Talk Collapse: Wer hat Angst vorm Hitzesommer 2024?
(Diese ikonische Grafik - the thin red line - symbolisiert für mich mehr als jedes Dürrefoto die Tatsache, dass etwas im Klimasystem gekippt ist)
18.04.2024
Liebe Leute,
mir graut vor einem weiteren, vielleicht noch extremeren Hitzesommer als 2018 oder 2021.
2024: annus horribilis?
Das Jahr begann mit Juli-style Meeresoberflächentemperaturen; der März war 1,68 Grad Celsius wärmer, als der vorindustrielle Durchschnitt; allein der heutige Guardian wusste zu berichten, dass halb Dubai (Öffnet in neuem Fenster) von den stärksten Regenfällen seit 75 Jahren überflutet wurde, dass wegen einer Dürre die wichtigsten Städten Ecuadors (Öffnet in neuem Fenster) den Strom rationiert und Wasserkraftwerke runtergeregelt haben, und dass Großbritannien (Öffnet in neuem Fenster) Lebensmittelknappheit und Preissteigerungen erlebt, da “klimabedingte Wetterextreme zu geringen Erträgen auf Bauernhöfen im In- und Ausland führen." Der Winter und der bisherige Frühling sind unüblich warm, die Waldbrände in Brandenburg begannen dieses Jahr schon Mitte März (!). Allüberall diskutieren Klimawissenschaftler*innen darüber, ob die Tatsache, dass dieses Jahr (wie schon 2023) nicht nur dauernd neue Temperaturrekorde aufstellt, sondern, dass diese Rekorde rekordverdächtig weit über den bisherigen Rekorden liegt, ob diese radikale Beschleinigung der Erderhitzung also “par for the course” ist, im Rahmen des Erwarteten (denn: eine Beschleunigung wird ja in jedem Modell vorhergesagt), oder schon weit jenseits des für dieses Jahr vorhergesagten liegt.
Aber einig sind sie sich in einem: letztes Jahr hat sich etwas im Klimasystem fundamental verändert. Seitdem eskaliert die Erderhitzung rapide, sie könnte sich so stark beschleunigt haben, dass sogar das erwartbare Ende (Öffnet in neuem Fenster) des temperaturtreibenden El Niño-Phänomens, das letztes Jahr durchaus Teil des Faktorenbündels war, das die Extremwetterereignisse antrieb, unter Umständen nicht dazu führen wird, dass dieser Sommer kühler wird, als der letztes Jahr. Die Meteo-Seiten und Apps, die ich im Blick habe, halten es zumindest nicht für unwahrscheinlich, dass dieses Jahr ein weiterer Rekordsommer sein wird, ein weiterer Schritt ins “new normal” hinein, wo es irgendwann normal sein wird, dass nichts normal ist. Wird das sicher so sein? Nein. Aber dass es dann doch nicht gerade unwahrscheinlich ist, und jeden Tag, der sich warm anfühlt, in meiner Wahrnehmung wahrscheinlicher wird, macht mir... ok, ich sag jetzt mal nicht “Angst”, weil es schon ein softeres Gefühl ist, es verursacht in mir ein dauerndes unterschwelliges Stressgefühl, wenn ich an den Sommer 2024 denke.
2003, 2018: Hitzesommer in Revue
Das war mitnichten immer so: eitler Sack der ich bin, liege ich gern in der Sonne for a sexy tan, verbringe wahnsinnig gern Zeit an Stränden, Schwimmbädern oder Seen, sitze gerne im Park oder auf dem Tempelhofer Feld in der Sonne, lasse mir gern die Nachmittagssonne – die auf meine Wohnzimmercouch fällt :) - auf den Pelz brennen. Ich mag Sonne, ich mag Sommer, und ich mag Wärme.
Ich kann sogar mit Hitze umgehen, wenn der Kontext der richtige ist: ich erinnere mich sehr gern an den Hitzesommer 2003, bevor die meisten von uns anfingen, sich mit der Klimafrage zu befassen. Es war einer dieser Sommer globalisierungskritischer Proteste, der für mich Ende Mai in Annemasse/Evian mit Protesten gegen einen G8-Gipfel begann – Highlight: nach 6 Stunden Tränengasschlacht mit der französischen Polizei auf einer verlassenen Landstraße und mehrstündigem durch die Hitze zum Camp zurücktaumeln, tauchte wie eine Fata Morgana am Rand der Straße ein Geschäft auf, das Swimming Pools verkaufte, and I kid you not, vor dem Geschäft standen mehrere gefüllte Pools als würden sie nur drauf warten, zweitausend verdreckten, vor Tränengas triefenden Zeckenkörpern Abkühlung zu spendieren :) - mit EU-Protesten in Thessaloniki weiterging – Highlight: vor der Polizei an einen FKK-Strand flüchten, dort mit einer megacoolen schottischen Lesbe eine spannende Affäre beginnen, und sich gegenseitig von da aus einmal quer durch Europa vögeln und fingern – und bei einem nordfränzösischen Folkfestival endete. Es war also eigentlich der perfekte Sommer.
Für mich. Nicht für die mindestens 30.000 meist älteren oder vorerkrankten Menschen, die während dieses Hitzesommer vorzeitig verstarben (Öffnet in neuem Fenster), also wahrscheinlich an den Folgen der Hitzewelle. Zu dem Zeitpunkt wurde das zwar schon in den Medien diskutiert, aber halt nicht als eskalierendes Klima-, sondern als vorübergehendes Hitzeproblem.
Den Hitzesommer 2018 erlebte ich dann ganz anders: Berlin, eine Stadt, die schonmal als eine “warme Insel” beschrieben wurde, ist eine der Hitze relativ hilflos ausgelieferte Stadt; ich wohne in den oberen Geschossen eines Altbaugebäudes, raus auf einen Hinterhof, der sich im Sommer zu einem Glutofen aufheizt, in unserem Wohnzimmer wurden als einmal 47 Grad. Add to that eine nicht-diagnostizierte und daher verschleppte Krankheit (it's probably what you think ;)), und ich erlebte den Sommer als ein ständiges Matt-Sein, als Zeit geschlossener Fenster und Vorhänge, als Zeit, in der der urbane Raum, den ich sonst so schätze, sich wie eine gefährliche Hitzefalle anfühlte, als Zeit, in der der morgendliche Blick in den blauen Himmel ein langes Gesicht nach sich zog. Ich erinnere mich, durch meine geliebte Hasenheide zu radeln, die sich nicht mehr wie ein Park anfühlte, sondern wie eine Savanne. Der Sommer machte mir Angst.
Und seitdem ist das irgendwie hängengeblieben: dass Sommer, vor allem heiße, sonnige Sommer, nichts gutes mehr sind. Dass sie anstrengend und gefährlich sind.
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Und 2024?
Das ist die Einstellung, mit der ich gerade auf den Sommer 2024 schaue: ich frage mich, wie wir in unserer Wohnung einen Hitzschlag vermeiden. Wie wir den Sommer für Raya und Kolya (im Bild :)) erträglich machen, vor allem Kolya hat so wahnsinnig dichtes und flauschiges Fell. Wie das bei den Aktionstagen der Soulevements de la Terre (Öffnet in neuem Fenster) mitten im Juli wird, denn so ein Klimacamp one Kühlung und kaum Schatten mitten im Hitzesommer kann schon ziemlich knallen.
(Kolya und Raya bei der Vogelschau. Foto: Wolf Schumacher)
Jenseits dieser sehr persönlichen Fragestellungen (die vermutlich viele von Euch kennen): wie wird Berlin mit dem Hitzestress umgehen? Administrativ ist diese Stadt ja nicht gerade gut aufgestellt, was passiert, wenn es Wasserstress in Kombination mit Stromausfällen gibt, und Wasser z.B. per Truck angeliefert werden muss? Wer verteilt das? An wen? Wer wird ausgeschlossen? Wie gehen alte, arme, wohnungslose Menschen mit der Hitze um? Und wenn sich diese Fragen nicht dieses Jahr stellen, dann doch auf jeden Fall bald, und die Möglichkeit eines Hitzesommers bedeutet halt, dass ich sie mir jetzt schon stelle.
Kurz: der drohende Hitzesommer stresst mich. Das Sommergefühl von 2003 wird – sogar bei identischen Temperaturen – nie wiederkommen, weil wir zu viel wissen, zu viel erlebt haben, und 2024 es immer herausfordernder machen wird, den Kollaps zu verdrängen.
Das ist meine letzte Sorge: ihr wisst, meine These ist “mehr Klimakrise = mehr Verdrängung”, und mehr Verdrängung = mehr Dummheit und Brutalität, etwas, das in Großstädten auch bei mehr Hitze der Fall ist.
Jetzt versteht Ihr vielleicht meinen Stress. Wenn Ihr ihn teilt: let me know, geteiltes Leid und so.
Mit sommerskeptischen Grüßen,
Euer Tadzio