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Tanz im Morgengrauen

Es ist komisch, wenn ich an meine Oma denke. Ich habe ein Foto von uns an meiner Pinnwand über meinem Schreibtisch und ich denke ab und zu an sie. Aber ich vermisse sie nicht. Sie ist schon lange nicht mehr die Oma gewesen, die sie für mich einmal war. Die Erinnerungen verblassen, aber erinnern hilft.

Am Wochenende habe ich meinen Geburtstag (Öffnet in neuem Fenster) nachgefeiert und mit den gleichen Freundinnen habe ich letztes Jahr zusammen gesessen und auf Oma getrunken, da war sie gerade gestorben (Öffnet in neuem Fenster). Ich habe den Abend mehr im Kopf als meine liebe Oma. Wir haben draußen gesessen, im Intimes. Es war das erste Treffen nach dem ersten Lockdown und wir haben auf das Leben getrunken. Oma hätte sich gefreut, sie hat gerne angestoßen.

Mitten in Marzahn

Und sie hat sich gerne verkleidet. In den Sommerferien habe ich manchmal zwei Wochen bei meinen Großeltern verbrachte. In den ersten Jahren hat mein Opa noch gearbeitet, weswegen wir die Wochentage in ihrer Wohnung in Marzahn waren. Erst später zogen sie ganz „raus“, mitten in die brandenburgische Pampa in einen Ort namens Neu Vehlefanz. Dort gibt es eine Straße, links stehen Häuser, rechts davon ist Wald.

Die Wochen in Marzahn sind mit einem stetigen Geruch nach Braten und Essen in meiner Nase. Die Wohnung war riesig und in zwei Hälften geteilt. Rechts vom Flur wohnte meine erwachsene Cousine mit ihrem Freund und links Oma und Opa. Sie hatten kein richtiges Schlafzimmer, sondern schliefen in einer Art Kammer hinter dem Wohnzimmer. Ein ganz schmaler langer Raum, in dem zwei Betten hintereinanderstanden. Oma und Opa schliefen sozusagen Kopf an Kopf. Dort schlief ich dann mit meiner Oma. Opa zog ins Wohnzimmer. Meine Oma schnarchte unmenschlich laut. Ich bildete mir ein, nächtelang wach gelegen zu haben. Ich rüttelte und schüttelte sie: „OMAAAAAAA“, rief ich „du schnarchst.“ Sie murmelte etwas Unverständliches, dreht sich auf die andere Seite und sägte weiter.

Tagsüber baute ich Höhlen im Wohnzimmer und sie kochte, während mein Opa arbeiten war. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir auch mal draußen waren. In meinem Kopf ist nur die Höhle zwischen Sofa und Tisch, der laufende Fernseher und der Geruch nach Essen. Wir spielten „Schick machen“, schminkten uns und verkleideten uns mit alten Klamotten. Manchmal kam meine Cousine rüber und wir tanzten. Mitten in Marzahn stiegen die wildesten Feten. Abends mussten wir dann entspannen und haben zusammen gebadet. In meiner Erinnerung war das ganze Bad voller Schaum. Und wenn Oma in die Wanne stieg, waberte der Schaum bis in den Flur. Das Wasser schwappte immer über. Dann kam mein Opa ins Bad und sagte: „Der Schaum quillt bis auf die Straße.“ Er lachte und drohte mit rein zu kommen, wenn wir noch mehr Schaum machen.

Sonnenaufgang im Baum

Bis vier Uhr früh haben wir am vergangenen Samstag zusammen gesessen, geschwitzt und zu viel getrunken. Erst wurden die Vögel wieder lauter, dann begann es zu dämmern. Als mein Opa Rentner wurde, zogen sie ganz raus aus der Stadt. Mein Opa war Jäger und musste immer auf die Felder achten, dass die Wildschweine nicht alle Kartoffeln und Erdbeeren wegschmatzten. Wenn er Erdbeerfelder bewachte, war es am besten. Dann bekamen wir wochenlang körbeweise Erdbeeren, er hatte ja den Schlüssel zu den Feldern. Er schoss dann selten, weil er die ganze Nacht pflückte. Ich glaube, zu dieser Zeit hat sich meine Oma ihren Rücken versaut. Später hatte sie immerzu Schmerzen.

Manchmal haben sie mich mitgenommen auf die Jagd, dann hat Opa natürlich auch nicht geschossen. Mein Lieblingshochsitz war ein riesiger alter Baum mitten auf einem Feld. Gegen drei Uhr nachts sind wir losgefahren, meine Oma hat Frühstückspicknick gemacht und dann saßen wir da oben. Haben erste Sterne und Sternschnuppen gezählt. Dann die Rehe beobachtet, wie sie leise auf zarten Hufen über das Feld schwebten. Wie ein Tanz kam mir das vor: ein Tanz im Morgengrauen. Wenn die Rehe weg waren, kamen die wilden Schweine. Sie waren schon von Weitem zu hören. Ihr schnüffeln und grunzen hatte etwas Irres und Urtümliches. Ich beobachtete sie gerne. Wenn wir unsere Stullen auspackten, mussten wir aufpassen, dass es nicht knisterte, sonst war der Zauber schnell vorbei. Später hatten Oma und Opa einen Hund, natürlich ein Dackel, der war auch immer komplett am Ende auf dem Hochsitz.

Ein einziges Mal hat mein Opa doch etwas geschossen, als ich dabei war. Wir saßen in einem alten Bauwagen und beobachteten gerade, wie sich die Sonne über den Horizont schob, da rannte ihm ein Wildschwein genau vor die Flinte. Alles musste dann sehr schnell gehen. Schwein ins Auto wuchten. Zurückfahren. Ausladen. Aufschneiden. Ich sollte nicht zuschauen, meine Oma wollte nicht, dass ich sehe, wie sie das Schwein zerlegen. Aber ich schielte doch heimlich und war sehr beeindruckt von dem Dampf, der aus dem Schwein kam. Ich habe Omas Wildgulasch geliebt. Nachdem sie das nicht mehr zubereiten konnte, habe ich auch bei ihr aufgehört, Fleisch zu essen.

Mitternachts-Eis

Am nächsten Morgen war ich dann natürlich sehr müde und hing ziemlich durch, aber das war es wert. Die Sonnenaufgänge auf dem Baum sind wirklich eine meiner Lieblingserinnerungen. Zusammen mit dem anschließenden richtigen zweiten Frühstück vor dem Fernseher natürlich. Bei wem darf Kind direkt nach dem Aufwachen in die Röhre glotzen? Während Oma also das Frühstück zubereitete, schaute ich die Bill Cosby Show. Für immer verbinde ich den Geruch von Rührei und frischem Schnittlauch aus dem Garten mit Claire, Denise und Rudy.

Jetzt erlebe ich das wieder, wenn ich meine Tochter zu meinen Eltern bringe, weiß ich, dass sie viel Fern schaut und dabei futtert. So muss das wohl sein. Oma und Opa sind zum Verwöhnen da. Ich wurde auch verwöhnt. Gerade kürzlich erinnerte ich mich, als ich bei unseren neuen Nachbarn scheinbar schnödes Vanilleeis gegessen und Kakao drauf gestreut habe. Kurz bevor es Zeit war, schlafen zu gehen, hat mein Opa oft noch die “Eis-Karte” gezückt. Meistens war es weit nach 22 Uhr, als er fragte: „Mäuschen, haben wir denn heute schon genug Eis gegessen?“ Keiner liebte Eis so sehr wie ich und Opa. Mitten in der Nacht aßen wir – häufig in trauter Zweisamkeit – Vanilleeis und Kakao. Opa auch mit eingelegten Pflaumen. Ordentlich durchgerührt wird das richtiges Softeis.

Probiert das mal und denkt dabei an eure Oma und euren Opa. Erinnert euch öfter daran, wie sie waren. Erinnert euch an die schönen Dinge und bleibt vor allem eins: leicht&lebendig!
Eure Heli

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