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Ich stehe nicht im Reiseführer

Ein Rausch über Ängste, Zweifel und Dankbarkeit

Vergangenes Wochenende traf ich bei einer Geburtstagsfeier eine Bekannte wieder. Ich finde die Bezeichnung Bekannte ziemlich unpassend, denn es fühlt sich nach mehr an, wenn ich sie sehe. Aber Freundinnen sind wir nicht, dafür sehen wir uns wiederum zu selten. Als ich die Gartenfeier betrat, erspähte ich Mariella schon aus dem Augenwinkel. Unsere Blicke trafen sich und sie rief direkt: „Oh ist das schön, dich zu sehen.“ Wir fielen uns in die Arme und freuten uns riesig. Wir drückten uns aneinander – und das war kein schnelles Umarmen ohne Körperkontakt, sondern eine richtig echte herzige Liebkosung – ich spürte die Wärme ihres Körpers, ihre Brüste, die sich an meine schmiegten, und ihren Atem an meinem Hals. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Ich bin dein Fan.“ Ich seufzte und zog Mariella noch einmal an mich. „Danke“, antwortete ich, „du glaubst gar nicht, wie gut es tut, das zu hören.“ Mariella schob mich von sich weg, sah mir in die Augen und sagte noch: „Wirklich, ich liebe deine Texte. Wenn ein neuer Rausch kommt, dann plane ich immer Zeit ein. Zeit, die nur für mich ist, in der ich in Ruhe lesen kann. Ich fühle mit dir. Danke, dass du deine Gedanken so offen teilst.“
Mariella, ich hoffe, du erkennst dich hier, denn ich weiß nicht, ob ich deinen richtigen Namen nennen darf. Dieser Rausch ist für dich und für die anderen, treuen Lesenden meiner Kolumne. Ihr seid wunderbar und ich bin euch sehr dankbar. Und stolz, dass ihr meinen Wortrausch mögt.

Das Buch „Writers&Lovers“ von Lily King erschien an meinem Geburtstag, ich hatte es schon lange angefragt und pünktlich zwei Tage vorher, landete es in meinem Briefkasten. Es handelt von Casey, die viele Schicksalsschläge ertragen muss, Schulden hat und mit Depressionen kämpft. Das klingt erstmal dramatisch, ist es auch, aber eines bietet ihr immer wieder Orientierung: das Schreiben an ihrem Roman. Und da wusste ich, dieses Buch ist meins. Mir geht es zwar sehr viel besser als der Protagonistin, aber auch ich richte all mein Tun nach meinem Roman. Ich habe immer wieder das Gefühl, solange mein Manuskript nicht in der Welt ist, kann ich damit nicht abschließen. Während unseres Inselsommers (Öffnet in neuem Fenster) entstanden in meinem Kopf wieder neue Ideen, andere Schwünge und frische Winde mit Ellen und Samu. Ich bin einfach noch nicht fertig mit ihnen, als würden sich die beiden mit mir weiterentwickeln. Wie Casey aus „Writers&Lovers“ habe auch ich ein unveröffentlichtes (wieder) unfertiges Manuskript. Ich schreibe und schreibe und schreibe, ich kann nicht anders. Nachdem ich so viele Jahre nicht schrieb und das mit der Schriftstellerei schon beinahe aufgegeben hatte, kann ich mir jetzt nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun. Die Geschichten aus meinem Kopf müssen einfach raus, ob das jetzt jemand lesen will oder nicht.

„Die Straßen, durch die ich heimradle, sind ruhig, der Fluss glatt und glänzend. Der Himmel ist von diesem tiefdunklen Blau, das jeden Moment in Schwärze übergehen kann. Ich bin schon halb über die Boston University Bridge, bevor mir bewusst wird, dass ich im Geist meine Szene zu Ende schreibe. Sie reden, und ich kann sie hören, und sie gehen endlich die Treppe hinab.“

Ich bin drin in diesem Buch, als wäre ich Casey. Mir scheint, als würden wir zu einer Person verschmelzen. Auch ich spreche manchmal mit Ellen und Samu, wenn ich unterwegs bin. Wenn ich nachts aufwache und nicht wieder einschlafen kann, habe ich das Gefühl, sie streiten sich neben mir. Und wenn ich mit meiner Oma über Krankheiten rede, höre ich Samu einen Vortrag halten. Ellen rollt mit den Augen, weil er wieder einen Redeschwall hat. Sehe ich Paare in einer dunklen Ecke knutschen, denke ich an die Heimlichkeiten und Parallelwelten, in denen sich Ellen und Samu bewegen. Ich hatte auch schon eine neue Roman-Idee, aber da komme ich schlecht rein, die Figuren sind neu und steif, irgendwie fremd. Ellen und Samu dagegen sind da, fast real in meinem Kopf. Wenn ich mich länger nicht mit den beiden befasse, vermisse ich sie. So ähnlich geht es auch Casey und die Zweifel, die sie teilt, sind auch in mir. Manchmal schäme ich mich richtig für mein Tun, dass zu nichts führt. Aber wahrscheinlich kennen das alle, die etwas Neues beginnen, was nicht gleich Erfolg hat. Casey berührt mich, sie fällt tief, hat eigentlich schon aufgegeben und kommt doch wieder auf die Beine. Ich werde nicht verraten, ob die Geschichte gut ausgeht, aber so viel sei gesagt: „Writers&Lovers“ hat mir Mut gemacht.
Ich bin genau das, was King beschreibt, ich bin die Dirigentin, ich ziehe die Fäden durch mein Buch, spinne Bezüge, als würde ich alle Instrumente gleichzeitig spielen. Und wirklich, das Konzert ist noch nicht zu Ende.
Ich tauche ein in die Gefühlswelt der Protagonistin, werde ein Teil von Casey und lerne, das du und ich – wir alle – es schaffen können, unsere Träume zu leben.

Kürzlich starb Theo Sommer, er war Chefredakteur der ZEIT und einer der wenigen Menschen die Sinn und Erfüllung in der Arbeit fanden. Er liebte das Schreiben. Damit hat etwas geschafft, was sich viele Menschen wünschen. „Die Möglichkeit, selbstbestimmt einen Bereich auszuwählen, der mir wichtig ist, indem ich Handlungsbedarf sehe, und dort tätig zu werden, geht mit einem höheren Lebenssinn einher“, schreibt die Sinnforscherin Tatjana Schnell in der ZEIT.
Ich finde das sehr erstrebenswert, Sinn in der eigenen Arbeit zu finden. Das ist ein Privileg, ich weiß. Nicht jedem sei das gegönnt. Umso dankbarer bin ich, dass es mir meistens gelingt. Wir waren bei einer Einschulungsfeier. Mit der Mama des künftigen Schulkindes unterhielt ich mich über Schnorchel, Taucherbrille und Flossen und erzählte auch, dass ich an der Barra in Las Palmas (Öffnet in neuem Fenster) tolle bunte Fische gesehen habe. „Ich weiß“, erwiderte sie, „ich lese alle deine Texte.“ Mein Herz ging auf. Auch für dich schreibe ich heute diesen Rausch.

„Alle Probleme beim Schreiben oder auch beim Auftreten haben mit Angst zu tun. Angst davor, sich bloßzustellen, Angst davor, Schwäche oder mangelndes Talent zu offenbaren, Angst davor, sich schon allein dadurch zu blamieren, dass man es versucht, dass man überhaupt zu denken wagt, man könnte etwas. Wenn wir angstfrei wären, stellt euch vor, welche Kreativität das freisetzen würde. Aber die Angst lähmt uns bei jedem Schritt.“

Ich höre oft „du hast doch vor nichts Angst“ und „du bist so mutig“. Aber ich habe vor sehr viel Angst, vor allem vor dem Scheitern. Genau in diesem Moment übrigens davor, dass diesen Rausch keiner liest. Aber für diese Angst habe ich jetzt einen Ausweg. Ich stelle mir vor, ich bin einer dieser kleinen Orte, die nicht im Reiseführer stehen, die Vergessenen, die Schönen. Die, bei denen es immer heißt, wie hübsch sie sind und wie nett die Cafés und romantisch die Plätze, aber nur, wenn jemand aus Versehen vorbei kommt und eigentlich nur auf der Durchreise ist. Ich bin auch so ein Ort, der nicht im Reiseführer steht und nur selten entdeckt wird.
Um so mehr danke ich meiner kleinen treuen Leserschaft, die mir nach jedem Rausch mitteilt, wie sehr sie meine Texte mag, mitlebt, mitfühlt und mir deutlich macht, dass ich auf jeden Fall weitermachen muss. Mit diesem Rausch sage ich Danke!

Bleibt leicht&lebendig, Helen

PS: Kauft Lily Kings „Writers&Lovers“ in der Buchhandlung eurer Vertrauens.

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