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Der Comic-Händler (aus der Reihe 'Männer, die sitzen')

Es gibt Leute, die glauben, dass Comics nur etwas für Kinder und Jugendliche sind. Das ist natürlich falsch. 

In der Cobains-Erben-Folge "Comics: Eine unterschätzte Kunstform (Öffnet in neuem Fenster)"  erklärt uns der Zeichner Jörg Peter (Öffnet in neuem Fenster), warum man Comics ernstnehmen sollte. Und in der Folge "Sind die Held*innen am Ende?  - Über Superheld*innen und ihren Absturz (Öffnet in neuem Fenster)"  führen Jay und ich das Gespräch fort und zerlegen verschiedene Superhelden-Comics in ihre Einzelteile. Ich finde, das ist ganz schön erstaunlich, was wir dabei zutage fördern und wie energisch Comics das Leben, die Gesellschaft und unsere Zeit kommentieren.

Ich frage mich, wie der Comic-Händler das alles sieht. Er muss seinen Beruf aus Leidenschaft gewählt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man zufällig Betreiber eines Comicladens wird. Oder? Natürlich könnte es sein, dass er als junger Kerl (da ist schon wieder dieses Vorurteil!) desöfteren den Laden aufgesucht hat, weil er neuen Lesestoff brauchte. Später hat ihn der alte Betreiber als Aushilfe angestellt, weil er sich gut auskannte und einen Job brauchte. Und noch später überreichte der Ältere dem Jüngeren die Türschlüssel (auf dem Sterbebett!) mit dem Auftrag, das Werk fortzusetzen. 

War es so? Bestimmt nicht.

Warscheinlich war es so: Als junger Mann (schon wieder!), sagen wir: als Student sammelte er Comics. Später begann er, sie zu verkaufen. (Weißt Du, wieviel Geld für Comics bezahlt wird, die nicht mehr aufgelegt werden? Hunderte! Und mehr. So viel zu "Comics sind nur was für Kinder und Jugendliche".) Er begann also, sie zu verkaufen und stellte fest, dass er sich auf diese Weise sein Studium finanzieren konnte. Das brachte ihn ins Nachdenken. Wollte er wirklich als Psychologe, Umwelttechniker, Pastor, Kinderarzt oder Wirtschaftsprüfer arbeiten? Wieso sollte er nicht sein Hobby zum Beruf machen und Comic-Händler werden? 

Irgendwann fasste er sich ein Herz und mietete ein Lokal mitten in der Altstadt. Es war klein, verwinkelt, mit einer alten verglasten Tür, zu der uralte Steintreppen hinaufführten. Und es funktionierte! Junge und ältere (!) Comicliebhaber fanden den Weg zu ihm, das Geschäft lief gut, der kleine Laden füllte sich immer mehr mit Comics, Devotionalien, Kultobjekten! Seite an Seite türmten sich die Regale hoch bis zur Decke, vollgestopft mit Heften und Büchern. In Kästen lagen begehrte Ausgaben früherer Auflagen und kosteten viel Geld, das die Sammler willig bezahlten, glücklich darüber, dass es ihnen gelungen war, ihre Trophäe in die Finger zu bekommen. Und am Kopfende stand eine große Glasvitrine voll mit 'Spielzeug' wie zum Beispiel einem Miniatur-Batmobil und anderen bedeutenden Sachen, für die erwachsene Menschen ihre Mastercard zücken.

So könnte es gewesen sein. Wenn man heute den Laden aufsucht, betritt man einen magischen Ort. Es würde dich nicht wundern, wenn unter einem der Regale ein kleines, grünes Monster lauern würde oder wenn im Fenster eine außerirdische fleischfressende Pflanze stehen, Dir ihren Kopf zuneigen und Dich ansprechen würde, wie in dem Musical 'Little Shop of Horrors'. 

Und inmitten dieser Pracht aus einer anderen Welt sitzt er, der Mann, hinter seinem Tresen mit dem Batman-Logo an einem Computer und guckt eine Serie. Am hellichten Tag. Während der Arbeit. Weil er es kann. Denn er ist der Comic-Händler. Und für ihn gelten andere Regeln als für uns.

Ich liebe dieses Bild. Ich finde, dass es eine äußerst gelungene Komposition ist. Und ich darf das sagen, obwohl ich es selbst gemacht habe, weil es reiner Zufall gewesen ist.

Wir betraten den Laden, weil es meinem Sohn nicht gut ging, er aber Comics liebte. (Ich auch, ich liebe auch Comics! Ich bin schon erwachsen, aber ich liebe Comics!) Wenn es einem nicht gut geht, sucht man am besten magische Orte auf. Wohl dem, der solche Orte in seiner Nähe kennt. Wir betraten also den Laden, waren erschlagen von der Fülle all der wunderbaren Dinge, die uns umgaben. Dann entdeckte ich ihn hinter seinem Tresen und wusste, dass ich ihn fotografieren will. 

Ich hatte eine Spielzeugkamera bei mir, ein Filmfotoapparat aus Plastik mit einer Plastiklinse und kaum Möglichkeiten, irgendetwas daran einzustellen. Es war viel zu dunkel zum Fotografieren. Aber selbst diese kleine Kamera, eine Diana F+, bietet die Möglichkeit, dass man die Einstellung 'Bulb' wählt. Das bedeutet, dass der Film so lange belichtet wird, solange man den Auslöser gedrückt hält. Man darf dabei natürlich nicht die Kamera bewegen, denn sonst verwackelt das Bild. Ich legte die Diana deshalb auf einen Stapel Comics, richtete sie auf den Mann, lehnte mich darauf, so dass sie sich garantiert nicht bewegen konnte und drückte den Auslöser so lange ich es für nötig hielt. All das machte ich heimlich. Ich denke nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte. Aber ich wollte es auch nicht drauf ankommen lassen. 

Er wendet sich uns nicht zu, ist aber dennoch klar der Mittelpunkt, obwohl das Bild jede Menge anderen Stoff für längere Betrachtungen bietet. Das Batman-Logo drängt sich auf, dominiert das Bild beinahe, aber das unsichtbare Licht an der Decke beleuchtet vor allem ihn, wie ein Spot, der den Hauptdarsteller anstrahlt. Und er, die Hauptperson, tut das, was ein Mann seiner Profession zu tun hat: Er beschäftigt sich mit Geschichten. 

Für sich selbst. Aber auch für uns. Weil er weiß, dass wir sie brauchen und dass wir sie haben wollen. Er ist der Dealer, der Geschichtenhändler. Und er bewacht den mythischen Schatz und verkauft ihn an uns für gutes Geld. 

Auch die Hüter mythischer Schätze müssen von irgendetwas leben.

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