Zum Hauptinhalt springen

Am Strand bei Kalle

Ein Rausch über Gesellschaften am Meer

Ich stehe am Tresen des alten Bauwagens und kann gerade so darüber schauen. Das hier hat schon viel erlebt, ich spüre es, ich sehe es, und ich weiß es. Hier wurde schon ordentlich gefeiert und anschließend alle Glas-Ränder immer wieder neu abgewischt. Dieser Wagen hat was erlebt.

„Wat willste meine Liebe?“, kommt die Frage von Rico. Wir kennen uns jetzt schon knapp 11 Jahre, so alt wie meine Tochter und sein ältester Sohn sind. Als ich hörte, dass Rico und seine Frau Laure Kalles Beach-Bar an der Ostsee eröffnen würden, freute ich mich sehr. Es klang nach „Traum erfüllen“. Einige Jahre später saßen wir einmal zu zweit bei einem Bier vor dem Haus und Rico sagte so etwas ähnliches wie:
„Ich fühle mich oft so getrieben, ich will immer Abenteuer erleben.“
„Das kenne ich“ erwiderte ich, und wir stießen an.
Schön, dass wir hier am Meer wieder zusammenfinden, mit Sand zwischen den Zehen, Salz im Haar und dem Rauschen der Wellen im Hintergrund. Ich mag Wellen, kleine und große, mit Wind, ohne Wind.

Das Meer ist einer der wenigen Orte, an denen ich wirklich ruhig bin, an denen ich genau nichts tun kann. Immer bin ich in Bewegung, immer ist etwas in meinem Kopf los. Ich kann nicht in den Himmel gucken, ich kann nicht stundenlang auf einer Kuhwiese sitzen – aber ich kann aufs Meer schauen.

„Ich nehme ein regionales Bier, eins von hier. Damit ich das Land und den Wind und das Meer schmecken kann“, antworte ich und Rico freut sich.
„Geht aufs Haus“, sagt er.
„Oh wie komme ich zu der Ehre?“
„Du hast nicht gleich nach Becks gefragt“, antwortet er grinsend. Als er mich das letzte Mal zum Bier eingeladen hat, ging es mir am nächsten Tag sehr schlecht, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich höre das vertraute Plopp, Rico öffnet die Flasche und ein zweites Plopp,; er öffnet ein weiteres Bier. Dann kommt er aus seinem Wagen heraus und stößt mit mir an.

Als mir mein Mann das erste Mal von seinem Triathlon-Kumpel erzählte, sagte er: „Rico war einer von den jungen Wilden, und man traf ihn nie ohne Ronny.“
Den wilden Triathleten Rico lernte ich nicht mehr kennen, die Zeiten waren da schon vorbei. Wohl aber eine wilde Partyseite. Dabei hatte ich eigentlich den Partyruf, aber Rico schaffte ich nicht. Er feierte mich in Grund und Boden.
Richtig kennengelernt habe ich Rico eigentlich erst an der Seite von Laure, schon mit Baby, dem Ersten – und ich fand sie beide wunderbar. Wir waren junge Eltern, Laure und Rico noch jüngere Eltern.

Alle vier hatten wir schon immer Sehnsucht nach dem Meer. Eine Sehnsucht, die uns immer verband. Wir lieben den Wind und das Salz,- den Sand, der sich in jeder Körperritze sammelt. Sand ist gesellig, vielleicht mögen wir es deswegen so, wenn er unter den Zehen knirscht.
Das Meer ist etwas Besonderes. Tief und gewaltig, voller Kraft. Beinahe unwirklich, wenn es bei der Anreise plötzlich vor einem auftaucht. Wenn ich am Meer ankomme, möchte ich immer ein bisschen weinen. Das Blau und die Unendlichkeit spülen allen Stress des Alltags hinweg.

Ich habe direkt das dringende Bedürfnis, genau NICHTS zu tun. Endlich spüre ich es. Es ist noch da, das Nichts. Ich will nur sitzen, dem Rauschen lauschen und beobachten, wie die Möwen über dem Grau-Blau der Ostsee ihre Kreise ziehen und der Horizont den Himmel und das Wasser ineinanderfließen lässt.

Ich kann das Meer riechen: dafür schließe ich die Augen und halte mir die Ohren zu – konzentriere mich nur auf den Geruch. Ich warte bis die Brise durch mich hindurch strömt, das Salz meine Nase reinigt und die Lunge befreit. Wie inhalieren.

Die Atmosphäre in den Morgenstunden mag ich besonders gern. Bevor die Sonne alles in gleißendes Licht taucht, wenn sie sich noch hinter den Häusern versteckt, ist es magisch.
Vor dem Frühstück, wenn der Strand noch jungfräulich ist und die Spuren der Möwen und Tauben erkennbar. In unverwechselbaren Schlangenlinien ziehen sich ihre Fußtapsen, einem für mich scheinbar unmöglichen Ziel folgend, über den Sand. Einige wenige haben sich schon zum Baden versammelt, und vereinzelt finden die Tauben noch den letzten Krümel des vergangenen Tages. Alles ist ruhig.

Ich beobachte ein Paar, das Hand in Hand am Strand entlang geht. Die Hosen haben sie hochgekrempelt, ihre Schuhe in der Hand und mit den Füßen waten sie im seichten Wasser. Oben stecken sie in Softshell und Fließ; ohne Halstuch geht hier nix. Hinter mir wird gerade die Markise von Kalle hochgeschoben, ohne Laure und Rico, denn die feiern Einschulung. Auch wir sind später auf der Party.

Als die Sonne sich hinter den Wolken hervor schiebt, nutze ich den Moment und wage mich in die eiskalten Fluten. Bis vor einer Woche war ich noch am, dieses Jahr sehr warmen, Atlantik (Öffnet in neuem Fenster). Die Kälte der grauen, rauen See des Nordens kriecht mir tief in meine Hitze-verwöhnten Glieder.
„Ich schaffe das, ich kann das“, rede ich mir mantra-artig gut zu und steige langsam in die Fluten. Ein Schritt vor den anderen, dann beschließe ich, dass Rennen wahrscheinlich besser ist.

Tiefgekühlt komme ich wieder heraus und finde es erstaunlich angenehm. Pünktlich zu diesen Gedanken gesellen sich dunkle Wolken; ein kalter Wind zieht auf.
„Ja lieber Sommer, ich habe es verstanden, du verabschiedest dich“, spreche ich zum Himmel und schlüpfe ganz schnell in Pulli und lange Hosen.

Das ist eben doch nicht mein Ort zum Baden. Wohl aber ein fantastischer Ort zum Feiern. Ich treffe Menschen wieder, die ich lange nicht gesehen habe. Solche, die ich gerne mag, aber für die die Zeit im Alltagstrott einfach nicht reicht. Bei einigen denke ich: Wie schade, dass du nicht Teil meines Lebens bist, es ist schön leicht mit uns.
Es gibt viele Paare und auch solche, die mal Paare waren. Jung und Alt. Mit großen und kleinen Kindern, ein ganz eigener kleiner Querschnitt der Gesellschaft hat sich hier heute versammelt.

Ich beobachte verstohlene Blicke, skeptische Gesichter, hochgezogene Augenbrauen und übertriebene Freude. Einige Begrüßungen fallen nüchtern, fast kühl aus, andere lassen sich gar nicht mehr los. Das neue Buch von Daniela Krien fällt mir ein. Es heißt „Der Brand“ und handelt von einem Paar in der Mitte ihres Lebens, vielleicht auch schon ein bisschen später. Einfühlsam und voller Sehnsüchte geht es um die Zeit, wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind. Die Frage der Liebe bekommt eine ganz neue Bedeutung, und damit treten Geheimnisse an die Oberfläche, über die jetzt erst Zeit zum Nachdenken ist:

Sie zeigt auf ihre linke Wange und macht ein säuerliches Gesicht. Dann legt sie sich wieder zu ihm, rollt sich zusammen und vergräbt sich in seiner Umarmung.
Was er nicht alles weiß über sie.
Dass sie manchmal bei lauter Musik singend durch die Wohnung tanzt.
Dass sie Phantasien hat. Unaussprechliche.
Dass sie heimlich betet.
Dass sie Angst hat, ihn zu verlieren.
Dass sie befürchtet, selbst für den Verlust verantwortlich zu sein.
Dass sie niemals für sich die Hand ins Feuer legen würde.
Dass ihr Gewissen leichter wäre, wenn es ihm auch so ginge.
Dass es unerträglich wäre, wenn es ihm auch so ginge.

In oftmals knappen und einfachen Sätzen schafft Krien eine gnadenlose Stimmung, die mich alles fühlen lässt, was Rahel und Peter empfinden – oder auch nicht.
Und dann bin ich mittendrin und frage mich, wer hier auf der Feier noch so Geheimnisse hat. Ich unterhalte mich an diesem Abend mit Müttern, Vätern, Kindern, Enkelkindern. Ich höre Geschichten und lerne über Beziehungen. Eine Oma-Mama erklärt mir, wie spannend und zugleich erschreckend es ist, die eigenen Probleme wieder zu erkennen.
„Ich dachte immer, ich bin alleine mit meinen Sorgen. Aber jetzt sehe ich, wir haben alle dieselben Probleme“, sagt sie lächelnd.
„Alles wiederholt sich, oder?“, frage ich sie.
Sie nickt.

„Ihr habt zwei Kinder, so falsch kann es also nicht gewesen sein.“
Rahel hat Peter nicht kommen hören. Sein Gesicht ist gerötet, Schweißflecken zeichnen sich unter den Achseln seines sonst so tadellosen Hemdes ab. Er nimmt sich ein Glas, füllt es unter dem Wasserhahn und trinkt es in einem Zug aus. Dann setzt er sich zu ihnen.
„Die Kinder sind natürlich kein Fehler“, gibt Selma zu.
„Das ist doch eine gute Ausgangsposition.“ Peter streicht Selma über das Haar, und in der folgenden halben Stunde weist sie die elterlichen Vorschläge zur Lösung des Konflikts zumindest nicht direkt zurück. Kurz bevor sie alle von einem Poltern im Treppenhaus aufgeschreckt werden, hat Rahel sie sogar so weit, einer Paarberatung zuzustimmen.

270 Seiten fließen dahin, die Geschichte der Eltern verwebt sich mit der der Kinder. Traumata der eigenen Jugend kommen ans Tageslicht – und all das in nur drei Wochen Urlaub. Wie viel können sie aushalten? Welche Geheimnisse liegen in der Luft? Wie viel ertragen wir? Mit Musik alles, denn Nora hat gesungen und ich mich an meinen Freund, den Seeräuber-Opa Fabian, erinnert.

Und am Ende ist es ein Abend wie ein Roman: Wir sitzen am Feuer, lachend, friedlich und doch ein bisschen melancholisch, das darf nicht fehlen. Ich bin dankbar und genieße das Sein. Morgen gehe ich nochmal an die Ostsee, aber nur mit den Füßen ins Wasser. Ich fühle mich, als würde ich dazu gehören, hier an den Strand von Rerik und zu Kalle – zumindest heute.

Bleibt leicht und lebendig, Helen

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von RauschVonWorten und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden