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Jetzt mit Überschrift und Illustration. Ich bitte diesen Fauxpas zu entschuldigen.

(M)ein letzter Tanz

Ein Rausch über Tanz ohne Musik

„Kannst du dran bleiben, bis ich zu Hause bin?“, fragte ich meinen Mann. Er war am anderen Ende der Leitung und ich saß völlig übermüdet in der S-Bahn. Samstag Morgen, 8.30 Uhr. Keiner war zu Hause. Mami hatte sturmfrei. Der Gatte war zur Fortbildung und ich „freigelassen“. Ich begab mich in die Hände einer Freundin und die wiederum in die Hände der Nacht. Das führte dazu, dass ich die ganze Nacht nicht schlief. Stattdessen war ich auf den Beinen und TANZTE.

Das war ziemlich genau vor zwei Jahren, ungefähr um diese Zeit. Im Januar 2020. Das war mein letzter Tanz in Berlin. Eigentlich sollte es nur eine harmlose Geburtstagsfeier bei einem Kumpel vom Kumpel der Freundin werden. Ich dachte, ich kenne niemanden und dann waren es doch einige viele. Ein paar Gesichter von „früher“ und noch welche, die ich nur ein-oder zweimal gesehen hatte. Es war schön, denn schon während des ganzen Abends wurde in der Bude getanzt. Wir hüpften und wackelten, bis die Möbel zitterten und die Nachbarn die Nase voll hatten. Da war es bereits zwei Uhr morgens.

Raus in die Nacht

Die Ersten begannen sich zu beratschlagen, wohin es denn jetzt gehen sollte. Da hörte ich schon: Berghain. Oh ha, ich glaube, da wollte ich lieber nach Hause. Andererseits war ich wirklich sehr lange nicht mehr im legendären Tanzbunker. Und da stand schon Silli vor mir und sagte: „Alte, ich weiß genau, du hast sturmfrei, du kommst mit!“ Tja, ich hatte keine Chance. Also ab in die Nacht und raus in die Kälte. Gegen drei Uhr gab es keine Schlange und gnädige Türsteher. Handykamera abgeklebt und rein in die schwarze Tanzhölle.

Meine Ohren dröhnten, als ich im Gewusel der Körper versank. Ich musste mich erst an die Lautstärke gewöhnen und auch mein Herzschlag passte sich nur langsam dem Rhythmus an. Aber ich brauchte nicht lange um anzukommen. Ich schloss die Augen, damit ich nicht zu viel mit beobachten beschäftigt war, das lenkt mich häufig vom Wesentlichen ab. Und hier ging es schließlich für mich darum abzuschalten, dem Geist Flügel zu verleihen. Die Gedanken freizulassen und nur noch zu sein. Das ist wohl die Faszination am Tanzen, sich einfach nur der Bewegung hingeben, die Musik in allen Fasern spüren und dann: Kopp aus! Ich tanzte, ich hüpfte, ich drängelte mich mit Anderen. Ich fühlte Körper und Hände, Schweiß, Speichel, Gerüche, alles war da. Alles war intensiv und sehr dicht. Es ist ein Klischee, aber ein Schönes. Ich lies los. Keine Masken, kein Abstand. Kaum vorstellbar, dass es kurze Zeit später alles vorbei sein sollte. Danach wurden die Berliner Clubs geschlossen, wieder geöffnet und dann das Tanzen verboten. Wenn ich gewusst hätte, was auf uns zukommt, ich wäre länger geblieben und nicht um 7.45 Uhr nach der S-Bahn gerannt.

Am Telefon hörte ich meinen Mann zu einem Kollegen sagen: „Das ist meine Frau, sie fährt gerade nach Hause.“ Sein Kollege lachte laut, „ist die nicht zu alt dafür?“ Meine Augen fielen zu und ich dachte, ja vielleicht…
„HEEEEEELIIIIIIII,“ rief Robi, „nicht einschlafen. Du bist nicht zu alt!“ Ich hielt durch und fiel komplett am Ende ins Bett.

Der Körper als Sprachinstrument

Das war mein letzter Tanz in Berlin, und obwohl ich vergangenen Herbst mit meiner Illustratorin (Öffnet in neuem Fenster) wild tanzen war, fehlt mir doch mein (Tanz-)Rausch zu Hause. Einfach mal schnell noch ein bisschen abzappeln. Vielleicht lebe ich deswegen so gerne in Berlin, weil ich die Gewissheit brauche, alles haben zu können, wenn ich es möchte. So oft gehe ich gar nicht nachts aus, auch wenn sich das hier anders liest. Aktuell bin ich vor allem auf Lesungen und literarischen Veranstaltungen. Da kamen mir die Tanztage genau richtig. Nachdem 2021 alles ausschließlich online stattfand, kehrten die Tanztage dieses Jahr in die Sophiensäle zurück.

Gleichzeitig flattert mir ein Projekt über bewegte Literatur und Poesie zu. Und wie es das Schicksal manchmal will, gab es eine passende Performance dafür: Rita Mazza ist gehörlos und schafft mit einer Kombination aus Tanz und Gebärdensprache eine neue Form von visueller Poesie. Mit ihr kommt Tanz in Bewegung. Das Thema fasziniert mich. Ich beginne mich zu belesen und stoße auf einen Begriff, von dem ich noch nie gehört hatte. Visual Vernacular. Eine Kunstform der Gebärdensprache. Es ist verrückt, sich das anzuschauen und unheimlich beeindruckend.

Am vergangenen Montag, gerade noch rechtzeitig bevor mich die Quarantäne meiner Tochter ans Haus fesselte, schwang ich meinen Hintern in die Sophiensäle. Und wenn ich schon nicht selber tanzen kann, dann schaue ich doch wenigstens anderen beim Tanzen zu. Ein leerer Raum, in der Mitte ein Gettoblaster und Rita Mazza im Scheinwerferlicht. Nur mit ihrem Körper, ihren Händen und einer Mimik, die ausdrucksstärker nicht sein könnte, schuf sie eine fantastische Stimmung. Keine Musik, kein Ton, nur die performende Rita.

Das Knarren der Dielen schmiegt sich in ihre Bewegungen, als wäre es so geplant.

Auf den ersten Blick erscheint es wie Zappeln ohne Sinn und Verstand, aber sie tanzt. Ohne Musik. Ich kann den Blick nicht von ihr lösen. Ich bin wie hypnotisiert, folge ihren Bewegungen, ihren Händen und weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll – und das alles, obwohl kein einziger Ton zu hören ist. Lediglich ihre Füße, die den Boden berühren, über das Parkett schleifen, ihr Atmen, wenn sie sich stärker bewegt. Der Stoff ihres T-Shirts, der hin und her raschelt. Es ist wie Magie. Als würde sie mich verzaubern. Meine Fantasie spielt verrückt, ich versuche mir vorzustellen, worum es geht, aber kann keine Gebärden deuten. Alles ist vermischt im Tanz.

Als Rita den Gettoblaster einschaltet und keine Musik ertönt, versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre nichts zu hören. Das Leben wäre leise und für mich kaum vorstellbar. Ritas Bewegungen werden weiter und ausladender, sie springt und wiegt sich hin und her, dann wird ihr Atem schneller und aufgeregter. Ein bisschen, als wäre das die Musik. Sie berührt mich ganz tief und fast muss ich weinen. Noch lange hängen mir die Bewegung und die Stimmung nach. Und wenn ich erst traurig berührt war, so wird diese Erfahrung auf einmal fröhlich. Ich bin dankbar, dass ich das sehen und vor allem erleben durfte. Und das ist genau das, was die Tanztage sein sollen: Ein gemeinsames Erlebnis durch die Krise und eine Feier gegen die Verzweiflung.

So, und jetzt gehe ich in den Keller – TANZEN.
In diesem Sinne: tanzt leicht&lebendig, Helen

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Sophie Schäfer macht wohlverdienten Urlaub und so kommt die heutige visuelle Begleitung meines Rausches von der talentierten AnoukA.

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