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Was brauchst du, um bleiben zu können?

Manchmal fahre ich zurück in meinen alten Wohnort, an dem ich zwölf Jahre meines Lebens verbracht habe, erst gestern war ich zuletzt dort. Ich habe dort studiert, meine journalistische Laufbahn begonnen und eine Familie gegründet. Diese Jahre fühlen sich heute an, als hätte ich mein halbes Leben dort verbracht. Wer eine ähnliche Prägung an einem Wohnort erlebt hat, wird wahrscheinlich auch diese besondere Verbundenheit spüren, die sich einstellt, wenn man an ihn zurückkehrt.

Oft besuche ich Freund*innen, die dort leben und streife ein wenig umher, um die alten Wege zu gehen. Die leichte räumliche Veränderung, die durch die einstündige Bahnfahrt entsteht, ist zugleich wie eine Zeitverschiebung. Mein Alltag mit beruflichen und familiären Pflichten trägt dazu bei, dass ich wenig Zeit mit Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft verbringe. Die Kinder, der Haushalt und die To-do-Liste sind manchmal mehr Hier und Jetzt, als in eine Gegenwart passt.

Meine Zeit kennt nur die Freiräume, die ich selbst schaffe. Deshalb sind die gelegentlichen Ausflüge in meine alte Stadt wie Schritte in die Vergangenheit. Sie ermöglichen mir, mein tägliches Tun in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Ich erkenne dann, dass mein Leben nicht der Punkt ist, an dem ich gerade stehe. Sondern eine Linie, auf der ich mich bewege, und auf der der kleine Punkt kaum zu erkennen ist.

Titelbild: Lena Nikcevic

“Wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein”

Vor wenigen Wochen verschlug mich die Arbeit an meinem neuen Buch zurück an meinen alten Wohnort. Der Mensch, mit dem ich unterwegs war, war genau wie ich ein Büchermensch, sodass wir wenig Zeit damit verbrachten, die eigentlichen Anliegen zu besprechen, sondern uns bald in einem Antiquariat wiederfanden, an dem wir vorbeikamen. Mir fielen zahlreiche Bücher in die Hand, und am Ende entschied ich mich für einen Gedichtband von Friedrich Hölderlin. Auf dem Buchrücken war das Gedicht Hälfte des Lebens abgedruckt. "Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See”, fing es an.

Die Bilder der reifenden Birnen, der in Blüte stehenden Rosen, und des Landes, das sich in die Tiefe des Sees begibt, schienen mich an die Vergänglichkeit erinnern zu wollen und sprachen mich unvermittelt auf eine Weise an, wie es nur Gedichte können. Ich bin gerade 37 geworden, und zumindest nach der Statistik bewege ich mich in großen Schritten auf die unsichtbare Grenze zwischen erster und zweiter Lebenshälfte zu. (Wenn ich in wenigen Jahren 40 werde, darf ich mit einer ferneren Lebenserwartung von 39 Jahren rechnen.)

Das eigene Leben gegen ein anderes tauschen, möchte das nicht jede*r manchmal?

Weil nichts dagegen sprach, steuerten wir ein weiteres Antiquariat an, das in der Nähe lag. Damals saß dort immer ein mittelalter Mann vor seinem Schreibtisch in der Mitte des Ladens und verrichtete ungerührt seine Arbeit. Nun bestätigte sich meine Hoffnung, dass sich nichts an dieser Szenerie verändert hatte. Der Mann saß dort wie eh und je und hielt es noch immer nicht für nötig, seine eintretenden Kund*innen eines Blickes zu würdigen. Was aber den positiven Effekt hatte, dass man sich in seinem Laden unbeobachtet vorkam. Ich mochte den Mann schon immer.

Manchmal frage ich mich, ob ein solches Leben nicht auch für mich geeigneter wäre. Von Büchern, Stille und interessierten Menschen umgeben zu sein, den Bestand der Bücher zu verwalten, tagein, tagaus das Gleiche zu tun, immer in mein eigenes kleines Reich zurückzukehren, das ich selbst gestalte. Sich der Ambition und der Erwartung widersetzen, wachsen zu müssen, ungenutztes Potenzial freilegen und sich immer wieder herausfordern zu müssen, und dabei doch mit dem Makel zu leben, dass es andere besser hinbekommen. Natürlich möchte ich nicht mit dem Buchhändler tauschen, was weiß ich schon über sein Leben? Aber das eigene Leben tauschen gegen ein anderes, möchte das nicht jede*r manchmal?

Es war also ein schöner, unbeschwerter Freitag. Ein Tag, an dem ich mich mit lieben Menschen durch mein altes Zuhause treiben ließ. Ein Tag, den man als eine Insel in der Zeit bezeichnen konnte.

Drei Tage später, am Montagmorgen, ging es mir schlecht. Wie aus dem Nichts fühlte sich alles bleiern und schwer an. Ich machte einen Coronatest, weil ich die Wucht dieser Erschöpfung nicht verstand, bis ich sie schließlich natürlich doch verstand und erkannte, dass ich mich am Tiefpunkt einer neuerlichen depressiven Episode befand, dessen Vorboten ich wieder einmal nicht hatte erkennen wollen. Es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn mich dieser Winter verschont hätte, zumal wieder einmal eine persönlich intensive und beruflich arbeitsreiche Zeit hinter mir lag. Ich ahnte, was mir nun bevorstand.

Ich spürte jetzt wohl, was Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention (Öffnet in neuem Fenster), in der aktuellen Ausgabe der Spektrum Psychologie (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt; dass Depressionen häufig die Folge eines krankhaften Alarmzustands seien, in dem sich der Körper dauerhaft befindet. Der Schriftsteller Daniel Schreiber formuliert es in der aktuellen Ausgabe seines Newsletters (Öffnet in neuem Fenster) über eine eigene, akute Erfahrung ähnlich: “Es fühlte sich fast wie eine biochemische Reaktion auf das Wegfallen einer langanhaltenden Anspannung an, eine Reaktion auf eine langanhaltende, reizüberflutete Phase der Überforderung, die mein Körper als eine Art Kriegszustand zu registrieren scheint.“

In den folgenden Tagen des Rückzugs (die ich in meinem vorletzten Newsletter mit dem Titel Die Zeit des Rückzugs ist vorbei (Öffnet in neuem Fenster) bereits hoffnungsvoll für beendet erklärt hatte) las ich Hölderlins Hälfte des Lebens erneut. Erst jetzt verstand ich dessen Bedeutung.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Hölderlin beschreibt, wie mir das Leben im Winter meist vorkommt. Genau so, wie eine verlorene Zeit, in der ich daran scheitere, die sprachlosen und kalten Mauern hinüber auf die Seite des Lebens zu überwinden, in der sich aber letztlich gar nichts bewegt. Nur die abweisend, sinnlos flatternden Fahnen im Wind, dessen verstörenden Klang ich beim Lesen in mir nachbildete. So erscheint in solchen Tagen die Welt. Keine fliegenden Fahnen, sondern endlos klirrende.

“Die meisten Menschen sind offenbar enorm schlecht darin, gut für sich selbst zu sorgen”

Ich beschäftige mich in letzter Zeit nicht nur wieder intensiver mit meiner eigenen mentalen und emotionalen Gesundheit, sondern habe es mir auch zur Aufgabe gemacht, in meiner journalistischen Arbeit stärker über das Thema zu berichten. Das Buch, an dem ich gerade (wieder, nach sechs Wochen Zwangspause) arbeite, handelt davon, wie Arbeitszeitmodelle so gestaltet werden können, dass sie die Gesundheit und Lebenszufriedenheit fördern und schützen. Auch für das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibe ich nun häufiger über diese Themen. Zuletzt fragte mich die Redaktionsleiterin, ob ich über das Modellprojekt Blaufeuer (Öffnet in neuem Fenster) berichten wolle, ein Beratungsangebot für psychisch belastete Arbeitnehmer*innen.

Während der Recherche erkannte ich, wie ungenügend wir als Gesellschaft, und insbesondere auch die Wirtschaft, mit psychischen Belastungen und Erkrankungen umgehen. In meinem persönlichen Umfeld stoße ich meist auf große Sensibilität im Umgang mit meiner Erkrankung, was natürlich damit zusammenhängt, dass ich mir die Menschen, mit denen ich spreche, und die Auftraggeber, mit denen ich zusammenarbeite, selbst aussuche.

Diese Menschen hören mir zu, zeigen Verständnis, respektieren meine (eingetrübten) Sichtweisen, ermutigen mich und berichten manchmal über ihre eigene psychische Gesundheit, die nicht selten ebenfalls angekratzt ist. (Dass ich, nebenbei bemerkt, aufgrund einer eigenen psychischen Erkrankung keine Kapazitäten für die Probleme anderer Menschen habe, stimmt nicht. Der Austausch ist enorm hilfreich und verbindend.)

Doch manchmal erlebe ich auch, dass Menschen vor psychischen Erkrankungen wie Depressionen wie vor einem Rätsel stehen. Dann werde ich zum Beispiel nach den Symptomen gefragt, und sage, schau dir eine Liste mit den klassischen Symptomen einer Depression an, dann hast du eine gute Vorstellung davon. Oder ich bekomme ungefragt Ratschläge, was ich in meinem Leben ändern könnte, als wäre die Depression ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Das habe ich selbst leider allzu lang geglaubt. Auch wenn ich es richtig finde, über die Ursachen von Depressionen zu sprechen, verspricht die Identifizierung und Beseitigung einzelner vermeintlicher Auslöser noch keine Heilung.

Wichtiger, als Ratschläge zu erteilen, finde ich es zu versuchen, Betroffene zu verstehen, Hilfe aufzuzeigen und in diesem Prozess eine gemeinsame Sprache für mentale und emotionale Belastungen zu finden. Daniel Schreiber betont in seinem Newsletter (Öffnet in neuem Fenster), der von psychischen Erkrankungen handelt, wie wichtig es ist, Gespräche darüber anzustoßen, worüber wir normalerweise nicht sprechen: “Denn dass ihr Stigma immer noch anhält, liegt auch daran, dass wir nach wie vor viel zu wenig über sie reden. Daran, dass uns eine gemeinsame, alltägliche und trotzdem präzise Sprache fehlt, das zu tun.”

Bei meiner Recherche über das Blaufeuer-Projekt stellte ich fest, wie wichtig es wäre, wenn Menschen mit psychischen Belastungen frühzeitige Unterstützung erhalten würden, damit Erkrankungen entgegengewirkt werden kann und die Beschwerden nicht chronisch werden. Ein sinnvoller Ort dafür ist der Arbeitsplatz, da dort häufig Belastungen vorhanden sind, die an der Entstehung von psychischen Erkrankungen beteiligt sind, und weil eine Unterstützung am Arbeitsplatz dort angesiedelt wäre, wo Menschen sich regelmäßig aufhalten und mit anderen Menschen interagieren.

80 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben kein eigenes psychosoziales Hilfsangebot

Doch meine Recherche zeigte, dass sich Arbeitgeber kaum in der Verantwortung für die psychische Gesundheit ihrer Angestellten sehen. 80 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben kein eigenes psychosoziales Hilfsangebot oder entsprechend geschultes Personal. Und dort, wo es existiert, wendet sich nur ein geringer Teil der Betroffenen an diese innerbetrieblichen Stellen. Bei Depressionen vergehen im Schnitt 20 Monate, bis sich Menschen mit einer depressiven Erkrankung Hilfe suchen, wie aus dem aktuellen Deutschlandbarometer Depression hervorgeht. (Öffnet in neuem Fenster)

Das hängt natürlich mit den langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz zusammen, aber auch damit, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig stigmatisiert werden, dass sie aus diesem oder aus anderen Gründen die eigene Erkrankung verleugnen oder relativieren, oder damit, dass sie in einer akuten Belastungs- oder Krankheitsphase nicht die Kraft haben, um sich professionelle Hilfe zu suchen.

Modelle wie Blaufeuer zeigen, dass niedrigschwellige Unterstützungsangebote dazu beitragen können, Belastungen frühzeitig zu erkennen und vorzubeugen, dass sich daraus eine schwere Erkrankung und damit auch ein langfristiger Arbeitsausfall entwickeln. Psychische Erkrankungen sind mit besonders langen Ausfällen verbunden. Rund 30 Tage betrug die durchschnittliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit bei einer psychischen Erkrankung im Jahr 2022, wie eine Auswertung der Krankenkasse AOK ergab. (Öffnet in neuem Fenster)

Die beruflichen Fehltage wegen psychischer Erkrankungen haben zwischen 2012 und 2022 um 48 Prozent zugenommen. Die Länge der Ausfall­zeiten wegen psychischer Störungen ist zudem deutlich stärker gestiegen als bei allen anderen Diagnosen. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Entwicklung wirklich in der Politik und der Wirtschaft angekommen ist, und ernsthaft an Lösungen gearbeitet wird.

Ich habe mehrfach erleben müssen, dass psychisch erkrankte Menschen plötzlich nicht mehr am Arbeitsplatz erschienen sind, was bei einer Erkrankung normal ist. Aber sie kamen auch nicht mehr zurück. Ich würde gern wissen, ob mit den betreffenden Personen konkret über Möglichkeiten ihrer Rückkehr, der Wiedereingliederung und kürzerer, flexibler Arbeitszeiten oder eine Änderung der Arbeitsinhalte gesprochen wurde. Ob sie gefragt wurden: Was brauchst du, um zurückkehren und bei uns bleiben zu können, nach deinen Möglichkeiten und Bedürfnissen? Nicht immer ist das möglich. Nicht immer ist das unmöglich.

Ich übernahm einmal die Stelle eines langjährigen, anerkannten Redakteurs, der wegen Depressionen seinen Beruf aufgeben musste. Ich weiß nichts über die Hintergründe, aber ich erinnere mich an die einzige Kontaktaufnahme, die es danach zur Redaktion gab. Er schrieb uns, dass er es nie für möglich gehalten hätte, einmal diese Krankheit zu bekommen.

Ich erwähne das als Erinnerung daran, dass es jede und jeden treffen kann. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht irgendwelche anderen, die irgendwo auf Sofas und in Kliniken vor sich hin kauern und ihr klägliches Dasein fristen. Es sind buchstäblich Du und ich, der Autor und manche Leser*innen dieses Textes. Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkrankt im Laufe des Lebens an einer Depression.

“Manchmal muss die Politik die Bürger retten”

Wenn Parteien Anstrengungen unternehmen, um das Problem aufzugreifen, werden sie dafür häufig kritisiert. So wurde die Linke kürzlich dafür belächelt, dass sie den Stress abschaffen wolle. Die Partei hatte in einem Konzept neben der Einführung der Vier-Tage-Woche auch eine Anti-Stress-Verordnung ins Spiel gebracht. Treffend heißt es in dem Konzept: (Öffnet in neuem Fenster)

“Immer mehr Menschen macht der Stress auf Arbeit krank. Deutschland arbeitet sich kaputt. Millionen ziehen die Reißleine und gehen in Teilzeit. Sie müssen dafür erhebliche Lohneinbußen und geringere Renten in Kauf nehmen. So kann es nicht weitergehen. Statt immer mehr Stress und Arbeitsverdichtung brauchen wir mehr Zeit für Familie und Freunde, Hobbys und Ehrenamt. [...]

Der zunehmende Arbeitsstress belastet Krankenkassen und Rentenversicherung, die die Kosten für Rehamaßnahmen und Erwerbsminderung übernehmen. Die Unternehmen hingegen müssen die Folgekosten ihrer rücksichtslosen Personalpolitik nicht selbst tragen. Deshalb haben sie kaum Anreize für einen nachhaltigen Personaleinsatz.”

Das soll keineswegs Werbung für eine Partei sein (Die inseln der zeit sind überparteilich!), sondern eher der Hinweis darauf, dass sich offenbar nur noch kleine Parteien für die Interessen der Arbeitnehmer*innen einsetzen. Der grüne Wirtschaftsminister setzt sich für die Interessen der Unternehmen ein, der SPD-Arbeitsminister für die Wiedereinführung der Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger*innen und der SPD-Bundeskanzler bekanntlich für militärische Aufrüstung. Vom Finanzminister müssen wir nicht sprechen.

Die Linke möchte Unternehmen dazu verpflichten, Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit der Beschäftigten zu ergreifen, etwa im Rahmen der bestehenden Arbeitsschutzgesetze. Die SZ-Journalistin Barbara Vorsamer, die übrigens eines der meiner Meinung nach besten Bücher über Depressionen geschrieben hat (mehr dazu am Ende dieses Newsletters), ordnet diesen Vorstoß in der Süddeutschen (Öffnet in neuem Fenster) so ein:

“Die Stressreaktionen des menschlichen Körpers waren mal dafür da, einen in die Lage zu versetzen, vor einem Raubtier davonzulaufen. Sind die Stressoren allerdings übellaunige Kunden, Berufsverkehr oder das fehlende Geld für die nächste Miete, helfen einem das hohe Level an Kortisol und Adrenalin, die Anspannung in den Muskeln und der steigende Blutdruck rein gar nicht weiter. Im Gegenteil, dann machen sie krank.

So mag es klug erscheinen, was Start-ups in den USA jüngst ausprobiert haben. Dort durften sich Angestellte unbegrenzt so viel Urlaub nehmen, wie sie wollten. In der Theorie. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen sich noch weniger freie Tage als zuvor. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen Untersuchungen zur Vertrauensarbeit immer wieder. Die meisten Menschen sind offenbar enorm schlecht darin, gut für sich selbst zu sorgen. Sie sind umso schlechter darin, je weniger Ressourcen sie haben.”

Manchmal müsse die Politik die Bürger retten, folgert Vorsamer, “die einen vor sich selbst und ihrem Engagement, die anderen vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.”

Das ist richtig, doch sehe ich die Unternehmen selbst ebenso in der Pflicht. Zum Schluss möchte ich deshalb noch einmal festhalten, was ich während der Arbeit an mehreren Artikeln zum Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz darüber gelernt habe, was Unternehmen und Führungskräfte tun sollten.

Sie sollten…

  • erkennen, dass Gesundheit keine Privatsache ist, sondern dass sie selbst ein Interesse an leistungsfähigen Mitarbeitenden haben.

  • mit gutem Beispiel vorangehen, da die Vorbildfunktion der Führungsebene entscheidend für die Motivation der Mitarbeitenden ist.

  • eine Unternehmens- und Führungskultur entwickeln, die Gesundheit immer berücksichtigt.

  • Programme zur betrieblichen Gesundheitsförderung etablieren, die möglichst viele Mitarbeitende erreichen und flexibel nutzbar sind, und dies als Investition in die Organisation betrachten.

  • psychosoziale Anlaufstellen im Unternehmen schaffen und konkrete Ansprechpersonen benennen, die frühzeitig Unterstützung bieten, gemeinsam Belastungen identifizieren und gegebenenfalls professionelle Hilfe vermitteln.

  • Ursachen der Belastungen adressieren und beseitigen, statt nur Symptome zu lindern. Betriebliches Gesundheitsmanagement sollte nicht nur auf die Behandlung von Symptomen, sondern auch auf die Veränderung der Arbeitsbedingungen abzielen.

  • gerne kostenlose oder günstige Fitnessstudiomitgliedschaften anbieten und neue Bürostühle und Schreibtsiche anschaffen, dies aber nicht als ausreichend betrachten, um die Gesundheit der Mitarbeitenden zu schützen.

  • für psychische Gesundheit sensibilisieren und eine offene Kommunikationskultur schaffen.

Das ist nur eine spontane Auflistung von Punkten, die ich im Gespräch mit unterschiedlichen Fachpersonen erfahren habe. Ich freue mich über weitere Anregungen. Antworte gern direkt auf diese Mail (oder, falls du im Browser liest, an inselnderzeit@posteo.de), teile diesen Artikel oder abonniere meinen Newsletter, falls du es noch nicht getan hast.

Außerdem freue ich mich über weitere Mitglieder, die die inseln der zeit, und damit mich, besonders stark unterstützen. Der nächste Newsletter, in dem ich das Thema dieser Ausgabe erneut aufgreife, wird eine exklusive Ausgabe für Mitglieder sein. Hier kannst du ein flexibles Monatsabo oder ein vergünstigtes Jahresabo abschließen:

Zum Schluss führe ich noch einmal die in dieser Ausgabe genannten Quellen auf. Außerdem möchte ich alle, die sich von den genannten psychischen Belastungen angesprochen fühlen, ermutigen sich Unterstützung zu suchen. Kontaktiere, wenn es dir schlecht geht, umgehend deine Hausärztin oder deinen Hausarzt, deine Therapeutin oder deinen Therapeuten, oder die Telefonseelsorge (Öffnet in neuem Fenster) unter 0800 1110111 oder 0800 1110222. Eine unkomplizierte Suche möglicher Psychotherapeut*innen findest du auf der Seite 116117.de (Öffnet in neuem Fenster). Ich habe stark von ärztlicher und therapeutischer Unterstützung profitiert, und tue es noch immer.

Literaturhinweise:

Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens, In: Gedichte. Eine Auswahl, Reclam

Daniel Schreiber, Unruhige Geister, aus dem bei Steady erscheinenden Newsletter Dear Daniel

https://steadyhq.com/de/deardaniel/posts/4744cbcb-ffe4-431e-8cbe-4aaf2cfeb94b (Öffnet in neuem Fenster)

Barbara Vorsamer, Mein schmerzhaft schönes Trotzdem. Leben mit der Depression

https://www.dtv.de/buch/mein-schmerzhaft-schoenes-trotzdem-29005 (Öffnet in neuem Fenster)

Redaktionsnetzwerk Deutschland, Psychische Belastungen im Job: Warum Hilfe für Betroffene häufig zu spät kommt

https://www.rnd.de/beruf-und-bildung/psychische-belastungen-im-job-warum-hilfe-oft-zu-spaet-kommt-DSNELGXTJNFOTD56SU6WQPUKNM.html (Öffnet in neuem Fenster)

Redaktionsnetzwerk Deutschland, Hohe Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen: Was Unternehmen tun können

https://www.rnd.de/gesundheit/hohe-fehlzeiten-wegen-psychischer-erkrankungen-was-unternehmen-tun-koennen-QS2WUPUYC5BTZFETWPGZ3VA5JU.html (Öffnet in neuem Fenster)

Süddeutsche Zeitung, Kann man weniger Stress verordnen?

https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/stress-linke-antistressverordnung-e092966/ (Öffnet in neuem Fenster)

Redaktionsnetzwerk Deutschland, Journalistin Barbara Vorsamer über Depressionen: „Abends erzählte ich mir, dass ich gar nichts habe“

https://www.rnd.de/gesundheit/journalistin-barbara-vorsamer-ueber-depressionen-abends-erzaehlte-ich-mir-dass-ich-gar-nichts-habe-NSRP25STM5FBNFPMMVPMIBB6FI.html (Öffnet in neuem Fenster)

Fehlzeiten-Report 2023

https://www.wido.de/news-presse/pressemitteilungen/2023/fehlzeiten-report-2023/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die Linke, In 4 Schritten zur 4-Tage-Woche

https://www.die-linke.de/start/presse/detail/in-4-schritten-zur-4-tage-woche/ (Öffnet in neuem Fenster)

Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention

https://www.deutsche-depressionshilfe.de/start (Öffnet in neuem Fenster)

Blaufeuer

https://blaufeuer.info/ (Öffnet in neuem Fenster)

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