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Denken – Reden – Verändern

Roadtrip Teil 2: Wie ich meine eigenen Vorurteile über Board warf

Die zweite Woche unserer diesjährigen Sommerreise beginnt auf der Holzbank eines alten Südtiroler Bauernhofes. Hierher sind wir quasi geflüchtet, als uns der Regen in Bayern und die mit ihm kommende herbstliche Kälte daran erinnerte, warum wir im Sommer immer weit in den Süden fahren. In Deutschland sind wir uns des Sommers nämlich nie sicher. Es mag sein, dass manche genau das mögen, die nicht vorhandene Hitze und nächtliche Kühle. Wir mögen es nicht. Wir schwitzen gerne auch nachts und freuen uns, wenn wir weder Laken noch Schlafanzüge brauchen.

Keine Menschen

Auf circa 900 Metern sitze ich jetzt in der Sonne, schaue auf die Berge, schlürfe meinen Kaffee und überlege, wie lange ich es wohl noch ohne Schatten oder Sonnencreme aushalte. Kaum hatten wir die Brennerautobahn überquert und uns den Südhängen der Alpen zugewandt, da änderte sich das Wetter. Alle aus unserem Familienkreis, die dieses Phänomen kennen, sagten uns das voraus, aber glauben konnte ich es erst, als ich es selbst erlebte. Auf einmal war die Luft mild, der Wind warm und die Erde trockener. Aber noch etwas anderes fiel mir auf: Es war leer. Keine Menschen, kaum Touristen, unser alter Toyota ist mit seinem dicken B weit und breit das einzige Auto mit deutschem Kennzeichen. Es ist wirklich eigenartig, wir haben Anfang Juli und es sind keine Touris hier.

In Südtirol sprechen nahezu alle deutsch und unsere Gastgeberin erklärte uns, dass sie noch nicht lange wieder geöffnet haben. Dass das Corona-Jahr viele Gasthöfe in die Knie gezwungen hat und einige schließen mussten. Wir sitzen in ihrer Hofschänke und trinken Forst Bier. Das erinnert uns an unseren Sommer in Sizilien vor zwei Jahren. Bei einer Streetfoodtour durch Palermo tranken wir auch Forst, die Südtiroler Wanderarbeiter brachten es mit in den Süden. Wir freuen uns, erzählen davon und schwelgen in Erinnerungen. Ja in Palermo vor zwei Jahren war es anders. Unsere Touristen-Welt war da noch in Ordnung. Die Menschen waren anders, offener, fröhlicher, entspannter. Jetzt scheinen sie beinahe verbittert „noch einen Lockdown schaffen wir auch nicht“, erklärt unsere Wirtin, „wir haben vor vier Jahren alles neu renoviert. Die Einnahmen vom letzten Jahr reichten kaum, um über den Winter zu kommen.“ Wir seien die ersten Übernachtungsgäste dieses Jahr, sagte sie traurig. Im Gasthaus gibt es nur noch eine Ferienwohnung, die anderen Wohnungen hat sie mittlerweile an Einheimische vermietet, damit überhaupt etwas Geld fließt. Die Stimmung bedrückt uns auch und wir bestellen mehr Bier.

Dünnhäutige Gefühle

Am nächsten Tag brechen wir auf, weiter zu neuen Ufern. Der Gardasee ruft und damit eine weitere Station auf unserem Weg Richtung Mittelmeer. Ich habe ein bisschen Angst, denn dieser See inmitten von Bergen hat für mich etwas sehr „Erwachsenes“, davon schwärmten meine Großeltern, jetzt unsere Eltern. Die Bilder, die sie uns zeigen, sind toll. Aber allein die Tatsache, dass sie sich freuen, dass überall deutsch gesprochen wird, heißt für uns: Alles, wirklich alles ist auf „alte“ Touristen abgestimmt. Oder einfach nur auf sehr viele, aber das lerne ich erst später.

Zunächst geht es wieder auf die Straße. Wir beschließen nicht die Autobahn zu nehmen, sondern über die großen Landstraßen zu fahren. Wir wollen Äpfel kaufen. Südtirol ist bekannt für seine Apfelplantagen. Sie säumen die Hänge der Berge. Wir werden fündig, schlagen zu und fahren mit fünf Kilo feinsten, saftigen Äpfeln weiter. Ich bin melancholisch, ob das an meiner beginnenden Periode oder am Reisen liegt, weiß ich nicht genau. Aber ich sauge alles auf, jede landschaftliche Veränderung, jede Wolke, die Leute und die leeren Restaurants. Die geschlossenen Hotels machen mich traurig. Bauarbeiter_innen, Polizisten_innen, Bäcker_innen – sie alle lachen, wenn wir winken. Sie freuen sich, und gleichzeitig spüre ich ihre Skepsis. Corona hat uns verändert, uns alle. Ich lege Nora Jones auf und lasse sie wirken. Ihre sanften Klänge dringen in mein Innerstes und ich fühle die Vibrationen ihrer Stimme. Ich bin dünnhäutig, möchte weinen, als eine Wolke in Herzform über uns schwebt und gleichzeitig bin ich dankbar, dass ich mit einem negativen Corona-Test und zweifach geimpft völlig unproblematisch nach Italien einreise. Endlich hat mich die Welt zurück. Wir passieren scheinbar verlassene Dörfer und fahren an verfallenen Gehöften vorbei, gab es die schon immer? Oder fällt mir das nur gerade besonders auf, weil ich diese komische Stimmung habe?

Bestätigte Vorurteile

Am Campingplatz werden wir von Anna begrüßt und ich muss dem Drang sie zu umarmen wiederstehen. Und das nicht nur, weil sie ein Kleid trägt, dass ich auch sofort anziehen möchte. Sondern weil sie weder verbittert noch frustriert scheint, sie hat auch nichts zu meckern. Obwohl sie mit ihrem frisch eingegipsten Arm allen Grund dazu hat. Sie zeigt uns unseren Platz: Eingefasst von Olivenbäumen, hinter einer kleinen Hecke erstreckt sich direkt der Gardasee. Genauso habe ich mir das vorgestellt. Die Zikaden zirpen so laut, dass wir das Gefühl haben, uns anbrüllen zu müssen. Aber nach zwei Tagen haben wir uns daran gewöhnt.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über die Skepsis der Senioren_innen schreiben und mit welchen Vorurteilen sie uns begegnen, aber mittlerweile habe ich verstanden, dass auch ich voller Vorurteile bin. Nur so viel, die erste Bitte wurde von einem alten Bayern an uns heran getragen, doch bitte unser Auto einen Meter weiter von seinem Auto weg zu parken. Er hatte echt Angst, dass wir ihm beim Ausladen eine Schramme in seinen sauber polierten Mercedes rammen. Ist klar, dachte ich, du hast nur Angst, dass wir Berliner deinen fetten Mercedes Stern abbrechen. Mein (Super-)Mann, diplomatisch wie er ist, fuhr einfach ein Stück weiter vor.

Unsere neuen Nachbarn fragten als erstes, ob wir Anna kennen würden, weil wir so einen guten Platz mit viel Schatten bekommen haben. Sein Ernst? Wir haben weder einen Bus noch einen fetten Camper. Wir kommen mit Zelt und Kind und wir sind das erste Mal hier, vielleicht haben wir deswegen einen guten Platz?

An der sauberen Promenade tummelten sich keine Kinder und auch in den Restaurants sehe ich zuerst nur älteres Publikum. Ich fühlte mich bestätigt und denke schon darüber nach, eher weiterzureisen.

Anders als gedacht

Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis ich eines Besseren belehrt wurde. All die alten Leutchen entpuppen sich schon an Tag zwei als nicht nur sehr hilfsbereit, auskunftsfreudig und liebenswürdig, sondern auch als bewundernswert. Manche fuhren bereits seit 30 Jahren hierher, erklärten sie uns. Unsere direkten Nachbarn haben drei Kinder und die jüngste Tochter ist weit älter als wir. Darauf fiel mir doch tatsächlich nichts anderes als „dann seid ihr ja auch schon uralt“ ein. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Hatte ich das laut gesagt? Aber sie bewiesen Humor, lachten nur süß und bejahten. Er 80 und sie auch bereits Mitte 70. Die zwei fuhren jeden Tag mit ihrem Motorrad in die Berge und abends saßen sie am See und zählten Sternschnuppen.

Unserer Tochter liehen sie Mickey Maus Hefte aus, die sie sofort verschlang. Er kaufe sich die auf dem Flohmarkt immer als Urlaubslektüre. „In jedem Charakter steckt einer von uns“, sagt er schmunzelnd. Er liebe die wunderbaren Parodien und welche Wahrheiten in den Comics stecken. Je mehr wir die beiden kennenlernten, desto zufriedener wurde ich und hatte das dringende Bedürfnis ständig etwas zu fragen. Es beeindruckte mich, wie lieb sie zusammen waren. Sie stritten nicht, nicht mal nach 56 Jahren Ehe. Jeden Tag stiegen sie auf ihr Bike und fuhren in die Berge. Offenbar hielt das jung und das sie noch immer arbeiten, erklärten sie, sei ihr Geheimrezept. Sie verkaufen Motorradzubehör: Verstellbare Fußrasten, damit auf langen Touren die Knie nicht schmerzen und abgefahrene Sitzpolster, für eingeschlafene Pobacken. So bleiben sie offen und kommen mit vielen anderen Menschen in Kontakt.

Eines Morgen steigt der doch etwas behäbige Mercedes Fahrer in seinen Neoprenanzug und dann in die stürmischen Fluten des Sees. Er surfe nur morgens, sagte er, denn da sei die Windstärke für ihn genau richtig. Bei seinem Alter und seiner Masse müsse er sich vom Wind hochziehen lassen, sonst gehe er einfach unter, sagt er über sich selber lachend. damit bewies er eindeutig Humor.

Erstmal kennenlernen

Alles, was mich zunächst verschreckte, holte mich ein und ich änderte nach und nach meine Meinung. Der Gardasee ist jünger als gedacht und auch der Campingplatz. Denn  Anna ist Anfang und 30 hat erst diesen Sommer mit ihrem Cousin den Platz übernommen. Mit ihr zog eine Kitesurfschule ein und damit noch weitere andere neue junge Menschen. Es ist mitunter wirklich lustig anzusehen, wie die italienischen Surfer Hippies neben den alteingesessenen bayrischen Wohnwagen-Senioren_innen am Spülbecken stehen. Und ich dachte wieder, genau dafür ist Reisen auch wichtig, dass ich meine Vorurteile hinterfrage und am Ende vielleicht sogar komplett über Board werfe. Alles, was ich so unangenehm vom See gedacht habe, analysierte ich jetzt genauer und entschied, meine Meinung zu überdenken.

Ich will noch mehr nachfragen, vorher überlegen und lernen, niemanden zu verurteilen, ohne die Hintergründe zu kennen.

Aber vor allem will ich leicht&lebendig bleiben!
Eure Heli

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