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An einem Montagmorgen

vor ein paar Wochen lief ich zu Fuß nach Hause, nachdem ich meine Kinder in die Kita gebracht hatte. Bevor die neue Arbeitswoche begann, wollte ich noch etwas draußen sein und ein paar Schritte gehen. Kurz bevor ich zu Hause ankam, setzte ich mich an einer Wiese auf eine Bank, um die Podcastfolge zuende hören zu können, die ich gerade im Ohr hatte.

Doch daraus wurde nichts. Ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, kam näher und fragte, ob er sich neben mich setzen dürfe. Es sei schwül, er brauche eine Pause. Ich machte ihm Platz und wir kamen ins Gespräch. Normalerweise bin ich nicht besonders gut darin, Smalltalks zu führen, weil es mich anstrengt, über belanglose Dinge zu sprechen. Es wurde aber schnell klar, dass dies kein Smalltalk war. Der Mann erzählte mir, dass er hier normalerweise mit seinem Hund unterwegs war. Doch der Hund sei gerade gestorben. Jetzt musste er seine Runden allein drehen.

Der Mann wirkte traurig. Und ich ahnte bereits, dass seine Trauer umfassender war und tiefer reichte, als man nach dem Verlust eines Haustiers annehmen konnte. Er erzählte mir, dass er seit Jahrzehnten unter Depressionen litt. Ohne nachzudenken erwiderte ich, dass das bei mir auch der Fall sei. In der Situation wirkte es vollkommen normal, offen darüber zu reden. Jetzt erscheint es mir schon wieder erstaunlich, dass wir gegenüber Fremden oft so viel ehrlicher und authentischer auftreten als gegenüber uns vertrauten Menschen.

Es fühlt sich nicht richtig an und deshalb verzichte ich darauf, die Geschichte dieses Mannes und unsere Begegnung im Detail nachzuerzählen. Ich habe in den zehn oder fünfzehn Minuten, die wir sprachen, mehr über diesen Menschen erfahren als über manch andere bekannte Person in einem ganzen Leben. Es wurde etwas Verborgenes sichtbar, und immer wenn Verborgenes sichtbar wird, wenn unbeachtete Schicksale sich zeigen, erweckt unweigerlich der Journalist in mir, der Verborgenes sichtbar zu machen als das Kerngeschäft seines Berufs versteht.

Die Geschichte des Mannes, deshalb erzähle ich sie, ist zugleich die Geschichte unzähliger anderer Männer: Ein Leben lang gearbeitet, zu wenig verdient, wenig Freizeit, wenige Gelegenheiten, intensive soziale Beziehungen zu pflegen. Nach dem Arbeitsleben fehlen deshalb sinnstiftende Tätigkeiten und Beziehungen über die eigene Partnerschaft hinaus. Mir ist klar, dass psychische Erkrankungen multifaktoriell sind. Das heißt, es sind verschiedene Faktoren, die auftreten und zusammenwirken und Krankheiten verursachen, begünstigen und wiederkehren lassen. Das können genetische Veranlagung sein, traumatische Erlebnisse, Vernachlässigungen in der Kindheit, unverarbeitete Trauer. Es können auch die Belastungen des Alltags sein, für die es keine Erklärungen braucht, die tief in die Vergangenheit reichen, die zu Erschöpfung, Ängsten und Depressionen führen.

Wer anders leben will, lebt hier nicht

Und immer dann, wenn gegenwärtige Belastungen, Lebensbedingungen und Verhaltensmuster zu psychischen Belastungen und Störungen führen, kommt man nicht umhin, die gesellschaftlichen Umstände zu berücksichtigen, die diese Belastungen möglicherweise begünstigen. Das wurde mir erneut klar, als ich über das Gespräch mit dem Mann nachdachte. Er hat ein typisches Leben geführt, wie es viele andere Männer hier leben. Ich lebe wieder in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einer ehemaligen Bergbaustadt in Westfalen, mit wenig Arbeitslosigkeit, aber einem im NRW-Vergleich unterdurchschnittlichen Einkommensniveau. Die Menschen hier waren schon immer pflichtbewusst, fleißig und genügsam. Sie haben sich eingefügt. Sind zur Schule gegangen, haben eine Ausbildung gemacht, eine Stelle angenommen und sind möglichst in ihrem Beruf und bei ihrem Arbeitgeber geblieben. Wer anders leben will, lebt hier nicht.

Aber was bleibt nach diesem Leben, für das es den soziologischen Begriff Normalbiografie gibt? Der Mann, der mir seine Geschichte erzählte, erzählte mir nicht von einem Einzelschicksal. Es ist das Schicksal der Männer, für die ein Leben lang die Arbeit im Mittelpunkt stand, die es nicht gelernt haben, langjährige, tiefe Freundschaften zu pflegen, die sie auch im Alter noch tragen. Die ihr soziales Netz verlieren, wenn der Kollegenkreis nicht mehr da ist. Deren Bedürfnis, wirksam zu sein und eine gesellschaftliche Funktion auszuüben, mit dem Ausscheiden aus dem Beruf nicht mehr erfüllbar ist.

Es ist keine besonders gewagte These, dass die klassische männliche Erwerbsbiografie, die noch immer als Leitbild gilt, nicht gerade die prädestinierte Lebensform ist, um psychische Gesundheit und soziales Miteinander zu fördern. Ähnlich argumentiert zum Beispiel die Soziologin Silke Ohlmeier, mit der ich kürzlich über die sozialen Ursachen existenzieller Langeweile gesprochen habe. (Öffnet in neuem Fenster)

Sie hat in ihrer Forschung herausgefunden, dass Langeweile häufig ältere Menschen und darunter häufiger Männer trifft. Sie sagt: "Das Leben ist sehr auf Erwerbsarbeit ausgerichtet. Es gibt kaum Pausen, wenig Teilzeit, wenig Elternzeit bei Männern. Dann kommt plötzlich die Rente." Manche Männer hätten es nicht gelernt, ihr Leben jenseits von Arbeit zu gestalten. Da hätten Frauen häufig einen Vorsprung, aber nicht immer. "Auch unter Frauen ist die Ansicht verbreitet, dass der Ausweg aus der Langeweile darin besteht, arbeiten zu gehen." Silke Ohlmeier folgert daraus: "Es fehlen uns gesellschaftliche Rollen und Möglichkeiten, um selbstbestimmte Zeit jenseits von Arbeit zu verbringen." Die Folgen von chronischer, existenzieller Langeweile sind häufig negative Emotionen wie Angst, Einsamkeit, Aggression oder Depressionen.

"Das Kind in dir sollte mehr aus dem Haus und auf die Straße!"

Auch der Psychotherapeut Thorsten Padberg setzt sich dafür ein, dass die gesellschaftlichen Ursachen von Depressionen stärker thematisiert werden: "Ich will versuchen, eine andere Geschichte der Depression zu erzählen. Eine, in der es weniger um Medikamente und Gehirnstoff-Wechsel geht. Und in der sich jeder sofort verpflichtet fühlt, in Therapie zu gehen, wenn es ihm mal ganz schlecht geht", sagte er in einem Deutschlandfunk-Nova-Interview (Öffnet in neuem Fenster). Und in einem aktuellen Radiobeitrag für Dlf Kultur (Öffnet in neuem Fenster) führt er aus: "Egal, wo der Schuh drückt, wir sollen eine Lösung in uns selbst finden. Ich habe meine Zweifel, dass sich die Probleme der Welt dort lösen lassen."

Er fordert deshalb mehr Straßenkampf statt Therapie:

"Die echte Lösung liegt nicht in uns, in der Selbstverbesserung. Sie liegt bei uns. Das Kind in dir sollte mehr aus dem Haus und auf die Straße! Dort trifft es vielleicht Gleichgesinnte, die mit ihm gemeinsam für Chancengleichheit, gute Schulen, Kitas oder finanzielle Sicherheit kämpfen.

Tun wir etwas gemeinsam, wird die Beschäftigung mit den Abgründen der Seele zu einem Nebenschauplatz. Psychologie wird die Welt nicht retten, das müssen wir tatsächlich schon selbst tun. Wir können das auch, wenn wir statt unseres Innenlebens wieder das Leben da draußen in den Blick nehmen."

Ich finde seine Ausführungen nicht ganz unproblematisch, weil Menschen mit Depressionen oder Ängsten häufig nicht in der Lage sind, raus zu gehen und statt Straßenkampf zunächst dringend professionelle Hilfe benötigen. Außerdem, wie bereits oben gesagt, sind es nicht zwangsläufig gesellschaftliche Gründe, sondern biografische Erfahrungen oder genetische Veranlagung, die mit Therapie und/oder Medikamenten behandelt werden müssen.

Jede*r zehnte Beschäftigte ist arbeitssüchtig

Dennoch erscheint es mir wichtig und zeitgemäß, den Blick nicht nur darauf zu richten, wie jede*r sich am besten selbst hilft, indem er oder sie beispielsweise monatelang für einen Therapieplatz kämpft oder mit Büchern, Apps und Onlineprogrammen an der eigenen Resilienz arbeitet, sondern insbesondere darauf, welche sozialen Ursachen dazu beitragen, dass Menschen überlastet, erschöpft, ängstlich und depressiv sind.

Nur ein paar aktuelle Zahlen, die mich heute überhaupt erst dazu veranlasst haben, über dieses Thema zu schreiben:

  • In Nordrhein-Westfalen, meinem Bundesland, haben Arbeitnehmer*innen im Jahr 2022 so oft wie nie zuvor mit Depressionen oder Ängsten am Arbeitsplatz gefehlt. Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg und Sachsen melden ähnliche Höchststände.

  • Eine bereits einige Wochen alte Meldung (Öffnet in neuem Fenster) auf Grundlage einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung (Öffnet in neuem Fenster): Jede*r zehnte Erwerbstätige in Deutschland ist arbeitssüchtig. Das heißt, die Betroffenen arbeiten nicht nur sehr lange und schnell, sie können auch nur mit schlechtem Gewissen freinehmen und fühlen sich oft unfähig, im Feierabend zu entspannen. Deshalb leiden sie deutlich häufiger als andere Arbeitnehmer*innen unter gesundheitlichen Problemen.

Zu diesem Thema empfehle ich die heute erschienene neue Folge des Podcasts How I met my money (Öffnet in neuem Fenster). Darin sagt der SZ-Journalist Benjamin Emonts, der viel zu dem Thema recherchiert hat, dass Arbeitssucht sogar belohnt werde, zumindest solange der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin funktioniert.

"Das ist das Perfide an der ganzen Sache: Menschen, die arbeitssüchtig sind, werden am Anfang krass gefeiert von ihren Chefs und Kollegen. Man steigt oft erst mal auf in der Karriereleiter, man bekommt wahrscheinlich mehr Geld, die Leute schauen zu einem auf. Das ist das Problem, dass man am Anfang nur die positiven Effekte sieht und darüber die Probleme, die man vor allem im privaten Bereich entwickelt, vielleicht nicht so groß erscheinen, wie sie wirklich sind."

Unsere moderne Arbeitswelt befördere Arbeitssucht in gewisser Hinsicht, sagt Benjamin Emonts. In vielen Betrieben würden die Personaldecken immer dünner, die Digitalisierung funktioniere auch nicht überall reibungslos, das Homeoffice habe dazu geführt, dass Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen. "Die heutige Zeit fordert den Menschen ab, dass sie sehr viel arbeiten", sagt Emonts.

Die Böckler-Studie hat nicht nur ergeben, dass 10 Prozent aller Beschäftigten suchthaft arbeiten: "Weitere 33 Prozent arbeiten exzessiv – aber nicht zwanghaft. 54,9 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten dagegen „gelassen“. Und eine kleine Gruppe arbeitet zwar nicht viel, aber zwanghaft."

Das heißt: Fast die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet zwanghaft oder exzessiv. Dazu passt eine weitere aktuelle Nachricht:

  • Beschäftigte haben in Deutschland im Jahr 2022 rund 1,3 Milliarden Überstunden geleistet. Das entspricht 809.000 Vollzeitstellen und umgerechnet etwa 31 Überstunden pro Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer.

Allein diese Zahlen und Befunde sollten Anlass genug sein, um darüber nachzudenken, welche alternativen Arbeitsmodelle gesamtgesellschaftlich betrachtet eine bessere Lösung darstellen könnten. Wie ich hier schon einmal berichtet habe, hat der umfangreiche Test der Viertagewoche in Großbritannien ergeben, dass das Burnoutrisiko um 71 Prozent sank.

Kritiker*innen bemängeln gern, dass sie bei einer Viertagewoche ja mehr Personal benötigen. Dass sie aber auch mehr Personal brauchen, weil Menschen kündigen und weil andauernd überlastete und kranke Mitarbeiter*innen ausfallen, gehört auch zur Realität, die unerwähnt bleibt. Martin Gaedt, der sich viele Unternehmen in Deutschland mit der Viertagewoche angeschaut hat, sagte mir, (Öffnet in neuem Fenster) dass alle Unternehmen mit einer Viertagewoche über sinkende Krankmeldungen berichten.

Also: Was hält Geschäftsführer*innen, Vorstände, Führungskräfte davon ab, dies anzuerkennen? Wie viele Argumente für kürzere Arbeitstage und -wochen benötigen sie noch? Wann ist der Punkt erreicht, an dem Wirtschaftsunternehmen anerkennen, dass Menschen auch andere Ziele im Leben haben, als sich mit Haut und Haaren ihren Interessen zu verschreiben?

Wann erkennen Menschen selbst, dass es noch ein Leben neben der Arbeit gibt, für das es sich lohnt, sich den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen zu widersetzen? Wie oft wollen sie sich noch einreden lassen, dass das Geschäft und die Wirtschaft und der Wohlstand den Bach runtergehen, wenn die Arbeitszeit sinkt? Sollte eine Gesellschaft wirklich darunter leiden, wenn Menschen anfangen, sich um sich selbst zu kümmern, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen und gelassener durchs Leben zu gehen? Soll daraus gesellschaftlicher Schaden entstehen?

Ich wünsche mir so sehr, der Mann auf der Bank hätte eine Perspektive, die ihm Halt gibt. Menschen, Tätigkeiten und Aufgaben, die ihn Sinn, Resonanz und Selbstwirksamkeit spüren lassen. Die ihm helfen, über den Verlust seines Hundes hinwegzukommen. Sein Leiden ist kein einzelnes Leiden. Geschichten wie die des Mannes zeigen, wie folgenreich, wie persönlich, wie intim das ist, was häufig technisch als Struktur bezeichnet wird. Aber es ist nicht technisch. Es sind politische Entscheidungen, die Regierungen, Unternehmen und Organisationen treffen, die darüber bestimmen, ob Menschen ein zufriedenes und gesundes Leben führen. Ich möchte mir nichts anderes mehr einreden lassen. Niemals würde ich auf die Idee kommen, dem Mann zu sagen, er sei selbst Schuld daran, dass er die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat.

Den Idealen von wirtschaftlichem Wachstum, beruflicher Karriere und materiellem Reichtum stelle ich eine andere Vorstellung von Gesellschaft entgegen, die auf Zeitwohlstand aufbaut. Demnächst wird es eine Impulsveranstaltung zu diesem Thema auf dem New Pay Campus (Öffnet in neuem Fenster) mit mir geben. Die Veranstaltung trägt den Titel Zeitwohlstand & Zeitkompetenz. Strategien und Arbeitsmodelle für einen besseren Umgang mit Zeit in Unternehmen und Organisationen.

Es geht mir darum, bei der Umsetzung gesunder, produktiver und zeitgerechter Arbeitsmodelle weiterzukommen und den Faktor Zeit umfassend bei der Arbeit zu denken. Die Vermeidung übermäßig vieler Überstunden, von exzessiven Arbeitsweisen und stattdessen ein besserer Schutz der psychischen Gesundheit sind natürlich Bestandteile meiner Überlegungen, wie Zeitwohlstand in Unternehmen und Organisationen etabliert werden kann. Es gibt noch freie Plätze und ich freue mich über den direkten Austausch zu diesem Thema. Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeit gibt es hier (Öffnet in neuem Fenster).

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