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Wohlfühlen wird großgeschrieben

Ein grenzüberschreitender Rausch in Finnland

Welcome to crossboarder Valley! Lappland, du hast mich wirklich beeindruckt. Wie skeptisch ich vor dieser Reise war. Wie aufgeregt, wegen der Menschen, auf die ich treffen würde. Und wie ängstlich vor der Kälte, immerhin würde ich zum nördlichen Polarkreis reisen. Das ist mein erster journalistischer Auftrag, der mit einer Reise ins Ausland verbunden war. Genau das habe ich mir immer gewünscht: Umher fahren und dann über das Erlebte schreiben. Die nordfinnische Region Lappland an der Grenze zwischen Schweden und Finnland, ist kalt und rauh, friedlich und freundlich, schroff und liebevoll. Eine Region voller Gegensätze und doch in vielem sehr ähnlich.

Ankunft in Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands, in der Nähe des Polarkreises. Als ich das Flughafengebäude verlasse, weiß ich sofort, wo ich bin. Schal, Mütze, Handschuhe. Diese Temperaturen, das Grau und die kahlen Bäume Anfang Mai sind schon beeindruckend. Und dann der Himmel, richtig dunkel wurde es nicht, obwohl es bereits Mitternacht ist. Bevor ich ins Bettchen schlüpfe, lege ich noch schnell mein Reisethermometer aufs Fensterbrett. Ich habe diese merkwürdige Angewohnheit, mich ohne eine genaue Gradzahl nicht anziehen zu können. Schnell sank die Temperatur auf unter Null. Zur Beruhigung lese ich ein paar Seiten aus „Mütter, Väter und Täter“ von Siri Hustvedt. Eine Sammlung von Essays. Über den folgenden Zeilen, fallen mir die Augen zu. Mein letzter Gedanke gilt der Sorge: „Hätte ich doch meine Ski-Hose einpacken sollen?“

„Ich bin oft erstaunt, wie drastisch Sonnenschein meine Stimmung hebt und wie rasch Wolken sie drücken, […] Oft verfalle ich vor dem Einschlafen in einen Zustand freier Träumerei. Meine Augen sind geschlossen, und die verschiedensten Gedanken schießen, tanzen oder springen fließend von einer Assoziation zur anderen, während meine Stimmung den Wörtern oder Bildern, die mir ungebeten in den Sinn kommen und mich entweder einlullen oder wach rütteln, nachzujagen scheint.“

Diese Zeilen stammen „Geistesverfassungen“. Ich kann mich mit vielem, was Siri schreibt nicht nur identifizieren, sondern fühle mich durch einen Großteil der Worte seltsam berührt. Als würde sie meine Gefühle ankitzeln und dann für mich in Worte fassen. Gebettet in weichen (merkwürdigerweise warmen) Schnee gleite ich in einer scheinbar ewig andauernden Einschlafphase dahin und finde keinen Tiefschlaf.

Ich wache früh auf, denn es ist früh hell. Die Sonne scheint in mein Zimmer, die lichtdurchlässigen Rollos haben nicht viel Nutzen. Es ist hell wie mittags, aber meine Augen schmerzen, als ich sie öffnen will. Dieser Druck auf den Lidern, der nur spürbar ist, wenn die Nacht wirklich zu kurz war. Ich schaue auf die Uhr und dann weiß ich genau, warum ich noch so müde bin: 4:10 Uhr, taghell. Ich luge vorsichtig hinter das Rollo und bin noch geblendeter als vorher. Einen winzigen Spalt traue ich mich, das Fenster zu öffnen, kalter Wind weht herein, aufs Thermometer gucke ich lieber nicht. Vögel zwitschern. Ansonsten höre ich nichts. Stille. Keine Autos, keine menschlichen Geräusche – klar, schlafen alle. Ist ja mitten in der Nacht. Ich versuche, auch noch ein bisschen Ruhe zu finden.

Vor dem Frühstück gehen wir an den Fluss, an den gefrorenen Fluss. Breit wie der Rhein liegt der Tornio River unter einer dicken Eisschicht. Ich muss hier nochmal betonen: Es ist Anfang Mai. An einem Steg in der Nähe ist ein Bauwagen aufgebaut, von dem eine Leiter in ein Eisloch führt. Zwei Damen stehen am Rand, eine andere schmeißt gerade ihre Wollmütze auf den Steg und taucht dann ab. Ich muss mich kurz schütteln. Ist das gerade wirklich passiert. Neben ihr türmen sich die Eisschollen, mir läuft es kalt den Rücker runter.
Zum Frühstück sage ich voller stolz zu den Angestellten des Hotels „Hyvää huomenta“ (das ist finnisch und heißt „Guten Morgen“) und vergesse, dass wir auf der schwedischen Seite des Flusses übernachten. Ich schnalle das aber erst am darauffolgenden Tag, als ich mich über die Gesichter der anderen wundere. Die Grenze ist hier nur einen Schritt entfernt und doch können nicht alle finnisch bzw. schwedisch sprechen.

Ich bin hier, um einen Städte-Austausch zwischen Tornio/Haparanda (Finnland/Schweden) und Frankfurt (Oder)/Słubice (Deutschland/Polen) zu begleiten. Im Rahmen der Erasmus-Förderung für Erwachsenenbildung bin ich die journalistische Begleitung. Ich lerne viel über Bildung in Grenzstädten und über die Arbeit von Brandenburger Verwaltungen, die leider viel zu wenig mit Gestalten zu tun hat. Würde man den Teilnehmenden die Chance geben, wirklich zu gestalten, anstatt sich so sehr mit Bürokratie und Anträgen zu beschäftigen, wir wären längst weiter im deutschen Bildungssystem.

Gerne würde ich mehr über die Menschen, mit denen ich reise erfahren. Wer steckt hinter diesen Verwaltungsleuten, die versuchen unsere verkorkste Bildungslandschaft zu retten? Aber immer wieder ist es die Zeit, die mir einen Strich durch die Rechnung macht. Ich bin schließlich hier, um journalistisch zu arbeiten.

„Zeit ist ein unerhört schwieriger Begriff, aber Geschichtenerzählen ist eine Möglichkeit, Ereignissen eine Bedeutung in der Zeit zu geben. […] Dagegen gibt es viele Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen. Narrative lassen immer ebenso viel aus, wie sie hinzufügen. Aber ohne eine Erinnerung könnten wir uns überhaupt keine Geschichten über die Vergangenheit erzählen. Wir könnten weder über die Zukunft fantasieren noch Romane über imaginäre Leben schreiben.“ (Essay „Die Zukunft der Literatur“ von Siri Hustvedt)

Was ich auch gerne über diese Reise schreiben würde? Am liebsten möchte ich die Teilnehmenden zu Protagonist:innen machen, ihnen unerhörte Zwischenmenschlichkeiten andichten, alles eingebettet zwischen Eis und Schnee. Und dann würde ich sie durch die Flure des svefi geistern lassen.

Das Svefi mit seinen Sofas und Ecken, mit der Kunst an den Wänden und den Geheimnissen in den Gemälden. Ein Ort zum Lernen und Träumen. Ein Ort, wo „Wohlfühlen“ großgeschrieben wird. Was da alles passieren kann. Meine Fantasie dreht durch, aber ich lauschte tapfer den Gesprächen über Bildung. Mein Auftrag war schließlich ein anderer – wirklich wichtiger. Und eigentlich ist das Svefi auch „nur“ ein Berufskolleg, wo Schüler:innen Abschlüsse nachholen, sich aufs Studium vorbereiten, im Internat wohnen können. Es ist in jeglicher Hinsicht individuell. Der Schwerpunkt liegt auf Inklusion und Integration. Aber wer weiß, was hinter den verschlossenen Türen geschehen ist. Wer weiß, was ich nicht gesehen und gehört habe, als ich nachts wach lag.

„Wir verstauen Erinnerungen nicht in Schubladen unseres Gehirns und ziehen sie nach Belieben wieder hervor. Die Transformation der Erinnerung sind komplex und nicht vollständig verstanden, aber es ist wohlbekannt, dass Menschen sich an etwas erinnern können, was nie passiert oder jemand anderem zugestoßen ist.“

Damit packt mich Siri am Schopfe, denn damit meint sie mich :). Viele Dinge, die ich erzähle, waren anders oder sind anderen passiert. In meinem Kopf mischen sie sich und werden zu den Geschichten, die in mir umhergeistern. Und so lasse ich auch die Reisegruppe als andere Menschen in den Gängen und hinter den Vorhängen des Svefi zurück. Dort dürfen sie sich austoben, während ich Richtung Heimat fliege. Den Kopf voller Eindrücke, Inspiration und ein paar Geschichten. Ich schaue noch ein letztes Mal über die Brücke des Tornio River, dann verweben sich meine Sinne und fließen durch mich hindurch in meine Finger – grenzüberschreitend sozusagen.

Bleibt leicht&lebendig, Helen

Die Essays von Siri Hustvedt sind im Buch „Mütter, Väter und Täter“ bei Rohwolt erschienen. Gibt es im Buchladen deines Vertrauens.

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