Zum Hauptinhalt springen

Rezidivierende Depressionen: Ein Tutorial

Wie mir Medikamente, Frühwarnsysteme und eine innere Checkliste im Alltag helfen, mit meinen Depressionen umzugehen

Rückblickend muss ich wohl sagen, dass ich meine erste richtig schwere Depression mit sechzehn hatte. Eigentlich hätte ich eine Behandlung gebraucht, aber es war 1990 und ich die Tochter zweier Eltern, die nur wenig Zugang zu den Abgründen der menschlichen Psyche hatten. Also blieb ich allein, kämpfte allein, und es dauerte etwa ein Jahr, bis ich wieder ich war.

Es folgten in unregelmäßigen Abständen weitere solcher Episoden, doch obwohl ich dabei auch therapeutische Hilfe in Anspruch nahm, dauerte es bis zum Jahr 2019, bis eine Therapeutin klipp und klar aussprach, was mit mir los war. Rezidivierende Depressionen, das war los. Bis dahin hatte ich die Depressionen nicht als Teil meines Lebens und meiner Person begriffen, sondern eher wie eine Erkältung. Die fängt man sich auch gelegentlich ein, ohne deshalb die Diagnose rezidivierende Erkältung zu bekommen. Aber psychische Erkrankungen ganz generell sind natürlich etwas anderes. Was genau, ist nicht ganz klar. Bei diversen psychischen Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, scheint es eine angeborene genetische Komponente zu geben. Die richtige Gehirnchemie, also ein Gleichgewicht der Neurotransmitter, allen voran Serotonin, galt lange als Goldstandard zur Behandlung von Depressionen. Mittlerweile ist man sich nicht mehr so sicher, warum Antidepressiva wirken.

Im Gegensatz zur Erkältung ist die Depression also tatsächlich und ganz wörtlich ein Teil meines Körpers und damit meiner Person. Sie wartet in meinen Körperzellen auf eine günstige Gelegenheit, um wieder auszubrechen. Die Diagnose hat mir deutlich gemacht, dass ich immer einen unliebsamen Begleiter habe, der mir jederzeit die Lebensfreude nehmen kann. Und mir war klar, dass ich mir neben der Einnahme eines Antidepressivums (Venlafaxin in wechselnden Dosen) Maßnahmen erarbeiten muss, die mir helfen, meinen Begleiter in Schach zu halten. Auch weil ich alleine lebe und auf niemanden zurückgreifen kann, der mich in solchen Situationen stützt.

(Hinweis: Alles Folgende gilt und funktioniert für mich, andere mögen mit anderen Maßnahmen gute Erfahrungen gemacht habe.)

Kenne den Feind

Für mich war das Wichtigste zu wissen, wer da mit mir durch mein Leben reist. Da Depressionen eine ganze Bandbreite von möglichen Symptomen haben können, habe ich die letzten Jahre mit intensiver Selbstbeobachtung während und nach depressiven Episoden zugebracht. Dadurch weiß ich heute sehr genau, wie sich die Krankheit bei mir zeigt. Ich habe außerdem verschiedene Formen depressiver Schübe zu unterscheiden gelernt. Die Selbstbeobachtung hat mir erlaubt, einige Frühwarnzeichen zu identifizieren, die darauf hindeuten, dass ich gerade auf dem Weg in eine Episode bin. Solche Warnzeichen sind natürlich Gold wert, um frühzeitig gegen etwaige Schübe anzugehen.

Zu den Frühwarnzeichen gehören bei mir Rückenschmerzen, die vom Steißbein bis zum Nacken gehen und länger als ein paar Tage anhalten. Mein Schlaf wird ausgesprochen schlecht, mit Albträumen und Nachtschweiß, und Muskeln beginnen in meinem Gesicht zu zucken. Im fortgeschrittenen Zustand kommt etwas hinzu, das sich brain zaps nennt. Es fühlt sich an wie ein kurzer elektrischer Schlag im Gehirn, für den Bruchteil einer Sekunde hat man das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber noch bevor man dieses Gefühl richtig wahrnimmt, ist es auch schon wieder vorbei. Brain zaps sind ungefährlich und es droht auch nicht wirklich eine Ohnmacht, aber sie sind ausgesprochen unangenehm. Das erste Mal begegnete mir so etwas in 2018, kurz bevor ich in die tiefste Krise meines Lebens stürzte. Ironischerweise gehören Brain zaps zu den Absetzerscheinungen meines Antidepressivums und treten auch auf, wenn ich die Dosis reduziere. Dadurch empfinde ich sie heute als nicht mehr so bedrohlich wie beim ersten Mal.

Konnte ich die Episode nicht abwenden, fährt sie die schwereren Geschütze auf. Meine Konzentration ist praktisch nicht mehr existent und die Depression legt sich wie ein schwerer Bleimantel um meine Wahrnehmung. Mein Humor – wichtigstes Werkzeug im Umgang mit belastenden Situationen – verabschiedet sich für unbekannte Zeit, ebenso mein Sendungsbewusstsein. Ich twittere dann deutlich seltener als gesund. Mein Immunsystem fährt herunter, so dass ich vermehrt Spaß mit Lippenherpes und Abszessen habe. Die Farbe weicht aus der Welt, alles pendelt sich auf einer Nulllinie ein, ich spüre keinerlei starke Gefühle, Freude ist ebenso aus wie Traurigkeit, ich bin wie versteinert. Essen schmeckt mir nicht mehr, was für einen Genussmensch wie mich eine besonders harte Einbuße ist, ich trinke auch keinen Alkohol mehr. Alles, absolut alles fühlt sich bedeutungslos an. Ich, mein Leben, das Elend der Welt, nicht einmal das Katzi bringt mich dann zum Lächeln. Das ist die ganz harte Phase der Depression, in der an Arbeit nicht mehr zu denken ist. Ich schaffe dann kaum, aus dem Bett aufzustehen, Einkauf und Haushaltskram wird zu einer beinahe unüberwindbaren Hürde.

Wenn mir in dieser Phase erst aufgeht, dass ich in einer Depression stecke, hilft nur noch das Aufdosieren meines AD, denn jede Form von Selbstfürsorge muss wirkungslos bleiben, wenn nichts mehr Wohlbefinden auslöst.

Schlechter Tag oder Depression? Eine Checkliste

Als wäre das alles nicht schon genug Spaß, haben auch Depressive einfach mal einen schlechten Tag ohne Bedeutung und ohne Krankheitswert. In meinem Fall gehen schlechte Tage oft mit ähnlichen Anzeichen wie eine Depression einher, weshalb es für mich wichtig ist, beides auseinanderhalten zu können. Allein schon, damit ich weiß, ob ich meine innere Kavallerie zur Rettung rufen muss oder alles mit einem Achselzucken abtun kann.

Helfen tut mir eine Art Checkliste, die ich durchgehe, wenn ich mich dreckig fühle.

  1. Wie ging es Dir gestern, vorgestern, die letzten Tage?

    • Gut

      • Aha, keine Panik, nur ein Fall von anlassloser Traurigkeit.

    • Nicht gut

      • Okay, lass uns weitersuchen.

  2. Korreliert das Unwohlsein mit dem Zyklus (z.B. zweite Zyklushälfte oder Österogenabfall)?

    • Ja.

      • Dann ist alles gut, wahrscheinlich ist es schon morgen bzw. bei Einsetzen der nächsten Periode vorbei.

    • Nein.

      • Shit, Zyklus ist immer so eine beruhigende Erklärung, also weiter.

  3. Gibt es körperliche Symptome, die auf eine Depression hindeuten?

    • Nein.

      • Das ist gut.

    • Ja, wenn ich ehrlich mit mir bin, habe ich Symptom 1, 3 und 6.

      • Ärgerlich.

  4. Gibt es einen Auslöser für das Unwohlsein? Ist irgend etwas Negatives passiert?

    • Ja, da war diese eine vorübergehende Situation.

      • Ach guck, das war’s! Fühlt sich blöd an, ist aber nicht schlimm, geht vorbei.

    • Ja, mir spukt schon länger ein ernstes Problem im Kopf herum.

      • Ärgerlich. Dann lass uns nach einer Lösung suchen, solange Du noch handlungsfähig bist.

    • Nein, es ist nichts Besonderes passiert, weder temporär noch generell.

      • Oha, das sieht nicht gut aus.

  5. Wie sieht es mit generellem Stress aus? Stehst Du unter Druck?

    • Ja.

      • Hm, könnte eine Erschöpfungsdepression sein. Empfehle mindestens eine Woche lang keine Nachrichten, keine Mails abrufen, kein Internet, viel Ruhe.

    • Nein, eigentlich nicht.

      • Das sieht gar nicht gut aus. Anlasslose Depression ist praktisch nicht einzudämmen, die muss von selbst weggehen.

  6. Wie sieht’s innerlich aus? Hast Du noch Freude an Dingen?

    • Ja, wenn ich das und das mache, empfinde ich Entspannung.

      • Sehr gut, dann machst Du das jetzt verstärkt, zusätzlich ganz viel Ruhe. Vielleicht kommst Du dieses Mal ohne Dosiserhöhung davon.

    • Nein, eigentlich fühle ich mich innerlich wie tot, nichts macht mir Spaß.

      • Tja, das ist leider eine vollausgewachsene depressive Episode ohne Auslöser. Nimm sie an, akzeptiere, dass Du im Moment nicht funktionierst, stell Dein Antidepressivum wieder auf Rammgeschwindigkeit (150mg) und vergiss niemals, dass der Weg da raus nicht linear verläuft.

So oder ähnlich verläuft mein innerer Dialog, wenn ich mich dabei ertappe, dass es mir schlecht geht. Es ist für mich von entscheidender Bedeutung, frühzeitig zu erkennen, wo ich stehe, denn unerkannt kann eine Episode durchaus einige Monate dauern. Zeit, die unwiederbringlich verloren ist.

Erschöpfungsdepressionen finde ich nicht so schlimm wie andere Formen, weil sie (für mich) leichter in den Griff zu kriegen sind.

Depressionen mit Auslöser finde ich nicht so schlimm wie solche ohne, weil ich dann aktiv und konstruktiv mit diesem Auslöser umgehen kann. Zumindest solange es noch nicht so schlimm ist, dass ich handlungsunfähig werde.

Das Schlimmste sind für mich tatsächlich Depressionen, für die ich keinen speziellen Grund finde. Während ich in den ersten beiden Fällen meist recht schnell erkenne, dass ich gerade in eine Depression hineinrutsche, kommt diese letzte Art so schleichend daher, dass ich erst viel später realisiere, was los ist.

So eine begann letzten Jahr im August. Sukzessive wurde mein Empfinden, meine Wahrnehmung, mein Leben immer grauer und erst im Oktober dämmerte mir, dass etwas nicht stimmt. Nach einem etwas gebesserten November ging es von der schlimmen Diagnose meines Bärlis im Dezember wieder bergab. Und diese Talfahrt hielt bis weit nach seinem Tod, weshalb ich nicht nur mein AD hochdosiert, sondern eben auch meine Therapeutin gesehen habe. Diese Episode war länger und härter als es meine Episoden üblicherweise sind und ich hoffe, diese lange Dauer bleibt eine Ausnahme.

Aktuell geht es mir gut, ich bin – abgesehen von den üblichen Mülltagen in der zweiten Zyklusphase - stabil und robust und allmählich nähere ich mich dem Punkt, an dem ich das AD wieder herunterdosieren kann. Depressionen werden wahrscheinlich immer Teil meines Lebens sein, aber es gibt mir Kraft und macht mich stolz, dass ich mittlerweile eine gewisse Routine mit ihnen habe, die mir im Idealfall sogar hilft, schnell wieder da hinauszufinden.

Vielleicht kann man das am ehesten mit Diabetes vergleichen: man hat etwas, das man definitiv im Auge behalten muss, aber mit Erfahrung und einem Notfall-Kit kann man trotzdem ein schönes und relativ uneingeschränktes Leben führen.

Und mehr will ich gar nicht.

Wenn Ihnen meine Texte gefallen, freue ich mich, wenn Sie sie teilen. Sie können meine Arbeit auch mit einer bezahlten Mitgliedschaft oder via Paypal einmalig (Öffnet in neuem Fenster) unterstützen, und mich damit sehr glücklich machen.

Kategorie Psychische Gesundheit

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Amor & Psyche Von Meike Stoverock und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden