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„Jetzt wird es anders“

Ein Text über die Bedeutsamkeit von kleinen und großen Kontakten

Wo fahren die Leute nur alle hin? Mittwoch früh um fünf? Das Gate ist voll, die Sicherheitskontrollen kommen nicht hinterher und ich mittendrin. In einer nicht enden wollenden Schlange auf der Jagd nach einer passenden Plastikbox, um dort meinen winzigen Rucksack zu verstauen. Ich habe gerade so ein paar Schlüpfer zu meinem Laptop packen können. Den Rest wird Tilli mir leihen müssen.

Meine beste Freundin hat ein Baby bekommen. Fast zehn Jahre nach mir. Ich bin aufgeregt und frage mich, ob sich etwas zwischen uns ändert. Aber nicht nur das macht mich  nervös. Es ist auch die erste Reise, die ich nach Corona allein antrete. Seit meine Tochter zwei Jahre alt ist, mache ich mich mindestens einmal im Jahr ohne Mann und Kind auf den Weg. Wir finden es wichtig, dass jeder ab und zu nicht „nur Eltern“ ist. Freundschaften müssen gepflegt werden und das ist manchmal ohne Kind am besten. Meine erste Reise nach der Geburt meiner Tochter führte mich mit Tilli nach Tallinn. Ein wunderbarer Trip, von dem es keine Bilder gibt, aber viele außerordentliche Erinnerungen. Es dauerte zwei Tage, bis ich ernsthaft abschalten konnte und das „Mamasein“ hinter mir lies. An diesen Mittwoch machte ich mich also auf die Reise und wusste nicht, was mich erwartet, wenn meine Kindergarten-Freundin jetzt Mama ist.

Wie ein Ehepaar

Tilli und ich kennen uns schon ein Leben lang. Wir sind beide Ostberliner Kinder und kamen bereits mit einem halben Jahr in die Kinderkrippe. Meine Mama erzählt regelmäßig die Geschichte, wie Tillis Papa im Anzug schwitzend neben ihr stand und seiner Tochter die Windeln wechselte. Kinderkrippe, Kindergarten, Grundschule – wir waren unzertrennlich. Andere Menschen kamen und gingen, Freund:innen kreuzten unseren Weg und verschwanden wieder. Mal waren wir eine Dreier-Gang, manchmal viel mehr. Die erste große Krise kam beim Wechsel aufs Gymnasium. Auf einmal gingen wir getrennte Wege und entwickelten uns anders. Ich kannte nicht mehr alle, mit denen Tilli abhing und andersherum. Dann begannen wir die Leute zu mischen. Trafen uns in Parks, tranken und feierten zusammen. Wir teilten wieder alles.

Abiball, studieren in Köln und England, Reisen, Mittelamerika und Karibik – ich kürze das hier mal ab, denn ich verliere den Fokus. Gegen alle Widerstände zogen wir mit Mitte 20 frisch nach dem Studium in unserer Heimatstadt Berlin zusammen. Eine gemeinsame WG. Alle prophezeiten uns Streit und Zerwürfnisse, aber wir schafften es, lebten wie ein Ehepaar zusammen. Teilten (fast) alles und verbrachten die Nächte häufig wie Schwestern in einem Bett. Wir waren uns näher denn je. Sogar unsere Periode (Öffnet in neuem Fenster) bekamen wir zur gleichen Zeit. Erst als meine plötzlich ausblieb, war klar, jetzt wird es anders. Aber sogar meine unerwartete Schwangerschaft wollten wir gemeinsam durchstehen. „Heli,“ sagte Tilli, „wenn dir der Robi nicht richtig gefällt, dann können wir das mit dem Baby auch zusammen machen.“ Aber er gefiel mir ziemlich gut, so zog ich aus.

In der Luft

Ich liebe die Atmosphäre im Zug, das dazwischen der Menschen. Hier sind alle unterwegs, offen und weniger angespannt. Jeder sitzt auf seinem Platz, keiner muss sich um die Abfertigung kümmern und für unsere Fußabdrücke und Mutter Erde ist die Bahn sowieso die bessere Wahl. Aber ehrlich, liebe Bahn, wenn fliegen so viel günstiger ist, dann schaffe ich es nicht, auf die Schienen zu gehen. Vom ewigen Streiken mal abgesehen. Drei Stunden länger unterwegs hätte ich mit Vergnügen in Kauf genommen, ich hatte ich mich doch schon auf das Bistro gefreut. Dort sind die Leute so gesprächig. Aber ich begab mich über die Wolken und mit einem wunderschönen Sonnenaufgang im Rücken vergaß ich beinahe mein schlechtes Gewissen über den Kurzstreckenflug.

Ich reise auch deswegen so gerne allein, weil ich immer jemanden kennenlerne. Ich führe diese kleinen Gespräche im vorbeigehen. Ich stelle dann unvoreingenommen eine Frage mehr und urteile nicht so schnell. Ich nahm mir vor, mindestens zwei Gespräche mit Fremden zu führen, aber ich hatte eine klitzekleine Kleinigkeit vergessen: die Masken. Um ins Gespräch zu kommen, braucht es nicht nur Blickkontakt, sondern vor allem ein Lächeln. Wie sehr ich es liebe, andere anzulächeln und die Reaktion dazu sehen. Manche können es gar nicht und schauen erschrocken weg. Andere lächeln verwirrt zurück, es ist wunderbar.

An der Sicherheitskontrolle wagte ich einen ersten Versuch. Ein sehr korrekter Business-Mann wurde mein „Opfer“, aber ohne mein Lächeln scheiterte ich sofort. Mehr als ein kurzes „Scheiß Flughafen“ konnte ich ihm nicht entlocken. An seinen Augenbrauen konnte ich auch nichts ablesen und seine Stimme klang wütend. Wir standen nämlich früh um fünf schon einige Zeit an der Sicherheitskontrolle. Ach, wie gerne hätte ich mich mit den Leuten darüber unterhalten, wohin sie so fliegen und welche Ziele sie haben.

Egal wie kurz und oberflächlich diese Plaudereien sind: Sie schenken mir Energie und machen mir bewusst, dass sich hinter jedem Gesicht ein eigenes Schicksal verbirgt. Und auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, aber man erkennt in jeder Person eine gewisse Gemeinsamkeit. Manchmal ist es eben nur das zusammen in der Schlange stehen. Sich auf fremde Menschen einzulassen ist genauso wichtig, wie die bestehenden, vertrauten Kontakte wieder zu pflegen. Studien zeigen, dass wir meist mit uns gleichenden Menschen Kontakt haben. Letztendlich suchen wir alle nach Bestätigung. Deshalb schließen wir uns auch oft mit Menschen zusammen, die eine ähnliche Lebensauffassung haben, und bitten jemanden um Rat, der das sagt, was wir hören wollen. Aber es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns aus unserer Bubble nicht heraus bewegen. Wie sollen wir sehen, was in anderen Welten los ist, wenn wir nicht den Kontakt suchen? Ich wollte an diesen drei Tagen unbedingt wieder suchen.

Jeder Kontakt zählt

Alle leben in ihrer eigenen Blase, schauen selten nach links und rechts, sie sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben. Während der vergangenen Corona-Monate haben wir gelernt, Abstand zu halten – und auch wie wichtig es ist, Fremden nicht zu nahe zu kommen. In der „Flow“ lese ich genau darüber: Die fehlenden Kontakte könnten uns jetzt auf die Füße fallen. Es kann zu Polarisierung zu weniger Solidarität führen, man merkt es ganz deutlich vor allem an der Impfbereitschaft einiger Menschen. Beate Volker, Soziologin und Professorin für Stadtleben und soziale Netzwerke an der Universität Utrecht sagt:

„Wenn man weniger Kontakt mit Menschen hat, die einen anderen Hintergrund haben, anders leben und denken, wird das Verständnis füreinander geringer.“

Dabei ist es gar nicht schwierig, aus unserer Blase auch wieder herauszukommen. Lass dich nicht davon abhalten ein Gespräch mit einer unbekannten Person anzufangen, egal wo. Ohne Maske ist es wirklich ganz einfach.

Ich wollte bei diesem Kurztrip so gerne meine längste Freundschaft pflegen und leichte Gespräche führen. Aber für mich sind die noch immer vorhandenen Masken eine unüberwindbare Barriere. Dabei ist es so wichtig andere Meinungen zu hören oder einfach die Welt um uns herum eine Zeit lang nur zu beobachten. Ich beobachte und sehe nichts. Ich vermisse ganze Gesichter, bin ein bisschen frustriert, aber glücklich, als ich das enge Flugzeug verlasse. Am Ziel habe ich vier Stunden eine Maske getragen, kein Lächeln gesehen, keine Gespräche geführt und hab den Flug fast komplett verpennt. Nur die Sonne kitzelte meine Augenlider.

Aber es ist in Ordnung, denn als Tilli und ich uns am Flughafen gegenüberstehen, ist alles wie früher. Und doch weiß ich spätestens einen Tag später, als ich seit Langem mal wieder einen Kinderwagen schiebe, jetzt ist alles anders. Und gleichzeitig spüre ich die neue Verbindung zu meiner Schwestern-Freundin. Ich erinnere mich an vor neun Jahren, als ich mein Baby durch die Gegend schuckelte.

Der Blick auf die Welt ist eine andere. Wir sind andere geworden und dennoch dieselben Personen geblieben. Wahrscheinlich sind wir uns sogar eher näher gekommen, denn was sie gerade erlebt, habe ich ja schon durchgemacht. Plötzlich weiß ich ganz genau, wer mein neuer Kontakt ist, das Baby.  Es trägt keine Maske, es lächelt unvoreingenommen und spricht mit mir in einer anderen Sprache. Am Ende des Tages liegen wir wieder gemeinsam im Bett, Tilli stillt und ich bin sicher. Es hat etwas mit uns gemacht, aber nur Gutes!

In diesem Sinne bleibt schön leicht und lebendig sowieso, Eure Heli

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Danke Sophie Schäfer (meine Schmücki) für diese wunderschöne Illustration!

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