No morality tale: eine kurze Geschichte von HIV/AIDS
1.12.: Welt-AIDS-Tag
Liebe Leute,
Jedes Jahr am 1.12. muss ich weinen. Aus Trauer für die, die nicht mehr da sind. Aus Wut über die, die uns in den Staub stießen, als wir Hilfe anstatt Urteilen brauchten. Stolz auf die, die überlebten. Dankbarkeit, dass ich trotz meines HIV-Status lebe.
viele von Euch, zumindest von denen, die mir auch in den sozialen Medien folgen, werden es wissen: ich bin HIV-positiv, habe mich vor knapp 13 Jahren angesteckt, nehme seit 11 Jahren regelmäßig meine Medikamente, und darf mich deswegen nicht nur auf ein ähnlich langes Leben freuen, wie Ihr (ich sprech hier jetzt mal die Negativen unter Euch an, wissend, dass unter meinen Leser*innen auch einige Positive sind – an jene ein ganz besonderer Shoutout: let's stay strong together!), also zumindest statistisch gesprochen, sondern könnte auch mit Euch Negativen, should we so inclined, jeden Tag anderweitig ungeschützten Sex haben, ohne, dass für Euch auch nur das Geringste Ansteckungsrisiko bestünde. Wenn Ihr also in irgendeiner Form in der direkten physischen Interaktion mit HIV-Positiven merkt, dass Ihr zögert, dann hat das nichts mit Uns, aber alles mit Euren Vorurteilen zu tun.
Soviel zum public service announcement, das ich jeden 1.12., jeden Welt-AIDS-Tag, und an mehreren Tagen dazwischen hinausposaune, weil genau diese Dynamik, dass Menschen in unserem Umfeld sich sozial, aber vor allem physisch von uns distanzieren, die ist Resultat des Stigmas epischen Ausmaßes, das dieser eigentlich extrem gut kontrollierbaren Infektionskrankheit anhängt, und dieses natürlich reproduziert.
Warum das AIDS-Stigma?
Ich rede regelmäßig mit Menschen in meinem Umfeld über HIV und AIDS, und merke dabei, wie wenig auch in progressiven Millieus, die nicht von MSM (men who have sex with men) dominiert sind, eigentlich kein Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart von HIV und AIDS existiert. Daher hier eine kleine Geschichte des Kampfes, des Leidens, und des Überlebens. Sie stammt aus einem Text, den ich vergangenes Jahr für den Freitag schrieb, als die “Affenpocken” (jetzt: Mpox) durch die Lande grassierten. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, aber vielleicht hilft er manchen von Euch, die Kämpfe, das Leid und die Kraft zu verstehen, die uns – MSM, HIV-Positive, die Positivenbewegung – hierher brachte, die es mir ermöglicht, heute auf Euch einzureden:
“Zur Geschichte von HIV/AIDS, genauer, den Erzählungen darüber: Denn wichtig ist: Wenn wir von sexuell übertragbaren Krankheiten sprechen, sprechen wir fast nie von medizinischen Fakten, sondern erzählen morality tales: also Geschichten darüber, was und wer gut, was und wer schlecht ist. Mit anderen Worten: Wer sich ansteckt, muss sich falsch verhalten haben.
In den 1970er Jahren sahen sich die weiß-hetero-patriarchal-kapitalistischen Mehrheitsgesellschaften des Nordens einer Reihe von Krisen und Angriffen ausgesetzt. Zur wirtschaftlichen Krise des fordistischen Nachkriegskapitalismus kamen die Herausforderungen einer Reihe progressiver sozialer Bewegungen – allen voran natürlich der nationalen Befreiungs- und dekolonialen Bewegungen der bis dato als „dritten Welt“ degradierten Länder des globalen Südens. Aber auch: Umwelt-, Frauen-, Arbeiter*innen & queere Bewegungen. Die Normalität begann zu wackeln.
Unter den verschiedenen kulturellen und politökonomischen Gegenbewegungen waren schwule Männer oft unter den sichtbarsten: Sind wir doch, im Gegensatz zu unseren lesbischen Genoss*innen, for better or worse immer noch „Männer“ (das heißt qua Patriarchat sichtbarer). Weshalb unsere offen gelebten „Perversionen“ den „StiNos“ (Stinknormalen) besonders negativ auffielen. Unser lebensweltlicher Radikalismus sagte: „Wir bauen uns unsere eigene Lebensrealität, ja, wir ficken die ganze Nacht. Und: Vielleicht könnt ihr verstockten Arschlöcher in der Mehrheitsgesellschaft was von uns lernen – oder untergehen.“ Dann kam 1981, das Jahr, in dem die „AIDS-Panik“ in den USA begann.
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Die meisten der Opfer der mysteriösen Krankheit waren MSM („men who have sex with men“) und/oder African Americans. Also Schwuchteln und Schwarze. Die mehrheitsgesellschaftliche Reaktion ließ sich ungefähr so zusammenfassen: „Alles gut und schön, aber ist eh egal, weil jetzt verreckt ihr alle.“ Schwule Communities erinnern sich nicht nur an die Zeit, in der man auf mehr Beerdigungen als Partys ging, sondern auch an die Häme, den befriedigten Blick der Normalos als wir vor ihren Augen dahinsiechten. Ausgemergelte Symbole der Strafe Gottes für unsere Sünden!
Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn ich diese Geschichte aufschreibe, kommen mir vor Wut Tränen in die Augen. Dann will ich rausgehen und einen Molli ins nicht existierende Zentrum des Normalwahnsinns werfen. And I wasn't even around then. Die Mehrheitsgesellschaft nutzte HIV/AIDS als Schild und Schwert, um ihre moralisch und politökonomisch eigentlich schon diskreditierte „Normalität“ wieder herzustellen. Das klappte gut, alle anderen waren schließlich tot.”
Und hier sind wir wieder: some survived. Some live now. And we're here to stay.
The end.
Euer Tadzio