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“Jeder Tag endete mit dem guten Gefühl, gemeinschaftlich etwas geschaffen zu haben.”

Bis vor zwei Jahren habe ich festangestellt in verschiedenen Redaktionen gearbeitet, zunächst für eine Regionalzeitung, anschließend für ein Onlinemagazin. Insgesamt war ich in über zehn Redaktionen tätig, feste Arbeitszeiten gab es nur in einer einzigen. Der Tag begann um 10 Uhr mit Redaktionsmeeting und Blattkritik, man ging die Nachrichtenlage durch, verteilte Themen, anschließend zogen sich die Autor*innen an ihre Arbeitsplätze zurück, telefonierten, recherchierten, schrieben und begannen rechtzeitig mit den Planungen für die Mittagspause, die regelmäßig und ausgedehnt in der Innenstadt begangen wurde.

Danach traf sich das Kernteam zur weiteren Planung im Konferenzraum, ehe die Recherchen am Nachmittag finalisiert wurden. Zum Abschluss des Tages versammelten sich die Kolleg*innen aus Sport-, Kultur-, Nachrichten- und Onlineredaktion vor einer Bildschirmwand und gingen die inzwischen fast fertigen Zeitungsseiten durch. Wenn jemand eine Schlagzeile nicht verstand, sie das Wort “nicht” enthielt oder mit einem Fragezeichen endete, musste sie in der Regel geändert werden.

Um 18.30 Uhr übernahm die Spätschicht, sodass man die noch nicht ganz fertige Zeitung zu diesem Zeitpunkt ruhigen Gewissens hinter sich lassen konnte. Dass dies unbestritten die beste Zeit meines Redakteurdaseins war, hängt sicher damit zusammen, dass ich gern Aufmacher und Leitartikel zu politischen und wirtschaftlichen Themen schrieb, aber auch mit den klaren, verlässlichen Abläufen. Ich möchte ungern jeden Tag das Gleiche machen, aber ich liebe Strukturen und Routinen. Ich brauche sie, wie ich erst später lernte, ganz dringend, um für meine mentale Gesundheit zu sorgen.

Jeder Tag begann, pausierte und endete zur selben Zeit. Und jeder Tag endete mit dem guten Gefühl, gemeinschaftlich etwas geschaffen und abgeschlossen zu haben. Etwas, das einen Wert für andere Menschen hatte, wenn sie am nächsten Morgen am Frühstückstisch saßen.

In allen anderen Redaktionen war meine Arbeitszeit mehr oder weniger unstrukturiert und ausufernd. Während Corona lösten sich alle zeitlichen und örtlichen Grenzen endgültig auf. Weil mein Arbeitgeber keine Arbeitszeitstrukturen vorgab, konnte jede*r selbst darüber entscheiden (mir war jedenfalls nichts Gegenteiliges bekannt).

Das bedeutete, dass ich mich irgendwann zwischen 8 und 9 Uhr an den Schreibtisch setzte und sich meine Arbeitszeit irgendwie über den ganzen Tag erstreckte, oft über zehn, elf Stunden. (Genau weiß ich es nicht, weil ich meine Arbeitszeit nirgendwo festhielt.) Wenn am nächsten Tag ein Artikel von mir erschien, diskutierte ich manchmal noch um zehn Uhr abends mit der Co-Autorin über den finalen Titel und nötige und unnötige Änderungen.

So zu arbeiten, war mit einer Freiheit verbunden, auf die manche Außenstehenden sicher neidisch wären. Mir ist sie nicht gut bekommen. Mir war unklar, welche Erwartungen eigentlich an mich gestellt wurden. Und wenn Erwartungen unklar sind, neige ich, wie viele andere, dazu, sie zugunsten des Arbeitgebers zu antizipieren und überzuerfüllen, was mich irgendwann in den Burnout treibt, weil ich überhaupt nicht mehr von der Arbeit abschalten kann. Aber, so habe ich es gelernt, die Interessen meines Arbeitgebers haben immer Vorrang. Für dieses Verhalten gibt es sogar einen Fachausdruck: interessierte Selbstgefährdung (dazu später mehr).

“Beschäftigte wollen in der Regel nicht unbegrenzt flexibel arbeiten.”

Wenn es nach der CDU und CSU geht, sieht etwa so, wie ich es gerade skizziert habe, die neue, wünschenswerte Realität der Arbeitszeit aus. In einem aktuellen Antrag der Unionsfraktion (Öffnet in neuem Fenster), der diese Woche im Ausschuss für Arbeit und Soziales diskutiert wurde, heißt es:

“Zunehmend mehr Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und auch Arbeitgeber haben den Wunsch, flexible Arbeitszeiten noch stärker als bisher zu nutzen. Denn eine individuelle Einteilung der Arbeitszeiten trägt erheblich zur Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei und hilft gerade Familien mit kleinen Kindern und zu pflegenden Angehörigen bei der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf.”

Unterzeichnet wurde der Antrag von Friedrich Merz und Alexander Dobrindt, denen man das Bemühen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf natürlich nicht ansatzweise abkaufen kann. Dahinter steckt nämlich nicht nur die Sorge der Unionsparteien um Eltern und Kindern, die möglichst viel selbstbestimmte Zeit miteinander verbringen sollen, und um Beschäftigte, die sich mehr Freiheiten wünschen. Die Union fordert nicht weniger als die Abschaffung der im Arbeitszeitgesetz festgeschriebenen Höchstdauer eines Arbeitstages von acht Stunden. Die Höchstarbeitszeit soll nach den Vorstellungen der Union stattdessen wöchentlich bemessen werden.

Zur Anhörung im Ausschuss war auch der Arbeitspsychologe Nils Backhaus geladen. Er ist Leiter der Fachgruppe Arbeitszeit und Flexibilisierung (Öffnet in neuem Fenster) bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, kurz BAuA. Er zählt in Deutschland zu den kompetentesten Expert*innen zum Thema Arbeitszeit und Gesundheitsschutz. Bei Linked In (Öffnet in neuem Fenster) teilt er regelmäßig neue Forschungsergebnisse und eigene Untersuchungen, wie etwa die Arbeitszeitbefragungen der BAuA (Öffnet in neuem Fenster).

Während der Anhörung hat Backhaus seine kritische Haltung zu dem Unionsantrag vorgetragen. In seiner Stellungnahme heißt es:

“Flexible Arbeitszeiten bieten dann eine Chance für Betriebe und Beschäftigte, wenn sie die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten unter den Bedingungen der Arbeits- und Lebenswelt berücksichtigen und hinreichend Erholungszeiten während der Arbeit (Ruhepausen) und nach der Arbeit (Ruhezeiten bzw. arbeitsfreie Wochenenden) ermöglichen. Beschäftigte wollen in der Regel nicht unbegrenzt flexibel arbeiten.”

Eine flexible Arbeitswelt, in der es keine Grenzen mehr zwischen Erwerbsarbeit und privater Zeit gibt, in der der Verzicht auf Zeiterfassung und Höchstarbeitszeit die Verfügbarkeit der Beschäftigten immer weiter erhöht, ist ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko, wie ich der umfangreichen Forschung dazu und meiner eigenen Erfahrung entnehmen kann. Ich habe erfahren, wie sehr klare Strukturen helfen, um Planungssicherheit zu gewinnen und Erwartungen zu klären. Wenn hingegen niemand Vorgaben macht, entstehen Unsicherheit und die Gefahr der Selbstüberforderung.

Ich habe mit Nils Backhaus ausführlich darüber gesprochen, wann Arbeit zur Gesundheitsgefahr wird, wie viel Flexibilität sinnvoll ist, was sich Beschäftigte wünschen, ob es so etwas wie die ideale Arbeitszeit gibt und warum es nicht ausreicht, bei der Arbeitszeit nur über eine bestimmte Stundenzahl zu diskutieren.

Ich habe in dem Gespräch viel dazugelernt und freue mich sehr darüber, es heute mit allen inseln der zeit-Mitgliedernzu teilen.

“Ich sehe die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten als Signal, dass die Belastungen in vielen Berufen reduziert werden müssen.”

Nils Backhaus, Arbeitspsychologe bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Foto: Uwe Völkner, Fotoagentur FOX

Herr Backhaus, wie genau hängen Arbeitszeit und Gesundheit zusammen?
Es gibt dazu sehr viele Untersuchungen, weil Arbeitszeit schon früh als wesentlicher Aspekt des Arbeitsschutzes gesehen wurde. Es gibt viele Überblicksstudien, Kohortenstudien und Metaanalysen, die zeigen, dass Arbeitszeiten weit über 40 Stunden mit einem hohen Risiko für das Wohlbefinden und die Gesundheit von Beschäftigten einhergehen.

Welche Risiken sind das?
Das sind zum einen kurzfristige Auswirkungen, die man nach einem langen Arbeitstag merkt. Das Wohlbefinden ist schlechter, man wird häufiger krank und fällt aus. Langfristig treten auch kardiovaskuläre Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, psychische und Verhaltensstörungen auf.

Lange Arbeitszeiten reduzieren aber auch die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit. Dadurch steigt das Risiko, dass man Fehler macht, dass Arbeitsunfälle während der Arbeit, aber auch Wegeunfälle nach der Arbeit passieren. Das heißt, auch für die Sicherheit ist das ein relevantes Thema. Aber natürlich auch für die Zufriedenheit, die Work-Life-Balance und die Teilnahme an sozialen Aktivitäten.

Es fehlt die Zeit für Tätigkeiten, die der Gesundheit und Zufriedenheit dienen.
Genau. Es gibt Studien darüber, dass man weniger Zeit mit der Familie verbringen kann, wenn man lange arbeitet, was ja einleuchtend ist. Aber es geht auch um gesellschaftliche Teilhabe. Dass Beschäftigte mit langen Arbeitszeiten seltener wählen gehen, sich seltener an demokratischen Prozessen beteiligen, ist auch ein Befund. (Öffnet in neuem Fenster)

Welche Wochenarbeitszeit wäre aus gesundheitlicher und sozialer Sicht ideal?
Grundsätzlich gibt es nicht „die“ ideale Wochenarbeitszeit, vieles hängt von individuellen Faktoren ab. Das sind individuelle Bedürfnisse, Lebensumstände, die Art der Arbeit, die einwirkenden Belastungen und natürlich auch persönliche Präferenzen.

Sie führen mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin regelmäßig Arbeitszeitbefragungen (Öffnet in neuem Fenster) durch. Welche Arbeitszeit wünschen sich Beschäftigte?
Zuerst einmal sehen wir, dass die tatsächliche Arbeitszeit häufig über die vertraglich festgelegte Arbeitszeit hinausgeht. Bei der Arbeitszeit, die sich Beschäftigte wünschen, sehen wir in den letzten Jahren einen Rückgang.

Das gilt aber nicht für die tatsächliche Arbeitszeit, die seit vielen Jahren stagniert. Vor einiger Zeit hätte es für viele Beschäftigte noch ausgereicht, wenn sie die vereinbarte Arbeitszeit geleistet hätten. Sie wären also zufrieden gewesen, wenn die Überstunden nicht angefallen wären. Aber mittlerweile ist es so, dass die gewünschte Arbeitszeit sogar kürzer ist als die vertragliche Arbeitszeit.

Neben der Länge der Arbeitszeit gibt es aber noch andere Dimensionen der Arbeitszeit, die die Gesundheit und Zufriedenheit beeinflussen. Welche Erkenntnisse haben Sie dazu?
Ein Faktor, der mit hohen Risiken einhergeht, ist die Lage der Arbeitszeit. Dabei geht es darum, ob Beschäftigte Schichtarbeit, Abend- und Nachtarbeit oder Wochenendarbeit leisten. Insbesondere von der Schichtarbeit wissen wir, dass sie den Tag-Nacht-Rhythmus und hormonelle Prozesse stört. Das kann Stoffwechselerkrankungen und sogar Krebs auslösen.

Für diese Beschäftigten gibt es wenig Verlässlichkeit und sich häufig ändernde Arbeitszeiten. Sind flexible Arbeitszeiten generell ein Risiko?
Es gibt einmal die Flexibilität aus Sicht der Beschäftigten. Das bedeutet, man kann Einfluss nehmen auf die Arbeitszeit, was überwiegend mit einer besseren Gesundheit und einer höheren Zufriedenheit einhergeht. Es gibt aber auch die fremdbestimmte Flexibilität: Arbeit auf Abruf, Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, kurzfristige Änderungen, geringe Planbarkeit von Arbeitszeiten. Das hat genau den gegenteiligen Effekt.

Flexibilität bedeutet auch, dass Menschen nicht mehr am Stück arbeiten, sondern über den Tag verteilt, etwa im Homeoffice. Was sind die Risiken dieser flexiblen Arbeitsweise?
Das nehmen wir in letzter Zeit immer häufiger in den Fokus. Die Arbeitszeit wird dann umverteilt in viele einzelne Arbeitsepisoden. Dadurch entsteht häufiger Stress durch die vielen Wechsel. Die Arbeit dehnt sich länger über den Tag aus, was wiederum die Ruhezeit reduziert. Es fehlt die geschlossene, gebündelte Zeit für Erholung.

Machen es sich moderne Firmen zu leicht, wenn sie ihren Angestellten sagen: Arbeitet doch einfach, wie ihr wollt?
Ja. Bei der Arbeitszeitflexibilität gilt nicht: Je mehr, desto besser. Es gab früher immer so das Credo, dass es möglichst viele Freiheiten bei der Arbeitszeitgestaltung für Beschäftigte geben sollte. Das wurde dann oft „Vertrauensarbeitszeit“ genannt, mit maximalem Handlungsspielraum. Der Arbeitgeber vertraut dann darauf, dass die Ergebnisse stimmen und dass die Arbeitszeit komplett frei eingeteilt werden kann. Wer auf diese Weise arbeitet, hat nicht die gesundheitlichen Vorteile, die jemand hat, der flexibel mitbestimmen kann, aber klare Strukturen vorfindet. Sondern es geht dann oft in Richtung interessierte Selbstgefährdung.

Was heißt das?
Die Beschäftigten überarbeiten sich, machen Überstunden, arbeiten auch, wenn sie krank sind, halten Pausen nicht ein oder unterbrechen Pausen. Sie sind auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar und unterbrechen dadurch ihre Ruhezeiten. Diese Risiken gehen häufig mit flexiblen Arbeitszeiten einher.

Was zunächst auch der Karriere dienlich sein kann, während man langfristig seine Gesundheit aufs Spiel setzt.
Genau. Die Folgen, die auftreten, sind nicht unmittelbar, sondern treten häufig erst im zeitlichen Versatz auf, sodass die Beschäftigten gar nicht mitbekommen, dass sich ihre Gesundheit verschlechtert. Wenn dann eine Erkrankung auftritt, ist es meistens schon zu spät. Dann scheiden sie aus dem Arbeitsleben aus, müssen ihre Arbeitszeit vielleicht noch drastischer reduzieren und verschärfen dadurch letztlich auch den Arbeitskräftemangel.

Sollte in den Diskussionen über Arbeitszeit weniger über die Stundenzahl und mehr darüber gesprochen werden, wie Arbeitszeiten gestaltet werden?
Ich sehe die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten als Signal dafür, dass die Belastungen in vielen Berufen reduziert werden müssen. Die Arbeitszeit bemisst ja auch, wie lange Menschen möglichen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind. Also zum Beispiel, wie lange sie mit Kundinnen und Kunden in der Emotionsarbeit verbringen oder auch, wie lange sie mit biologischen Gefahrenstoffen in Kontakt geraten.

Die vielen Streiks, etwa bei der Bahn, zeigen, dass das System an vielen Stellen krankt. Das bekommen wir aber alles nicht so schnell reformiert und deshalb weiß man sich nicht anders zu helfen, als zu sagen: Wir wollen die Leute weniger diesen starken Belastungen ausgesetzt sehen, und wir wollen ihnen mehr Zeit für Erholung bieten.

Entwicklungen wie die Viertagewoche zeigen, dass es auch anders gehen könnte.
Schon die Pandemie hat gezeigt, dass es reduzierter gehen kann an vielen Stellen. Wir können kürzer arbeiten, flexibel von zu Hause, wir können an einigen Stellen in unserer Arbeitswelt Belastungen reduzieren, Pendelzeiten verkürzen und dadurch entstehen neue Möglichkeiten. Und ich glaube, diesen Möglichkeitsraum kriegt man nicht mehr eingefangen. Selbst in einer Rezession sagen Beschäftigte und Gewerkschaften: Wir müssen unsere Gesundheit schützen und Belastungen reduzieren, und deshalb gehen wir auf das Thema Arbeitszeit. Das Thema hat einen ganz hohen Stellenwert für Beschäftigte bekommen.

Kategorie Interview

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