"Was passiert mit dem Rest?"
Gestern habe ich im Zeit Magazin gelesen, dass man die Räume, in denen man lebt und arbeitet, reinigen solle wie seinen Körper. Der Satz stammt von der 76-jährigen Performancekünstlerin Marina Abramović. Unter dem Titel „Was ich gern früher gewusst hätte“ teilen jede Woche prominente Personen einige der grundlegenden Erkenntnisse, die sie im Leben gewonnen haben. Sehr praktisch, wenn man schon mit 36 Jahren lernen kann, wofür andere ein ganzes Leben gebraucht haben. Ich lese diese Rubrik jede Woche, auch weil sie bei mir meistens ein gutes Gefühl hinterlässt. Es scheint, als wäre es nicht so schlimm älter zu werden.
Den Satz von Marina Abramović über das erhebende Gefühl, einen leeren Raum zu betreten und die Notwendigkeit, ihn rein zu halten, habe ich mir direkt zu Herzen genommen. In meinem Arbeitszimmer, in dem ich mich fast täglich aufhalte, lagen noch eine Matratze und ein Lattenrost – das provisorische Gästezimmer, das mein Freund Sebastian letzte Woche in Anspruch genommen hatte.
Während seines Besuchs haben wir festgestellt, dass wir genau 20 Jahre zuvor das erste Mal gemeinsam auf einer Bühne standen, im April 2003. Es war der Beginn unserer Musikerkarriere, die über viele Jahre und Konzerte andauerte, bei Sebastian noch immer anhält und bei mir seit Jahren unterbrochen ist. Jedenfalls habe ich lange geglaubt, sie sei unterbrochen. Nämlich genau so lange, bis ich irgendwann wieder die Zeit finden würde, ernsthaft an meinen Instrumenten zu üben und an Songmaterial zu arbeiten. Als wir an das Konzert zurückdachten, ein 15- und ein 16-Jähriger mit Akustikgitarre, Bass, zwei Mikros und zwei Weizenbieren auf Barhockern, haben wir uns gefragt, was wir davon halten würden, wenn wir diese Situation heute als Außenstehende sehen würden. Ich meinte, dass ich es belanglos finden würde, was die jungen Männer da präsentierten. Sebastian war anderer Meinung und glaubte, dass man uns eine gewisse Ambition unterstellen würde. Sie lag zweifelsohne vor.
Songs zu schreiben, Alben aufzunehmen und auf großen Bühnen zu spielen wurde mein größter Traum, und blieb es über Jahre. Daran musste ich jetzt wieder denken, als ich nicht nur die Matratze wegräumte, sondern auch die grüne Pappkiste sah, die direkt daneben stand und in der ich all die Dinge vermutete, die an die technischen Aspekte meines musikalischen Schaffens erinnerten. Die Kiste selbst trug nichts zur Unordnung in meinem Arbeitszimmer bei. Aber ich merkte jetzt, dass sie eine innere Unruhe erzeugte. Da waren die Kabel, die ich für Studioaufnahmen gebraucht hatte, Plektrumhalter, die auf der Bühne unentbehrlich waren und ein Metronom, das dabei helfen sollte, mein Schlagzeugspiel zu professionalisieren. Alles Jahre nicht benutzt.
Mit dem Satz von Marina Abramović im Kopf begriff ich, dass diese Kiste unverzüglich bearbeitet werden musste. Ich entschied spontan, dass ich meine Verstärker, Effektgeräte sowie einige Becken verkaufen würde (Mein Schlagzeug habe ich vor wenigen Wochen nach langem Zaudern in einer dramatischen Aktion vom Arbeitszimmer auf den Dachboden verfrachtet). Wer in den kommenden Tagen mein Kleinanzeigen-Profil besucht, wird dort keine Gegenstände finden, sondern einen geplatzten Traum. Es ist nichts geworden. Und es wird auch nichts mehr werden.
Titelbild: Lena Nikcevic
Aber das ist nicht schlimm, ich bin nicht traurig, im Gegenteil. Ich muss niemandem erklären, wie gut es sich anfühlt, sich von Dingen zu trennen, weil man sich bei dem, was man einmal aufgehoben hat, niemals nur von Dingen trennt. Es ist nicht einfach nur eine Kiste, die ich aus meinem Arbeitszimmer entferne. Ich entferne eine in die Vergangenheit gerichtete, unklare Trauer über Verpasstes, eine in die Gegenwart gerichtete Forderung an mich selbst und eine in die Zukunft gerichtete Hoffnung.
Aber das reicht jetzt, ich brauche das nicht mehr. Ich glaube nicht mehr, dass mir die Zeit fehlt, um Musiker zu sein. Würde ich dann, wenn ich genügend Freizeit hätte, wirklich wieder anfangen, meine Schlagzeugfelle zu stimmen, um anschließend Paradiddles zu üben – LRLL RLRR LRLR LRLL RLRR – und mich danach noch der Gitarre widmen, um Akkorde zu lernen, und dem Gesang, um an Atemtechnik, Resonanz, Phrasierung, Artikulation, Brust- und Kopfstimme zu arbeiten?
Nein, würde ich nicht. Ich konzentriere mich stattdessen auf das, was ich bin, und auf das, was ich gewählt habe. Das habe ich nämlich. Ich habe meine Musikerkarriere nicht versäumt, weil ich das Pech hatte, dass mich niemand entdeckte. Versäumt habe ich sie, weil ich mich nie für sie entschieden hatte. Weil ich insgeheim wusste, dass ich kein Leben auf Tour verbringen wollte. Und weil mir anderes wichtiger war. Und weil ich vermutlich auch einfach nicht gut genug im Handwerk und den technischen Kenntnissen war. Als der Booker eines frühen Konzerts unsere Musik mit Nick Drake verglich, dachte ich, es käme jetzt nur noch darauf an, dass das jetzt auch jemand bemerkte, der uns einen Plattenvertrag geben konnte. Aber darauf kam es nicht an. Es lag nicht an den anderen.
Diese Einsicht zähle ich zu den Dingen, die ich gern früher gewusst hätte. Dass man selbst entscheidet. Dass die Antwort immer man selbst ist. Es ist eine Befreiung, wenn man akzeptiert, dass man nicht alles, was man sein könnte, auch sein muss, und nicht alles, was man tun, erleben und erreichen könnte, realisieren muss. Ich höre ständig, dass es nie zu spät sei, etwas Neues zu lernen. Fang doch noch an, Klavier zu lernen. Ich würde sagen: Ja, wenn du es wirklich willst und du allein bei dem Gedanken, Klavier zu lernen, aufblühst und eine tiefe Freude spürst, dann mach das. Aber wenn du in diesem Leben kein Klavier mehr spielen kannst und nicht einmal einen einzigen Gitarrenakkord greifen kannst, dann ist das auch in Ordnung. Dann hast du mehr Zeit für andere Dinge. Streich es einfach von der Liste.
Ich lese auch ständig, dass Arbeit heute so gestaltet sein muss, dass wir darin die Person werden sollen, die wir sind und das tun, was wir wirklich, wirklich wollen. So, als gäbe es diese eine Sache, für die wir bestimmt sind. Ich sehe es so, wie es Milan Kundera in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins beschrieben hat: "Niemand hat eine Berufung. Und es ist eine ungeheure Erleichterung festzustellen, dass man frei ist und keine Berufung hat."
Wir sind nicht dazu bestimmt, eine einzig mögliche, in uns angelegte Form zu entdecken und in Perfektion zu vollenden. Es reicht, eine Ahnung dieser vorgezeichneten Gestalt zu bekommen und sich ihr anzunähern. Laut Milan Kundera gleicht das Leben einem Entwurf oder einer Skizze. Aber auch diese Begriffe passen für ihn nicht richtig, weil Skizzen und Entwürfe die Vorbereitung eines Bildes seien, das aber, bezogen auf unser Leben, nicht mehr entstehen wird. Die erste Probe für das Leben ist schon das Leben selbst, schreibt Kundera. Dieser Satz ist ebenso bei mir hängengeblieben wie eine Frage in Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon: "Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?"
Der Rest lagert irgendwann in einer grünen Kiste. Vielleicht liegt es an meinem Alter, oder auch an meiner intensiven Beschäftigung mit Zeit, dass ich mich von dem Anspruch gelöst habe, ein perfektes Leben zu führen. Ich stelle mir ein perfektes Leben ziemlich schrecklich vor. Ich glaube nicht mehr, dass dann, wenn ich endlich Zeit habe, plötzlich anfangen werde, all das zu tun, von dem ich heute glaube, ich tue es nur deshalb nicht, weil mir die Zeit fehlt. Das, was ich wirklich tun will, das tue ich (wenn auch vielleicht zu selten). Das, was weniger Bedeutung hat, lasse ich sein. Ich setze Prioritäten, ich vernachlässige Überflüssiges, ich sage ja und nein, ich entscheide mich für Tätigkeiten, Beziehungen und Dinge, und es ist okay, dass ich mich nicht mit allen Tätigkeiten, Menschen und Dingen beschäftigen kann, die ich prinzipiell gut finde. Ich glaube nicht mehr an die Strategie der Beschleunigung, mit der Menschen versuchen, so viel in ihr Leben zu stopfen, um all die Optionen, die sich ihnen bieten, zu verwirklichen. Diese Lebensstrategie hat der Soziologe Hartmut Rosa vor vielen Jahren in seinem Buch Beschleunigung als hoffnungslos enttarnt und so beschrieben:
Wer ‚doppelt so schnell‘ lebt, wer nur die Hälfte der Zeit benötigt, um eine Handlung auszuführen, ein Ziel zu erreichen oder eine Erfahrung zu machen, kann ‚die Summe‘ von Erfahrungen und damit des eigenen Lebens in einer Lebensspanne verdoppeln. Unser Anteil bzw. unsere Effizienz, also das Verhältnis der realisierten Optionen zu den potenziell realisierbaren Optionen, wird verzweifacht.
Das funktioniert aber leider nicht, wie auch einige Jahre zuvor bereits der Philosoph Hans Blumenberg feststellte: "Der Lebensanteil an der Welterfahrbarkeit schrumpft trotz der Mechanismen zum Zeitgewinn, zum Aufholen der Erlebnisrückstände, die jeden einzelnen betreffen." Ein Leben, wie es jeder nur als das eine habe, reiche zum Erleben dessen nicht aus, was Welt genannt werde.
Vielleicht habe ich nun noch einmal gelernt, was es bedeutet, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Meine Freude am Gitarrespielen werde ich nie verlieren und nie aufgeben. Unmittelbar nach meiner Aufräumaktion, oder vielmehr währenddessen, habe ich mir meine Tochter geschnappt, mit der ich schon lange zu Musik Produktiv fahren wollte, einem der größten Musikgeschäfte Deutschlands, das praktischerweise genau in dem Ortsteil der westfälischen Kleinstadt Ibbenbüren liegt, in dem ich wohne. Ich musste jetzt endlich einmal neue Gitarrensaiten kaufen und mein Pickguard erneuern.
Ich war Jahre nicht in dem Laden. Als ich hereinkam, nahm ich den vertrauten Geruch nach Teppichboden wahr und fühlte mich sofort wie zu Hause. Von Weitem hörte ich Schlagzeugspiel, ich sah Besucher*innen, die Fachgespräche führten, Saxofone anschauten und Kaffee tranken. Das unglaubliche Behagen an diesem Ort erinnerte mich nicht an meinen Traum, ein Musikerleben zu leben. Es erinnerte mich daran, wie schön es ist, dass es Musik gibt und dass ich selbst Musik spielen kann. Und es erinnerte mich an einen Traum, den ich vielleicht immer noch hatte, der aber nichts mit meinem Lebenskonzept zu tun hat, sondern mit meiner Lebensweise.
An einer Tür hing ein kleines Poster, auf dem ein Handpan-Workshop angekündigt wurde. Ich bewundere dieses Instrument, das manchmal auch als Hang bezeichnet wird, seit Jahren wie kein zweites. Es ist die perfekte Mischung aus Percussion- und Klanginstrument, und kam mir deshalb immer wie geschaffen für mich vor. Meine spontane Lust mich anzumelden ignorierte ich zunächst. Doch als ich in die Percussionabteilung kam und meine Tochter mit ihren kleinen Händen auf der Handpan trommelte, hörte sich schon das so fantastisch an, dass ich den Klang nicht mehr aus dem Kopf bekam. Als ich zu Hause war, meldete ich mich sofort für den Workshop an.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Investition getätigt habe, die sich so sinnvoll angefühlt hat. Handpan spielen können, sicher nicht besonders gut, aber eben auch nicht, um es jemandem zu beweisen oder um davon zu leben, sondern einfach so, weil es schön ist. Weil Musik ein Teil von mir ist und die Erfahrung, selbst Musik zu machen, zu den schönsten Dingen gehört, die es auf der Welt gibt. Ich wollte das auf einmal so sehr, wie man nur etwas will, das einem eine innere Stimme befiehlt. Etwas pathetisch gesprochen, aber solche Momente gibt es nun mal.
Eine der Lebensweisheiten von Marina Abramović im Zeit Magazin lautet: "Träume sind extrem wichtig, schreib sie auf, studier sie, analysier sie." Das habe ich hiermit getan. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was es bedeutet, einen Traum aufzugeben. Vielleicht habe ich gar nichts aufgegeben. Vielleicht zählt zu meinen größten Träumen, irgendwann wie der österreichische Hangspieler Manu Delago allein irgendwo mitten in den Alpen zu sitzen und etwas auf der Handpan zu spielen, was mir gefällt. Und wenn es nicht die Alpen sind, ist es eben Ibbenbüren. Und wenn es kein Auftritt vor Publikum ist, dann ist es ein kleiner, stiller Moment, in dem ein paar Töne zusammenpassen und sich alles fügt, als wäre das keine Probe fürs Leben, sondern das Leben selbst.
Ich spreche seit vielen Jahren mit Sebastian über Zeit und Vergänglichkeit. Wie schon gesagt ist er weiterhin musikalisch tätig. Als Liedermacher unter dem Namen Karwendel (Öffnet in neuem Fenster) hat er das Album Im Lichte der Zeit veröffentlicht. Erst wenige Wochen alt und noch unveröffentlicht ist ein Lied, das ich heute hier exklusiv teilen darf, das unglaublich schöne und berührende Stück Wie du gibst.
https://on.soundcloud.com/51shq (Öffnet in neuem Fenster)Und noch ein Hinweis zum Schluss: Für alle, die ein inseln der zeit-Abo haben, verschicke ich schon bald meinen nächsten Newsletter, in dem ich einen Überblick über aktuelle Bücher, Studien und andere Veröffentlichungen rund um das Thema Zeit geben werde. Eine Art Zeit-Briefing, wie ich es eigentlich schon häufiger verschicken wollte. Mitglieder erhalten neben meinem regulären Newsletter gelegentlich weitere exklusive Inhalte. Ich freue mich über alle, die meine Arbeit und diesen Newsletter unterstützen. Hier geht es zu den Abopaketen: