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Menschenliebe

Ein Rausch über oberflächliche Leichtigkeit

Schon als Schülerin interpretierte und analysierte ich nie so, wie es meine Deutschlehrerin von mir verlangte. Interpretieren bedeutet laut Duden einen Text oder ein literarisches Werk inhaltlich zu erklären, zu erläutern oder zu deuten.

„Vielleicht haben die alten Meister es ganz anders gemeint?“, fragte ich meine Lehrerin verzweifelt. Ich verstand das Gedicht anders, ich interpretierte es anders, und ich konnte auch erklären, warum. Noch zu Beginn meiner Zeit auf dem Gymnasium war ich der Meinung, ich könnte alles anders machen. Es musste doch möglich sein, meine Überlegungen und meine Ideen irgendwie verständlich für die Lehrerin darzulegen.

Aber meine Gedanken wurden im Keim erstickt. In meiner ersten Deutsch-Leistungskurs-Klausur interpretierte ich „falsch“. Ich analysierte, widerlegte und kam auf eine andere Interpretation, als der Lehrplan vorgab. Was von wem wie gemeint war, schien in Stein gemeißelt. Ich hatte keine Chance und bekam eine fünf.

„Wenn du Journalistin werden willst, dann haben wir noch ganz viel zu tun“, war der Kommentar der Lehrerin zu meiner Arbeit. Und ich fragte mich, was eine Gedichtanalyse mit Journalismus zu tun hat. Kurz darauf wurde ich Chefredakteurin der Schülerzeitung. Sie trug den originellen Namen ZaKvoK (Zeitung aus’m Keller vor’m Klo). Ich begann zu schreiben – und hielt mich nicht an Regeln. Ich schrieb, was mir in den Sinn kam, und ich scharte sogar ein kleines Team um mich herum.

Einmal in der Woche trafen wir uns in unserem Redaktionskeller und sammelten Ideen und Wortbeiträge von unseren Mitschüler:innen und Lehrkräften. Manchmal saßen wir auch nur einen ganzen Nachmittag zusammen, quatschten und aßen Unmengen an Schoko-Keksen. Wir waren viel mit unseren Ängsten, der Liebe und unseren Eltern beschäftigt. Die Gespräche kreisten immer darum.

Uns einte außerdem der stetige Wunsch nach Erfüllung und nach Sinn im Leben. Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey sagte einmal: „Herauszufinden, wozu man sich eignet und Gelegenheit zu finden, dies zu tun, ist der Schlüssel zum Glücklichsein.“

Heute weiß ich das schon besser. Aber als Jugendliche eckte ich immer wieder an, weil ich mich nicht an Regeln hielt,- weil meine Texte zu frei und nicht dem Medium entsprechend waren. Das zog sich auch durch mein Studium.
Ich war gut, aber nicht gründlich.
Ich war einfallsreich und kreativ, aber nicht sorgfältig genug.
Ich war anders, aber nicht besonders.
Meine Texte wurden viel kritisiert – und dennoch hörte ich gleichzeitig, wie schön und leicht sie sich lasen. Irgendwo dazwischen war ich. Aber es sollte noch eine Weile dauern, bis ich herausfand, wo ich hingehörte.

„Die Kommunikation ist gleichwürdig, wenn sich das Gespräch leicht anfühlt und wir uns beim Sprechen und Zuhören miteinander verbunden fühlen. Ist sie es nicht, entsteht etwas Trennendes und unangenehme Gefühle. Solche Ohnmachts- und Schamgefühle vermeiden Menschen im schlechten Fall durch Anpassung und Unterordnung, – auf Kosten ihres Selbstwertgefühls und ihrer Identität.“

Diese Sätze stammen aus Maike Plaths Buch „Das Veto-Prinzip“ und trafen mich ins Mark. Denn ich habe oft versucht mich anzupassen und die Dinge so zu erledigen, wir von mir verlangt. Einmal hörte ich von einem Arbeitgeber sogar den Satz „dass Sie zum Studium zugelassen wurden, ist fahrlässig.“ Ich hörte auf dort zu arbeiten. Kurze Zeit später hörte ich auch auf zu schreiben, fast vier Jahre lang.

Mittlerweile bin ich an einem Punkt, an dem ich akzeptiere, wie ich bin. Und ich weiß, was ich kann. Ich bin kreativ und ich habe Ideen, die liefere ich. Was Auftraggeber:innen damit machen, ist eine andere Sache. So verdiene ich Geld. Job ist Job; Leidenschaft etwas anderes.

Am vergangenen Wochenende habe ich einen spannenden Menschen kennengelernt: Ich war mit Freund:innen bei der Eröffnungsfeier des Veto-Institus im Neuköllner Heimathafen. Für mich ein sehr besonderer Ort. Ich habe einst in der Nähe gewohnt, hatte hier ein paar Dates im Café Rix, tolle Veranstaltungen im Saal und Knutschen und Krisen im Durchgang zum Innenhof.

Noah (den Namen habe ich geändert) setzte sich also völlig selbstverständlich und angstfrei an unseren Tisch. Wir stellten ihm direkt eine sehr intime Frage, irgendwie war uns danach – und die Feier hat uns zu maximaler Offenheit angeregt. Noah antwortete und es entspann sich ein Gespräch über Sexualität und Freizügigkeit, über die Liebe, Familie und Eltern. Wie früher im schulischen Redaktionskeller.
„Kann ich euch bitten, mich nicht mit einem männlichen Pronomen zu belegen“, sagte Noah in seinem zweiten oder dritten Satz. „Ich denke, ihr seid sensibel genug, dass ich euch das sagen kann.“ Wir nickten und verstanden.

Noah ist non-binär, fühlt sich also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig, bisexuell und lebt ein polyamores Beziehungsmodell (Öffnet in neuem Fenster). „Vor allem liebe ich Menschen und nicht ein Geschlecht.“

Ich fand das sehr einleuchtend und auch sehr beeindruckend; fast war ich ein bisschen verliebt in Noah und seinen Mut. Noah ist zehn Jahre jünger und steckt nicht nur mitten im Lehramtstudium, sondern wird auch Veto-Trainer:in.

„Um die Kommunikation produktiv zu gestalten, müssen wir unser Gegenüber finden. (…) Wir müssen mit unserem Gegenüber auf Augenhöhe gehen – im Sinne einer spürbar menschlichen Begegnung.“ *

Am nächsten Tag gingen wir sogar noch gemeinsam auf die Demo „Schule muss anders“. Und obwohl ich weder non-binär, noch bi oder Lehrkraft bin, war ich mit Noah auf Augenhöhe. Wir begegneten uns menschlich.

Seit einer Woche unterrichte ich in einer Köpenicker Grundschule ein Wahlpflichtfach. Es heißt „Kreatives Schreiben“, und ich möchte die Kinder dazu animieren, frei zu sein. Frei zu schreiben, regellos zu sein. Aber vor allem möchte ich ihnen auf Augenhöhe begegnen. In unseren ersten gemeinsamen 90 Minuten haben wir Grashalme beobachtet, sie anschließend platt gesessen und andere Menschen angeglotzt. Denn Kreativität hat ganz viel mit Beobachten zu tun. Wir achteten auf Details und überlegten uns Geschichten dazu.
Ich bin immer mittendrin, als ein Teil der Gruppe. Die Kinder sagen du und Helen zu mir. Wir sind gemeinsam kreativ. Wir sind eine Gemeinschaft.

Es gibt kein richtig und kein falsch (Öffnet in neuem Fenster),- alle Ergebnisse zählen. Ich habe das gerade erst in Finnland (Öffnet in neuem Fenster) gelernt, ist noch gar nicht lange her. Und doch haben die Kinder Angst,-  ich sehe es ihnen an. Sie haben Angst, ihre Texte vorzulesen, haben Angst, es sei nicht genug oder falsch. Als ich sage, es kommt nicht auf die Rechtschreibung an, geht ein Seufzen durch den Raum, und sie beginnen zu schreiben. „Denke zuerst und höre auf deine eigene Meinung“, sagte der Lehrer Aki Oajala in Tornio/Finnland und stemmt die Hände in die Hüfte, „unsere Devise ist: Nutze deinen Verstand. So bilden wir die Lernenden zu kreativen und verantwortungsbewussten Menschen aus.“

Das möchte ich auch schaffen. Ich höre den Kindern viel zu, denn sie haben etwas zu berichten. Ich nehme mir nur dafür Zeit – und für das, was sie beobachten. Bäume, Schmetterlinge, Holzpferde in der Kita nebenan. Und auch ich habe jetzt schon das Gefühl, etwas zu lernen. Ich erinnere mich an mich, als ich klein war und einfach nur Geschichten schreiben wollte.

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir von Anfang an lernen uns auf Fehler zu fokussieren und diese tunlichst zu vermeiden. Wir sind sehr geübt darin, in den Dingen jeweils den Mangel zu entdecken,-  zu sehen, was nicht zufriedenstellend ist. Wir sind Expert:innen im ‚Fehlerfinden‘. Und Fehler – so wird uns suggeriert – sind etwas Negatives, Peinliches. ‚Fehler‘ führen zu Ansehensverlust und sind daher mit unangenehmen Gefühlen verbunden.“ *

Ich habe meine Lücke gefunden. Ich habe genug Menschen, die meine Arbeit schätzen und mögen. Mir macht ein „zu oberflächlich“ nichts mehr aus. Da stehe ich drüber. Denn wer meine Texte oberflächlich findet, hat vielleicht die Leichtigkeit darin nicht verstanden.

In diesem Sinne: Nehmt es leicht und bleibt lebendig, Helen

Ich möchte an diese Stelle das Buch „Türwächter*innen der Freiheit“ von Maike Plath empfehlen. Gibt es im Buchladen eures Vertrauens. Wer interessiert ist am Veto-Prinzip findet dazu alle Informationen hier: https://vetoinstitut.de/ (Öffnet in neuem Fenster)

* aus Maike Plath, Das Veto-Prinzip

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