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Der andere Blick

Ein Rausch übers Fliegen – auf den Kopf

Inmitten des Chaos ereignet sich eine schöne Geschichte. Eine wunderschöne Geschichte in einer Welt, die gerade gewaltig aus den Fugen gerät und mich ständig zweifeln lässt, ob ich einfach weitermachen kann wie bisher. Und jedes mal komme ich zu dem Schluss: Vielleicht nicht wie bisher, aber es geht weiter. Natürlich machen wir weiter. Es geht immer weiter. Aber vielleicht ein bisschen bewusster, ein bisschen dankbarer, ein bisschen demütiger. Inmitten dieses Gedankenwirrwarrs sitze ich an einer Reitbahn und halte meine Welt kurz an, denn vor meinen Augen passiert etwas Magisches.

Klingt erst mal komisch, ist aber so. Zwei kleine Tränen laufen meine Wangen hinunter, wie so oft in diesen Tagen, wenn schöne Dinge passieren, wenn ich Nachrichten lese oder mich mit anderen über den Krieg unterhalte. Ich blinzele in die Sonne und beobachte mein Mädchen dabei, wie es fliegen lernt. Das erste Mal in ihrem neunjährigen Leben sitzt sie hoch auf einem Pferd, um Reiten zu lernen. Und was soll ich sagen, es rührt mich. Wir sind auf einem kleinen Bauernhof mitten in Mecklenburg, gleich neben Schwerin. Es gibt Schweine mit Ferkeln, Kühe mit Kälbern, Hühner, Hunde, Katzen, Pferde und was da eben noch so kreucht und fleucht auf dem Lande. Hier scheint die Welt in Ordnung, morgens fährt der Traktor mit zwei Anhängern voller Gülle an unserem Fenster vorbei und ich atme tief ein. Rieche die dampfende Kuh-Kacka und meine Tochter schreit: „Mamaaaaaa mach das Fenster zu, es stinkt.“ Ach ja, stimmt stinkt. Mir gibt der Geruch irgendwie Frieden.

Im Hofladen kaufen wir von jedem Brötchen, die hier direkt vor Ort gebacken werden, eines und schlagen uns so richtig die Bäuche voll. Bevor wir überhaupt in den Tag starten, begrüßen wir die Schweine-Mamas mit den Ferkeln, die schon in der Sonne liegen. Sie bewohnen einen offenen Stall, wo sie nach Herzenslust herumhüpfen können oder allerschönste Sauhaufen in der Sonne bilden. Schwein gehabt, denke ich, und komme an dem Gedanken nicht vorbei, dass die wenigsten Schweine in Deutschland auf diese Art leben können. Weiter zu den Kühen: Hier ist in der Nacht doch tatsächlich ein Kälbchen geboren, noch ganz nass und auf wackeligen Beinen steht es neben seiner Mama, die fleißig leckt und schleckt und ihr Baby bei jedem Zungenschlag beinahe umwirft. Neben ihnen liegen noch die Nachgeburt und eine mächtige Blutpfütze. Rings um sie herum stehen die anderen Kühe. Eine ganze Herde bewohnt gemeinsam einen offenen Stall und geht im Sommer auf die Wiese. Die Kälbchen dürfen sogar eine Woche bei ihren Müttern bleiben. Und dann immer noch in Teilzeit zu ihnen Milch saufen. Welch Luxus. Mein Herz geht auf.

Alle Jahre wieder

Wir fahren meistens einmal im Jahr auf einen Bauernhof. Wir begannen damit ziemlich bald, nachdem unsere Tochter laufen lernte. Wir wollten, dass sie weiß, woher Milch, Eier, Salat und Salami kommen. Ihre Liebe zu Tieren wuchs von Jahr zu Jahr so sehr, dass sie schon jetzt kaum noch Fleisch isst. Und zum Schluss der morgendlichen Runde gehen wir bei den Pferdchen vorbei. Es ist eine kleine Herde mit sechs Tieren. Mehr Ponys als Großpferde, mehr bunt als einfarbig, nur draußen, kein geschlossener Stall. Die Reitlehrerin hier heißt Claudia und ist ein Segen für Mensch und Tier. Für unser Mädchen buchen wir drei Stunden, die nicht nur reiten beinhalten, sondern vor allem auch den Umgang mit dem Pferd. Auf die Koppel gehen, Pferdi holen, putzen, kraulen, Knoten binden, Hufe auskratzen, Schweif bürsten, eben einfach verstehen, wie ein solches Fluchttier tickt. Die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd ist nämlich nicht einfach. Ich war auch ein Pferdemädchen (Öffnet in neuem Fenster) und meine Liebe zu den großen Vierbeinern begann in etwa im selben Alter. Noch heute erinnere ich mich an den Namen des Pferdes, auf dem ich meine ersten Longenstunden hatte. Es hieß Melodie, später ritt ich auf Cash, Arras, Ombra, Bernstein, Orbeta, Nelke, Gloria, Merlin, Cheyenne und noch einige andere, deren Namen ich nicht mehr im Kopf habe.

Meine Tochter sitzt mittlerweile auf dem Pferd. Zwischen den beiden nur ein Reitpad, kein Sattel und sie trabt schon. Ich gucke, ich genieße, die Sonne scheint mir ins Gesicht und die Reitschülerin breitet die Arme aus. Sie macht das super, sitzt fest, hat keine Angst und hört artig auf ihre Reitlehrerin, die ihr Pferd von der Mitte aus an der Longe hält. Gleicht wird sie abheben, sie strahlt mit der Sonne um die Wette und ich frage mich, wohin sie fliegen würde. Lieber werfe ich schnell ein Lasso, weich und aus Federn. Fluffig wie ein Bademantel-Gürtel und fange sie wieder ein. „Bleibst du wohl hier“, flüstere ich, „noch gehörst du zu uns.“ Später können ihr Flügel wachsen, aber noch ist sie mein Baby, obwohl sie natürlich schon groß ist.

Einmal Pferdemädchen, immer Pferdemädchen

Ich verbrachte einige Sommer auf einem Pony-Hof in Schleswig Holstein, wo wir Tag und Nacht wie die Töchter der großen Bärin über die Felder jagten. Natürlich immer ohne Sattel, nichts kann schöner sein, wie ich finde. Manchmal stellten wir uns im Spätsommer mit unseren Pferden nebeneinander an die abgemähten Stoppelfelder und bei drei ließen wir alle die Zügel los, griffen in die Mähne und die Pferde schossen vorwärts. Im gestreckten Galopp ging es über das Feld. Der Sand wirbelte auf, man musste immer aufpassen, dass man vorne ritt, wer zu langsam war, wurde dreckig. Es gibt im Galopp einen Moment, wo das Pferd nicht den Boden berührt, wo es scheinbar fliegt. Alle vier Hufe sind dann in der Luft und bei einem gestreckten Galopp merkt man manchmal gar nicht, wie das Pferd überhaupt den Boden berührt. Das ist wie fliegen, in diesen Momenten war mein Kopf aus, da ging es nur ums Überleben. Denn jeder Vogel konnte dein Schicksal besiegeln. Wenn ein Pferd in diesem Tempo ist und es springt zur Seite, fliegst du weiter geradeaus und  damit in den Sand. Sprung um Sprung schoben sich die Pony-Muskeln unter mir vorwärts, immer schneller, immer den Sieg vor Augen. Diese Pferdchen waren wahrlich keine Rennpferde, eher Mini-Traktoren, die das Feld sanft umgruben. Nie wieder habe ich das Gefühl von „ich kann die Welt erobern“ mehr gespürt als in diesen Sommern.

Nie wieder war ich so unbeschwert und frei wie in diesen Momenten. Und ich wäre auch heute nicht mehr so mutig. Nur mit einer einfachen Trense holten wir die Pferde von der Koppel, ohne Chichi wie Sattel, Bandagen, Anbinde, Sperr-oder Nasenriemen, notfalls hielten wir uns in der Mähne fest und manchmal fiel ich auch. Einmal war es ziemlich schlimm: Schädelfraktur und schwere Gehirnerschütterung lautete die Diagnose. Die restlichen Ferien verbrachte ich im Krankenhaus von Heide (Holstein). Noch während ich fiel, dachte ich darüber nach, ob ich es wohl schaffe, mich wieder hochzuziehen oder lieber versuche, elegant zu fallen. Ich entschied mich für zweitens, danach setzt meine Erinnerung erst im Krankenhaus wieder ein. Zwei Wochen verschlief ich und danach war ich komisch, zumindest sagte das mein damaliger Freund. „Seitdem du auf den Kopf gefallen bist, bist du nicht mehr dieselbe.“ Auf jeden Fall muss ich an dieses Erlebnis immer mal wieder denken, wenn alles sehr grau ist. Ich wurde dankbarer für das Leben und für den Helm, den ich trug. Wer weiß, was passiert wäre, hätte ich keinen getragen. Ich wurde vorsichtiger – auch beim Reiten. Ich stieg zwar wieder aufs Pferd, auch weiterhin ohne Sattel, hätte sogar später beinahe ein eigenes gekauft, aber niemals vergaß ich meinen Helm. Keine noch so kleine Strecke machte ich ohne. Es kann schnell vorbei sein. Ohne Reithelm würde ich wahrscheinlich nicht hier sitzen und schreiben. „Mama, das ist wie fliegen, wenn man die Arme ausbreitet und man hat einen ganz anderen Blick auf die Welt“, höre ich mein Kind rufen und stimme ihr zu. Der Blick von oben zwischen zwei flauschigen Ohren hindurch macht alles irgendwie weicher und freundlicher.

Ich freue mich, dass auch meine Tochter die Liebe zu Pferden entdeckt und ich wünsche mir ein bisschen die Leichtigkeit vom Stoppelfeld zurück. Ich lese dieser Tage viel darüber, wie wir mit unseren Ängsten umgehen. Helfen hilft, raus gehen in die Natur, Sport, reden – reiten vielleicht? Ich kann Sonne und den Blick über ein Feld empfehlen…

Bleibt aufmerksam und vor allem leicht&lebendig,
Helen

Was ich empfehlen kann:

Ein wunderschönes Kinderbuch über Pferdesprache: Socke und Sophie von  Juli Zeh (Öffnet in neuem Fenster)

Auf dem Biohof Medewege kann man schönste Tage fernab der Stadt verbringen: www.hof-medewege.de (Öffnet in neuem Fenster)

Reiten lernen auf dem Hofe Medewege geht mit Claudia Scheler (Öffnet in neuem Fenster).

Wer den RauschVonWorten mag, kann meine Arbeit gerne hier unterstützen (Öffnet in neuem Fenster).

Illustration von Sophie Schäfer:

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