Angststörung erkennen und beeinflussen
Warum Vermeidung und Absicherung schädlich sind, welche Rolle Angehörige spielen und wohin Grübelzwang führen kann

Das Wichtigste zuerst: Alles Folgende schreibe ich aus meiner persönlichen Situation heraus. Weder soll der Text eine ordentliche Diagnostik ersetzen, noch Handlungsempfehlungen geben. Der Text ist zuvorderst mein Abschluss mit einem jahrelangen Kampf, in dem ich schließlich siegreich war.
Ich kann nicht sagen, wann genau ich die Grenze zwischen “gesund” und “krank” überschritten habe, weil sie wie bei den meisten psychischen Erkrankungen sehr fließend ist. Aber während einer Therapie, die ich aus anderen Gründen begonnen hatte, wurde mir klar, dass ich in Großteilen von einer Angststörung kontrolliert wurde.
Angst, Panik, Phobie: Was ist was?
Ich würde die drei Phänomene so unterscheiden: Angststörung ist ein mehr oder weniger dauerhafter Stresszustand, während Panikstörung und Phobie zeitlich begrenzt und mit zum Teil sehr spezifischen Auslösern auftreten. Eine Person mit einer Phobie kann ganz normal leben, solange sie nicht mit dem Trigger ihrer Phobie konfrontiert wird. Eine Angststörung hat zwar meist einen Kernbereich, in dem sie sich zeigt, lauert aber jederzeit unter dem Bett. Sie entspricht gewissermaßen einem Persönlichkeitszug. Die Trigger sind weniger klar umrissen, so dass ganz verschiedene Situationen Angststress auslösen können.
Das macht aus meiner Sicht die Angststörung schwieriger zu behandeln. Eine Phobie kann man über eine Konfrontationstherapie mit relativ wenigen Therapiestunden in den Griff bekommen, eine Angststörung dagegen braucht entsprechend einen umfassenderen Ansatz. Behandelbar ist beides ziemlich gut, nur der Weg zur Heilung oder Symptomfreiheit ist ein anderer.
Allen Angstphänomenen gemein ist, dass stammhirnnahe Bereiche wie etwa Mandelkern/Amygdala in bestimmten Situationen wie verrückt feuern. Sie suggerieren uns, dass wir uns in extremster Gefahr befinden, und leiten umgehend eine “fight or flight”-Reaktion ein. Stresshormone wie Adrenalin oder Cortisol mobilisieren Energiereserven, die uns auf eine bevorstehende Flucht oder den Kampf vorbereiten. Die Ausschüttung von Stresshormonen ist normal und evolutionär, weil sie dazu führt, dass in einer Bedrohungs- oder Belastungssituation alle unsere Kapazitäten für die Überwindung der Situation zur Verfügung stehen.
Mögliche Folgen dieses Hyperstresses sind
Herzrasen
beschleunigte Atmung
Übelkeit/Durchfall, allgemein Magen-Darm-Reaktionen
Zittern
Druck in Hals und Brust
Normalerweise erleben Menschen diesen Angststress nur bei tatsächlichen Bedrohungen, etwa in eskalierenden Konfliktsituationen oder bei drohenden Unfällen. Indem unser System den ganzen Körper in Alarmbereitschaft versetzt, Atmung, Herzschlag und Muskelaktivität beeinflusst, hilft Angst, das Schlimmste zu verhindern. Menschen mit einer Erkrankung des Angstspektrums erleben diese extreme körperliche Situation dagegen auch bei imaginierten Bedrohungssituationen. Obwohl wir in Sicherheit sind, tut das Gehirn so, als ob wir uns unmittelbar in Gefahr befinden.
In welchen Lebensbereichen sich eine Angststörung manifestiert, ist von Person zu Person unterschiedlich, aber besonders häufig und gerne auch in Kombination kommen vor:
Zukunftsangst: Sorge vor dem, was kommt
Verlustängste: ständige Angst, nahestehenden Personen könnte etwas Schlimmes passieren oder Partner könnten uns verlassen
Krankheitsangst/Hypochondrie: Überzeugung, selbst schwerst/unheilbar krank zu sein
Konflikt- bzw. Zurückweisungsangst: Angst davor, das jemand uns nicht mag, böse auf uns wird usw.
Behördenangst: Angst bis Panik vor Authoritätskontakten
Medikamentenangst: Angst vor Medizin bzw. möglichen Nebenwirkungen
Angst vor ÄrztInnen/Krankenhaus: selbsterklärend
Sozialangst: Stress bei Kontakten mit fremden Menschen
Neue, unbekannte Situationen, z.B. das Aufsuchen fremder Orte
Das entscheidende Element bei vielen Ängsten ist letztlich der Kontrollverlust. Allein der Gedanke an bestimmte Situationen reicht aus, um unsere Körper reagieren zu lassen, als ob ein hungriger Bär vor uns stünde.
Mein Weg
Während einer Therapie, die ich Anfang 2019 aus ganz anderen Gründen begonnen hatte, wurde mir mit Hilfe meiner extrem kompetenten und einfühlsamen Therapeutin klar, dass ich mindestens zehn Jahre lang angstgestört gewesen war. Was mich im ersten Augenblick am meisten entsetzt hat, war die Tatsache, dass ich in dieser Zeit die Angststörung meiner Mutter sehr engmaschig begleitet hatte. Ich war dank intensiver Recherche fähig, eine korrekte Diagnose bei ihr zu stellen, Jahre bevor die therapeutischen und psychiatrischen Fachkräfte, die sie über die Jahre aufgesucht hat, das schließlich taten. Für meine Mutter hatte ich alles über Angststörungen, ihre Symptome und unterschiedliche Ausprägung gelesen und war doch nicht in der Lage, die gleichen Muster für mich zu erkennen.
Der Moment des Erkennens war aber auch deshalb besonders schwierig, weil mir plötzlich klar wurde, wie viel Lebenszeit ich an die Krankheit verloren hatte, und wie groß die Belastung durch mich für meinen ehemaligen Ehemann war. Trauer über die verlorene Zeit, Schuld- und Schamgefühle waren die Folge. Scham und Schuld waren so tief, dass ich nicht in der Lage war, bei unserer Scheidung für meine Rechte einzustehen. Aber das nur nebenbei.
Ich habe mittlerweile nahezu alle Symptome der Angststörung nachhaltig überwunden und kann viele Dinge, die mir lange unmöglich waren, tun, ohne dass mein Stresspegel auf einer Skala von 1 bis 10 höher als 2 steigt. Ich habe dank meiner Depressionen immer noch alle Hände voll zu tun, meine Psyche in Schach zu halten, aber pathologische Ängste plagen mich nicht mehr. Der einzige Sieg in meinem Leben, der mich jemals stolz gemacht hat.
Bei mir zeigte sich die AS vor allem bei Kontakten mit fremden Menschen, beim Aufsuchen neuer Orte und drolligerweise beim Englischsprechen.
Wenn ich auf der Straße ging, trug ich immer meine innere Ritterrüstung, ich war immer in der Defensive. Wechselte die Straßenseite, wenn auf dieser Kontakt drohte. Draußen zu sein, wo praktisch nur Fremde waren, war immer Stress für mich. Mit Öffis an einen Ort in Berlin zu fahren, an dem ich vorher noch nicht war, habe ich zehn Jahre vermieden. Die Idee, dort verloren zu gehen, weil ich nicht im Voraus weiß, welchen Ausgang ich nehmen, in welche Richtung ich gehen musste, erzeugte ungeheuren Stress. Und schließlich: Englisch zu sprechen, vor allem mit Muttersprachlern, hat mich völlig gelähmt. Mein Sprachverständnis entspricht praktisch fließendem Niveau, Schreiben und Lesen waren nie ein Problem, aber Sprechen ging nicht.
Nie habe ich mich so hilflos, so vollkommen jeder Handlungsfähigkeit beraubt gefühlt als in dem Augenblick, als mir zum ersten Mal Tricky im Supermarkt begenete. Tricky ist mein musikalischer Gott, ich halte ihn für einen der talentiertesten und intelligentesten Musiker des 20. Jahrhunderts, der nicht nur den Stil von Massive Attack maßgeblich geprägt, sondern ein ganzes Genre - TripHop - erfunden hat. Tricky ist Engländer und vor einigen Jahren nach Berlin und in den Prenzlauer Berg gezogen, wo ich auch wohne. Und plötzlich stand er nur eine Armlänge von mir entfernt und ich konnte nicht sprechen. Ich konnte nicht.
Vielleicht war das der erste Augenblick, in dem ich eine Ahnung davon bekam, wie sehr mich meine Ängste einschränken. Wir sehr sie mich zu einer Gefangenen gemacht haben. So unendlich gerne hätte ich Tricky gesagt, wie krass seine Musik mein Leben, meine Wahrnehmung der Welt, meine Identität und meine Vorstellung von Schönheit geprägt hat. Und ich konnte einfach nicht. Ich hätte schreien mögen, weinen, verzweifeln, weil ich einfach. Nicht. Konnte.
Kein nicht angstgestörter Mensch kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie sich das anfühlt, von seinem eigenen Gehirn so als Geisel genommen zu werden. Eine Angsterkrankung verschlingt alle Leichtigkeit, alle Lebensfreude. Souveränität, Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit. Vielleicht kann dieser Text dem Einen oder der Anderen helfen, etwas früher zu erkennen, dass sie Hilfe brauchen, als ich das bei mir erkannt habe.
Angststörung und Vermeidung
Etwas, das ich voller Gewissheit sowohl für meine Mutter als auch für mich sagen kann, ist, dass Vermeidungsverhalten wie eine Einstiegsdroge wirkt. Wenn wir uns das Angstzentrum des Gehirns wie einen Muskel vorstellen, dann braucht dieser Muskel regelmäßiges Training und also Herausforderungen, um gesund zu arbeiten.
Nun arbeitet aber die Angstlogik eines menschlichen Gehirns genau entgegengesetzt. In unserem Kopf lautet die Handlungsanweisung “Oh. Mein. Gott. Situation XY führt zu einer Bedrohung durch hungrige Bären, bleib also um Himmels Willen von Situation XY weg!” Und genau das tun wir. Vermeidungsverhalten ist “grundsätzlich” genauso normal und gesund wie andere Instinkte. Uns von Situationen fernzuhalten, die zu einer Bedrohung führen, ist uraltes Lernverhalten. Vor 20.000 Jahren hat uns dieses Verhalten davor bewahrt, immer wieder in die Höhle des Bären zu latschen, uns immer wieder der gleichen Bedrohung auszusetzen und damit wertvolle Energie (womöglich gar unser Leben) zu verschwenden.
Die Tatsache, dass es so sinnvoll ist, energiefressende Situationen zu vermeiden, macht es für angststörungsgefährdete Menschen besonders schwierig, sich diesem Verhalten entgegenzustellen. Alles daran fühlt sich richtig an: die Vermeidung von Stressoren führt ja zu mehr Entspannung. Erleichterung, Beruhigung, gar Wohlbefinden setzen ein. Doch je mehr man vor den Stressoren zurückweicht (und Vermeidung ist ein Zurückweichen), desto mehr schreitet die Angst voran. Den Raum, den wir ihr lassen, füllt sie sofort aus.
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