... die wartete, dass man sie befreite
Ich habe in meinem Newsletter diese Woche (Öffnet in neuem Fenster) vergessen zu erwähnen, dass inseln der zeit ein Jahr alt geworden ist. Und was ich ohnehin vergessen habe, ist, dass in diesem Jahr im Steady-Backend eine beträchtliche Zahl an unverschickten Newslettern zusammengekommen ist. Texte also, die einmal die nächste Ausgabe werden sollten, bei denen es dann aber doch nicht gelungen ist, sie zu Ende zu denken und auszuformulieren. Ich könnte sie nun getrost aussortieren, schreiben werde ich sie wohl kaum noch. Und wenn sie nicht fertig geworden sind, taugen die Ideen vielleicht auch einfach nichts.
Aber mittlerweile bin ich da nicht mehr so sicher. Seit ich Das glückliche Geheimnis von Arno Geiger gelesen habe, denke ich etwas anders über Geschriebenes und wieder Verworfenes. Geiger erzählt in dem Buch von seinen jahrelangen Streifzügen durch Wien, bei denen er in Papiertonnen herumwühlt und alte Bücher, Zeitungen, Briefsammlungen und Tagebücher nach Hause schleppt. Er verkauft die Bücher auf Flohmärkten, die persönlichen Aufzeichnungen liest er, und sie beginnen, sein Schreiben von Grund auf zu ändern.
Arno Geiger, seit Jahren einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Romanautoren, bekennt erst jetzt in der Offenlegung seines geheimen Doppellebens, wie sehr die Fundstücke sein Verständnis von Literatur und zugleich sein Menschenbild geprägt haben. In einer FR-Rezension über das Buch heißt es: "Ein Buch, ohne das man künftig nicht mehr über das Romanschreiben (und Lesen und Reden über Literatur) nachdenken sollte."
Genauso dachte ich auch beim Lesen. Jede*r, die mit Schreiben zu tun hat, sollte meiner Meinung nach dieses Buch lesen. Denn es geht darum, dass Literatur – und ich denke, das gilt auch für Journalismus – meist sehr konsistente Textformen sind, in dem Sinne, dass Figuren und Handlungen logisch, rational und konsequent gestaltet sind. Das Widersprüchliche eines Menschen kommt in den Protagonist*innen literarischer und journalistischer Texte selten zum Vorschein. Vielmehr werden repräsentative Personen ausgewählt, um größere, übergeordnete Sachverhalte und Entwicklungen zu verdeutlichen. Für diesen Zweck braucht eine Person eine gewisse Stimmigkeit, die aber der Komplexität, Tiefe und manchmal auch Zerrissenheit eines Menschen nicht gerecht wird.
Titelbild: Lena Nikcevic
In Geigers Funden stellt sich das alles etwas anders dar. Dort sind die Figuren, die ja einfach sie selbst sind und keinen Protagonisten darstellen müssen, weniger nachvollziehbar und schlüssig. Der widersprüchliche, zaudernde, zweifelnde Mensch ist aber die viel realistischere Version des Menschen. Und deshalb, so lese ich Geiger, ist die Literatur nicht wahrhaftig genug, und sie verblasst in ihrer Kunstfertigkeit gegenüber den realen Zeugnissen der Menschen, die irgendwann in Papiercontainer wandern und vernichtet werden, wenn sie nicht jemand herausfischt.
Nach dieser etwas langen Vorrede, die dazu dienen soll, den Wert des Undurchdachten, des Vorläufigen, des Zufälligen und Unfertigen zu betonen, stelle ich in meiner heutigen B-Seiten-Ausgabe die Newsletter vor, die ich nie verschickt habe. Mal sehen, vielleicht werde ich einen davon ja doch noch schreiben. Am Ende kannst du darüber abstimmen, welchen Newsletter du gern noch ausführlicher lesen würdest.
Warum wohnt dem Anfang einer Woche kein Zauber inne?
Der Start dieses Newsletters markiert ziemlich genau den Beginn meiner Selbständigkeit, nachdem ich kurz zuvor meinen Job als Redakteur gekündigt hatte. Die gewonnene Zeitsouveränität führte dazu, dass ich erst mal einen neuen, eigenen Arbeitsrhythmus schaffen musste. Ich stellte bald fest, dass ich Montag meine Schwierigkeiten hatte, in die Woche zu starten. Nachdem meine Frau bereits früh im Dienst war und ich die Kinder zur Kita gebracht hatte, fiel es mir nicht so leicht, zurück nach Hause zu fahren und allein in meinem Arbeitszimmer anzufangen. Der Montag stellte sich häufig als sehr widerspenstiger Arbeitstag heraus. Ich fragte mich, ob ich etwas falsch machte und wollte diesem merkwürdigen Charakter des Montags auf die Spur kommen. Scheinbar ging es auch nicht nur mir so, denn in den sozialen Medien trendete irgendwann die Idee des "Bare Minimum Monday", die darin besteht, das man sich montags nur das Allernötigste vornehmen soll.
Mangels weitere kluger Einsichten verwarf ich aber die Idee, einen Text darüber zu schreiben, warum jeder Tag anders ist. Denn nicht nur der Montag hatte einen eigenen Charakter, auch der Freitag – wieder so ein Übergangszeitraum zwischen Wochenende und Werktag – war anders. Schon zu meinen Studienzeiten war Freitag meist der Tag, an dem ich meine Studiensachen liegen ließ und Songs auf der Gitarre schrieb.
Warum auch immer war das der Tag, an dem ich kreativ wurde. Es scheint, als würde sich Freitag ein Fenster zu öffnen, in das ich einsteige und irgendetwas Unerwartetes mit zurückbringe. Oder ich lass es sein und gehe meinen gewohnten Abläufen nach. Dieses Fenster gibt es immer noch, wie ich im Laufe des letzten Jahres bemerkte. Die meisten Newsletter (auch dieser) sind bisher an einem Freitag entstanden. Anscheinend ermöglicht mir der Tag, mich von bestimmten Formen und Ansprüchen zu lösen, und freier zu sein in meinem Schaffen. Viel weiter bin ich in meinem Erkenntnisprozess aber nicht, und deshalb ist der Newsletter über die Verschiedenheit der Tage nie erschienen.
Warum ich über die Zeit schreibe
Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Newsletter verschicken werde, in dem ich erkläre, warum ich über die Zeit schreibe. Der einzige längere Teil meines 2021 erschienenen Buchs Zeitwohlstand für alle, den ich kurz vor der Fertigstellung komplett gestrichen habe, bestand aus mehreren Seiten, in dem ich versucht habe herauszufinden, woher mein Interesse an Zeit, insbesondere im Kontext von Arbeit rührt.
Ich fand aber, dass es schon genügend persönliche Sichtweisen gab und ließ den Teil weg. Ich glaube, jede*r, der oder die sich beruflich auf ein bestimmtes Fach spezialisiert, hat dafür auch biografische Gründe. Diese Gründe bleiben oft im Dunkeln, obwohl sie vielleicht eine ganze Menge zum Verständnis des Sachgegenstandes beitragen könnten. Ich habe das mal in einem Podcast versucht zu erläutern, auch in der neuen Folge von How I met my money (Öffnet in neuem Fenster) versuche ich darauf einzugehen, wie meine kulturelle Prägung, meine soziale Herkunft und mein Drang nach Autonomie und Unabhängikeit dazu beigetragen haben, dass Zeit ein existenzielles Thema für mich wurde. Einen Text darüber habe ich aber noch nie veröffentlicht.
Arbeiten, wie du wirklich, wirklich kannst
Auf meinen Newsletter über meinen aufgegebenen Traum, Musiker zu werden, (Öffnet in neuem Fenster) habe ich mehr Reaktionen bekommen als sonst. Ich schrieb darüber, wie schwer es ist, ein einmal gesetztes Ziel aufzugeben. Mein Selbstbild war immer stark mit der Vorstellung verbunden, Musiker und Songwriter zu sein, selbst dann noch, als ich kaum noch dazu kam, Musik zu machen. (Irgendwann musste ich freitags der Erwerbsarbeit nachgehen, die kreativen Fenster waren verschlossen.)
Ich habe also noch ein wenig weiter darüber nachgedacht. Über die Frage, wie wir eigentlich zu der Entscheidung finden, welchen beruflichen Weg wir einschlagen. Irgendwann musste ich an den Satz denken, auf den man früher oder später unweigerlich stößt, wenn man sich mit New Work beschäftigt, also mit der Kultur und Zukunftsfähigkeit von Arbeit. Immer wieder ist zu lesen, ich solle arbeiten, wie ich wirklich, wirklich will.
Dieses Ideal moderner Arbeit macht es Menschen ganz schön schwer. Es erweckt den Anschein, als gäbe es die eine perfekte Aufgabe für mich, und als wäre die zweit- oder drittbeste Aufgabe niemals gut genug.
Außerdem wird beim Thema New Work, das häufig eher unwissenschaftlich und unpolitisch verhandelt wird, übersehen, dass es Gruppen gibt, die nicht die Chance haben, so zu arbeiten, wie sie wollen. Ich habe deshalb darüber nachgedacht, einen Newsletter mit einem anderen Titel zu verschicken: Arbeiten, wie du wirklich, wirklich kannst. Es gibt exkludierte Gruppen, denen der Arbeitsmarkt nicht offensteht. Es gibt auch Gruppen, die gesundheitlich eingeschränkt sind und bei denen das Arbeiten können wichtiger ist als das perfekt entfaltete berufliche Dasein.
Immer drängender wird auch die Frage, wie das Potenzialer älterer Arbeitnehmer*innen erhalten werden kann. Deshalb sollte es bei guten Arbeitsbedingungen nicht immer nur um Wachstum gehen, sondern viel stärker um Grenzen. Mit der Leistungs- und Selbstverwirklichungsorientierung von New Work kann ich jedenfalls wenig anfangen. Das erzeugt so viel Druck. Ich würde lieber über Grenzen sprechen. Oder darüber, warum auch die zweitbeste Option, das Durchschnittliche, das Unspektakuläre, das Komfortable, manchmal genau das Richtige ist.
Endlich wieder konzentriert arbeiten
Es gibt nichts, wofür ich in meiner Tätigkeit als Journalist so dankbar bin wie für die Möglichkeit, mit so vielen besonderen und klugen Menschen sprechen zu können. Einige der Gespräche, die ich seit letztem Jahr geführt habe, haben Eingang in meinen Newsletter gefunden. Auch von meinem Gespräch mit Vera Starker vom Thinktank Next Work Innovation wollte ich berichten. Sie hat im vergangenen Jahr eine viel beachtete Studie über Arbeitsunterbrechungen und Multitasking (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht.
In unserem Interview erklärte sie mir, warum ablenkungsfreies, konzentriertes Arbeiten so wichtig ist und wie Beschäftigte Fokuszeiten nutzen können, um ohne Achtstundentage weniger gestresst und sehr produktiv zu sein. Konzentriertes Arbeiten gehört zu den wenigen Produktivitätstools, die ich wirklich hilfreich finde und in denen ein riesiges Potenzial steckt, etwa mit Blick auf Arbeitszeitverkürzungen. Ich wollte diesem Thema eigentlich einen eigenen Newsletter widmen.
Das Professional inseln der zeit-Briefing
In den letzten Wochen bin ich auf viele Studien und Bücher gestoßen, die sich direkt oder auch im weiteren Sinne mit Zeit befassen und es deshalb verdient hätten, in einem Newsletter über Zeit erwähnt zu werden. Auf meinem Tisch liegen Befragungen zur Viertagewoche, Studien zu Arbeitssucht, Konzepte über den Zusammenhang von Arbeitszeitverkürzung und Klimaschutz, Handlungshilfen zur Verringerung von Arbeitsdruck.
Zum Start dieses Newsletters habe ich angekündigt, regelmäßig über neue Bücher und Studien zu berichten. Seit Kurzem arbeite ich als Autor für Table Media, einem neuen, sehr erfolgreichen journalistischen Angebot, das auf "Domänenkompetenz" und "Deep Journalism" setzt und jede Woche sogenannte Professional Briefings zu verschiedenen Themen verschickt. Table Media hat beispielsweise inzwischen die größte China-Redaktion in Deutschland aufgebaut. Andere Medien greifen auf Artikel von Table Media zurück, weil sie in den eigenen Reihen nicht die notwendige Fachkenntnis haben. Ich arbeite für das ESG Table (Öffnet in neuem Fenster), bei dem es um nachhaltiges Wirtschaften geht. Daraufhin habe ich mir vorgenommen, künftig auch regelmäßige Zeit-Briefings zu verschicken. Daraus ist aber bisher nichts geworden.
Stattdessen möchte ich aber auf den im Fachmagazin journalist erschienenen, frei zugänglichen Text Deep Journalism – Eine Chance für die Qualitätsmedien (Öffnet in neuem Fenster) verweisen, für alle, die es interessiert. Ob du eine Zeit-Briefing gern lesen würdest, kannst du mir am Ende dieses Newsletters verraten (oder mir gerne auch direkt auf diese Mail antworten).
Die Diskriminierung der Eulen
Dann gibt es noch zwei weitere ungeschriebene Newsletter. Schon im Januar habe ich mit dem Chronobiologie-Experten Michael Wieden (Öffnet in neuem Fenster) für ein RND-Interview (Öffnet in neuem Fenster) darüber gesprochen, wie sich die Arbeitswelt besser auf die unterschiedlichen Chronotypen einstellen kann. Ich bin selbst wahrscheinlich nicht besonders gut darauf eingestellt, weil ich schon bei der Interviewanfrage einen Fehler gemacht habe. Ich hatte Michael Wieden vorgeschlagen, ihn morgens anzurufen und habe nicht daran gedacht, dass mein Gesprächspartner ein "Spättyp" ist, wie er selbst sagt.
Für mich, genau wie für viele andere Menschen, ist der Morgen sehr gut geeignet, um zu arbeiten, zu lernen und strukturiert zu denken. Ich würde mich nicht als Lerche bezeichnen, sondern liege in der Chronotypen-Verteilung ziemlich genau in der Mitte, vielleicht mit einer Tendenz zum Frühtypen. In einem Newsletter wollte ich näher darauf eingehen, wie eine chronotypenorientierte Personalplanung aussehen kann – ein für mich ganz entscheidender Faktor, wenn es darum geht, ein gutes Arbeitszeitmodell zu entwickeln. Michael Wieden und ich haben uns übrigens schließlich auf 12 Uhr geeinigt. "Da sind Sie noch nicht müde und ich schon fit", schrieb Wieden. Genauso ist es.
Das Ende der Sommerzeit
Und zu guter Letzt: Das Thema Zeitumstellung könnte endlich, endlich mal der Vergangenheit angehören. Es gibt einen von führenden europäischen Schlafforscher*innen und Chronomediziner*innen entwickelten Plan, der die Uhrenumstellung für immer beenden könnte: die Einführung permanenter Zeitzonen. Ich wollte das Konzept hier mal vorstellen, aber auch dazu bin ich noch nicht gekommen.
Jetzt würde ich mich freuen, wenn du noch kurz an meiner Umfrage teilnehmen würdest, in der du mitbestimmen kannst, welchen unverschickten Newsletter ich vielleicht doch noch schreiben soll und wie es im zweiten Jahr mit den inseln der zeit weitergeht. Hier (Öffnet in neuem Fenster) kommst du zur Umfrage, es dauert maximal zwei Minuten.
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