste Mensch, der beleidigte, anstatt seinem Gegenüber wortlos den Schädel einzuschlagen, legte damit den Grundstein der Zivilisation.“

Neu – und typisch für den affektlodernden Typus Mensch – ist die Schamlosigkeit, mit der sich der Affekt Bahn bricht. Der Wutbürger von heute ist eben nicht nur wütend; er ist sich darüber hinaus seiner Rage überaus bewusst. Er lässt sie zu, legitimiert sie, berauscht sich daran. Das mag zwar nicht die Grundsteine der Zivilisation zum Einsturz bewegen, sozialen Sprengstoff birgt es dennoch.

„Der Homo furiosus ist nicht bloß stinksauer; zur eigenen Gattung wird er dadurch, dass seine Wut identitätsstiftend ist. Ich wüte, also bin ich.“ 

Es scheint: Der Homo sapiens, mit „sapiens“ – vielleicht zu optimistisch – „verstehender“ oder „verständiger“ Mensch getauft, hat sein Verständnis gänzlich aufgebraucht. An seine Stelle getreten ist ein neuer Mensch, nennen wir ihn „Homo furiosus“. Der Homo furiosus ist nicht bloß stinksauer; zur eigenen Gattung wird er dadurch, dass seine Wut identitätsstiftend ist. Der Bürger ist stinksauer – und stolz darauf. Die geballte Faust ersetzt den kühlen Kopf. Ich wüte, also bin ich.

POV: Robert Habeck auf der Fähre.

Wie kam es dazu? Welche Entwicklungsschritte führten zur Entstehung dieses selbstgerechten, vor allem für die eigene Sache glühenden Teutonen? Und, vielleicht viel wichtiger: Wie kommen wir da wieder raus?

Wagen wir einen Rückblick.

Zunächst war da Pegida. Der Homo pegidensis trat vor allem in den östlichen Gebieten Deutschlands in Erscheinung; in den Zehnerjahren bevölkerte er vor allem montags die Innenstadtgebiete von Dresden bis Leipzig. Die Entwicklungsstufe vor dem heutigen Wutbürger war laut, territorial und im Verhalten insgesamt von einem hohen Grad an Tribalismus geprägt.

Hinter der rassistischen und islamfeindlichen Bürgerbewegung standen nicht nur Akteure wie Lutz Bachmann (Öffnet in neuem Fenster), die den Mob ebenso anpeitschten wie die eigene Spartenprominenz; eine ebenso große, wenn nicht größere Rolle spielten die sozialen Netzwerke, allen voran Facebook. Die Gefühle gingen vom Netz auf die Straße, von der Straße zurück ins Netz. Auf jeder Wegstrecke verdreht und verstärkt durch Desinformation und Verschwörungserzählungen – ein Möbiusband des Hasses.

Während Pegida sich nach und nach wortwörtlich leerlief, blieb die Wut. Die Wut im Bauch, die in den Köpfen. Die Wut gegen „die da oben“. Und vor allem: die Wut in den Kommentarspalten.

Vernetzter Furor

Hier sehen wir ein wesentliches Attribut. Was den zeitgenössischen Wüterich unterscheidet von, beispielsweise, den Gewalttätern von Rostock-Lichtenhagen im August 1992, ist seine ununterbrochene Rückkopplung in die Netzwelt.

Ähnlich wie Facebook die Pegidisten aufpeitschte oder die Pegidisten einander auf Facebook, so war es vor wenigen Tagen eine Telegram-Gruppe, welche die versuchte Attacke hunderter Bauern auf Robert Habeck (Öffnet in neuem Fenster) koordinierte.

Der Homo furiosus ist also nicht bloß vernetzt, denn vernetzt sind wir alle. Der Wutmensch von heute vernetzt seinen Furor.

Ähnliches war, wenige Jahre nach Pegida, zu beobachten bei den sogenannten Querdenkern. Auch in den Jahren der Corona-Pandemie ab 2020 füllten Verschwörungsmythen, Halbwahrheiten und Desinformation so lange die digitalen Magmakammern der Nation, bis es schließlich zur Eruption kam. Der Homo covidensis zeichnet sich, wie vor ihm schon der Pegidist, ebenfalls durch einen leicht zu erregenden Gemütszustand aus. Seine Ursprünge liegen in Süddeutschland, er breitet sich aber schnell über das ganze pandemiegebeutelte Bundesgebiet aus.

(Öffnet in neuem Fenster)

Ein gefährlicher Irrweg: Verschwörungstheorien (Öffnet in neuem Fenster).

Im Gegensatz zu Pegida hatte die „Querdenker“-Bewegung größere Anschlusseffekte. Während es dort vor allem Zuwanderungsfeinde mit klarer rechtsnationaler Agenda waren und blieben, war die Covid-Wutbürger-Bewegung (Öffnet in neuem Fenster), zumindest augenscheinlich, heterogener.

Die Kohäsionskräfte des pandemischen Ausnahmezustands führten selbst scheinbare Gegensätze zueinander: Ob schwäbischer Öko, Reichsbürger, Esoteriker, Holocaustleugner oder frustrierter Friseur – zeitweise sammelten sie sich alle möglichen Randgruppen im Querdenkerbecken, wutvereint durch Politik und Pandemie, und fantasierten sich, gleichermaßen durch Innenstädte wie durch Medien marschierend, alles Mögliche herbei von Impfchip bis Diktatur. Corona, das hieß auch: Jede Jana aus Kassel (Öffnet in neuem Fenster) hatte ihre Chance auf fünfzehn Minuten Ruhm. Hauptsache, man war bereit, vor einer Kamera zu toben – Kohärenz nebensächlich.

Die Erklärungen zur Querdenkerei divergieren:

Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Öffnet in neuem Fenster) sehen beispielsweise eine „Gekränkte Freiheit“ am Werk. Gewöhnt an einen unsichtbaren Staat, der sich als stiller Ermöglicher stets im Hintergrund hielt, waren nicht wenige Mitbürger geradezu schockiert, als die Regierung – mehr notgedrungen als aus Spaß, sei angemerkt – plötzlich regelte. Und sehr deutlich eingriff ins Sozialleben, ins Private, ins Geschäftliche.

Was genau ist eigentlich dieses „Gemeinwohl“?

Sprung ins Jahr 2024. Abermals haben wir es mit einer krisenbedingt regelnden Regierung zu tun. Die „regelnde Regierung“ – ein Pleonasmus, eigentlich. Denn dafür ist Politik ja da, fürs Gestalten, fürs Gewährleisten des Gemeinwohls. Die Crux: Weder der Homo sapiens noch der Homo furiosus sind sich je darüber einig geworden, was unter „Gemeinwohl“ zu verstehen ist. Konsens darüber gibt es nicht einmal in der Ampelregierung.

Einigkeit besteht jedoch in einem: Es muss gespart werden, und zwar idealerweise dort, wo man erstens sparen kann und zweitens aus sparen sollte, etwa aus Gründen des Umweltschutzes. Und so ging es an den Agrardiesel und an die Kfz-Steuer der Landwirte. Nicht aus bösem Willen und Bauernhass, sondern weil man muss und weil man sollte.

Der Effekt: ein ähnlicher, wie ihn Amlinger und Nachtwey schon mit Blick auf die Corona-Zeiten beschreiben. Diesmal ist es die gekränkte Freiheit der Landwirte. Ihre Position lapidar auf den Punkt gebracht: Der Staat ist Freund und Partner, solange er gefügig und still das landwirtschaftliche Sparschwein subventioniert. Greift er jedoch gestaltend ein, und sei es aus dem besten Grund überhaupt, nämlich dem Wohl aller (Stichwort Klimakrise), heißt es: Autobahnblockade.

Die Belegpflicht weicht dem Traktormotor

„Gefühlt haben wir 90 Prozent der Öffentlichkeit hinter uns“, sagt Jan-Friedrich Rohlfing, Chef vom Bauernverband Saaletal. Das ist typisch: Der Wutbürger von heute hat Gefühle statt Fakten. Typisch postfaktisches Zeitalter (Öffnet in neuem Fenster). Warum der Agrarsektor seine aus der Zeit gefallenen Privilegien behalten sollte? Warum nicht auch die Landwirtschaft ihren Beitrag leisten muss zum Klimakrisenmanagement? Nebensache. Die Antwort bleibt aus. Empörung, Traditionen und Gefühle wiegen schwerer als Argumente. Die Belegpflicht weicht dem Traktormotor.

Mal eben Morddrohung und Meinungsfreiheit verwechselt.

Wie viele Prozent der Bevölkerung noch hinter den Bauernprotesten stehen, wenn es, um den Bauernverbandspräsidenten Joachim Rukwied zu zitieren, protesttechnisch zu einem „heißen, einem sehr, sehr heißen Januar“ kommt – fraglich. Neunzig waren es übrigens nie, sagt mir zumindest mein Gefühl.

Ein Gefühl, durch Fakten untermauert: In Umfragen halten höchstens die Hälfte der Leute die Bauernproteste für gerechtfertigt, andere zeigen Verständnis, lehnen aber die Protestform ab; die Proteste in ihrer jetzigen Form befürwortet lediglich knapp ein Drittel. Ferner gehen erste Klagen (Öffnet in neuem Fenster) von Krankenhauspersonal viral – ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erscheinen nicht zur Arbeit. Systemrelevantes Krankenhauspersonal steckt – entgegen der Ankündigung der Landwirte, sie durchzulassen (wie auch immer das funktioniert hätte) – bundesweit im Stau. Mein Gesundheitstipp an uns alle: Herzinfarkte und Schlaganfälle besser verschieben!

Wo ist die Stimmung noch schlechter als im Stau? Im Krankenhaus (Öffnet in neuem Fenster).

Präventivhaft für Landwirte? Pustekuchen!

„Wir werden notfalls Deutschland lahmlegen“ (Öffnet in neuem Fenster), heißt es vom Bauernverband an anderer Stelle, in einer Pressekonferenz mit Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der, wie Grünenpolitikerin Irene Mihalic komplett zu Recht bemerkt (Öffnet in neuem Fenster), „Leute mit anderem politischen Mindset wegen ähnlicher Aktionen in Präventivhaft nehmen lässt“. Erst kürzlich wurde Carla Hinrichs, Sprecherin der Klimaaktivistengruppe Letzte Generation, zu einer zweimonatigen Haftstrafe auf Bewährung (Öffnet in neuem Fenster) verurteilt. Solidarisierungsgesten von CSU-Größen suchte man dort vergebens. Präventivhaft für Landwirte? Pustekuchen!

Der Zyniker in mir möchte raten: Liebe Letzte Generation, besorgt euch Traktoren! Legt das Land großflächig lahm. Lacht euch eine Lobby an. Doch der Realist in mir weiß: Klimaaktivisten haben leider keine mächtige konservative Interessenorganisation im Hintergrund. Und das aggressive Auftreten vieler Bauerndemonstranten – von Ampel-Galgenfiguren bis hin zu Mistgabel-Drohgebärden – hat der gewaltlose zivile Ungehorsam der Klimademonstranten auch nicht zu bieten.

Vielleicht besser so, denn in der Verrohung der Sprache und der Haltung zur Gewalt liegt der Unterschied zwischen Wutbürger und Normalbürger. Der Unterschied zwischen all jenen, die sich eindeutig, absichtlich und ohne Wenn und Aber im friedlichen, im demokratischen Rahmen bewegen – und den anderen.

Die Klimabewegung kämpft – größtenteils erfolglos, übrigens; hier bleibt die Regierung hart, hier bleibt der FDP-Minister Wissing taub – für mehr Umweltschutz, für Klimakrisen-Realismus und die Einhaltung der Pariser Klimaziele (Öffnet in neuem Fenster) (von denen ohne Zweifel jeder einzelne Bürger in Deutschland profitiert, ob auf dem Hof oder im Hochhaus). Währenddessen legen die Landwirte dieser Tage das Land lahm, weil es ihnen halt so passt; weil es um ihre Profite geht; Profite, die überhaupt erst durch kollektive Steuersubvention zustande kommen.

Während sich Klimaaktivisten also parteiübergreifend für eine bessere Zukunft aller engagieren, engagieren sich die Landwirte in erster Linie für eine bessere Zukunft für ihren Wirtschaftszweig. Und als wäre das nicht ichvergessen genug, schlagen einige dabei leider derart über die Stränge, dass sie demokratische Demonstrationsformen insgesamt diskreditieren. Der Ampelgalgen lässt grüßen.

„Protestiert jetzt jede gesellschaftliche Gruppe, bis sich in ihrem Bereich nichts ändert, steht die Wahrscheinlichkeit, die Klimakrise gemeinsam zu bewältigen, bei null Prozent.”

Was also tun? Wie kommen wir aus der Nummer wieder raus, als Gesellschaft? Schwer zu sagen. Eins jedoch ist einfach zu sagen: Protestiert jetzt jede gesellschaftliche Gruppe, bis sich in ihrem Bereich nichts ändert, steht die Wahrscheinlichkeit, die Klimakrise gemeinsam zu bewältigen, bei null Prozent. Das Resultat wäre eine Lose-Lose-Situation. Der Unwillen, den Kurs zu ändern, beschließt den Kurs der Titanic auf den Eisberg.

Ich jedenfalls hoffe, trotz der Wut meiner Mitbürger, auf zweierlei: Erstens auf die Erkenntnis, dass wir alle gemeinsam im selben Boot sitzen. Von Verweigerung, Wut und Aggression hat man vielleicht kurzfristig etwas Druckausgleich, etwas Ventilfunktion (Öffnet in neuem Fenster); langfristig verlieren daran alle. Die Erkenntnis, dass wir alle im selben Boot sitzen, muss zweitens zur Folge haben, dass wir in der Klimakrise eine kollektive Herausforderung sehen, der wir nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung begegnen können. Der Homo furiosus muss zum Homo collaborativus werden – zum in einer gemeinsamen Sache vereinten Menschen.

Wut ist eine destruktive Kraft

Eine Gesellschaft versprengter Partikularinteressen ist nicht zukunftsfähig in einer Zeit, die krisenbedingte Zusammenarbeit verlangt – und ja, auch Veränderungen, Einschnitte, Abweichungen vom Gewohnten. Wir müssen wieder lernen, unseren solidarischen Anteil zu leisten, auch wenn dieser eigene Anteil keinen Spaß macht, selbst wenn Privilegien wegfallen, selbst wenn das Geld kostet. Und dass die eigene Wut, so natürlich und gerecht sie uns stets vorkommt, meist keine konstruktive, zukunftsgerichtete Kraft ist, sondern eine destruktive – erst recht dann, wenn sie sich gegen andere richtet.

Die Absurdität einer Debatte, in der die eigenen Ziele und Mittel immer recht und legitim sind, die Ziele und Mittel der anderen aber immer doof und übergriffig, zeigt das Magazin „Agrarheute“ auf („Das Nachrichtenportal für die Landwirtschaft“). Dort heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 2022 (Öffnet in neuem Fenster): „An die ‚Letzte Generation‘: Blockierer und Nötiger sind keine Helden!“ Ferner liest man dort: „Liebe Autobahnblockierer, Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein: Ihr seid gar keine Helden, keine Märtyrer. Ihr opfert Euch nicht auf. Stattdessen nehmt Ihr andere rücksichtslos für Eure Ideen in Geiselhaft. … Veränderungen fordert man in einer Demokratie nicht mit Erpressung.“

Ob ähnlich strenge Töne diese Woche zu erwarten sind, wenn Traktoren bundesweit die Straßen blockieren? Wohl kaum. Denn Wutbürger mit verrückten Wunschkonzerten und einem absurden Freiheitsbegriff – das sind immer nur die anderen.

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Nachtrag: Die Letzte Generation hat mittlerweile auf mich gehört und sich Traktoren besorgt ;)

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