Rammstein II: Wissen, was man tut
Über Eigenverantwortung von Opfern und Tätern und den Abschiedsschmerz eines Fans.
Der Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann (Öffnet in neuem Fenster) zieht immer weitere Kreise. Mittlerweile hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch, in dem ein Gedichtband Lindemanns erschienen war, die Zusammenarbeit mit dem Musiker beendet. Grund war ein pornographisches Video zu dem Lied "Till the end" aus dem Jahr 2020, in dem Lindemann extrem harten Sex mit einer Frau hat. Meines Wissens handelt es sich bei der Frau um eine professionelle und bezahlte Pornodarstellerin und nicht um einen Fan oder sonst eine Privatperson, es dürfte also davon auszugehen sein, dass der Ablauf und Inhalt des Videos vorher abgeklärt wurde, aber das Video wirkt dennoch wie eine düstere Vorausschau dessen, was nun mehr und mehr ans Tageslicht kommt. Die Grünen haben außerdem beantragt (Öffnet in neuem Fenster), dass es bei künftigen Rammstein-Konzerten keine Row Zero mehr geben soll, aus der heraus weibliche Fans ohne ihr Wissen für Sex mit Lindemann gecastet werden.
Doch obwohl sich immer mehr junge Frauen mit in sich schlüssigen, einander in vielen Details entsprechenden Berichten an die Öffentlichkeit gehen und die Anschuldigungen dadurch an Glaubwürdigkeit und Gewicht gewinnen, tobt in den sozialen Medien immer noch der Krieg, der vielen Opfern sexueller Gewalt zusätzlich zu ihrer traumatischen Erfahrung aufgebürdet wird. Sie werden als Lügnerinnen diffamiert, als aufmerksamkeitsgeil, als unglaubwürdig - und immer wieder als "selbst schuld". Wer auf die Party eines Rockstars gehe, wisse doch, dass es da um Sex und Drugs gehe. Die Frauen seien doch nicht nur Opfer, sondern erwachsene Menschen mit einer Eigenverantwortung. Eigenverantwortung. Dieses Wort habe ich in den letzten Tagen oft gelesen. Zeit, sich diese - oft von Männern vorgetragene - Forderung genauer anzuschauen.
Gleiche Eigenverantwortung für alle
Eigenverantwortung meint hier vor allem, für sein eigenes (Fehl-)Verhalten geradezustehen. Nicht nur nach außen zu schauen und zu zeigen, sondern auch nach innen. Sich zu fragen, was am eigenen Verhalten zu einer Situation hingeführt hat. Wer mich schon etwas länger kennt, weiß, dass ich eine große Verfechterin der Eigenverantwortung bin. Eigenverantwortung ist für mich ein Zeichen emotionaler Reife, weil ihr zwingend die Erkenntnis vorausgeht, dass problematische Situationen oft aus einer Dynamik heraus entstehen, an der man durchaus auch selbst beteiligt sein kann. Doch in dem Skandal um Till Lindemann (und vermutlich in vielen anderen Skandalen um sexuelles Fehlverhalten mächtiger und/oder berühmter Männer) fällt auf, dass nur von Frauen diese Eigenverantwortung verlangt wird.
Aber Eigenverantwortung ist keine Einbahnstraße. Von den Opfern sexueller Gewalt Eigenverantwortung zu erwarten, von dem oder den Tätern aber nicht, ist das Gegenteil von emotionaler Reife. Entweder also, wir erwarten von jungen, weiblichen Musik-Fans, dass sie "eigenverantwortlich" potentiell gefährliche Situationen meiden (siehe hierzu auch "Du sollst nicht allein durch den Park gehen"), dann müssen wir das aber auch von einem Sänger Till Lindemann verlangen. Dass er Eigenverantwortung zeigt und sein Verhalten kritisch hinterfragt. Oder wir sagen "Männer sind nun einmal so (also gefährlich) und daher von jeder Eigenverantwortung zu befreien", dann müssen wir aber auch wertfrei akzeptieren, dass junge, weibliche Fans nicht mit dem Schlimmsten rechnen oder dass sie "star-struck" sind, wenn sie auf eine Party mit ihrem Idol Till Lindemann eingeladen werden.
Von Frauen mehr Reife zu erwarten als von Männern, hat ja in der rape culture unserer patriarchal geprägten Zivilisation eine lange Geschichte. Die von mir sehr geschätzte Tova Leigh hat zu diesen Doppelmoral kürzlich ein sehr passendes Video auf Instagram (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht, in dem sie aufzeigt, wie lax unser Umgang mit männlichem Fehlverhalten ist. Wir erwarten von Jungen und Männern keine Reife, wir sehen sie als große Kinder. Selbstverständlich nur, solange es um sexuelles Fehlverhalten geht. In allen anderen Situationen nehmen wir Jungen und Männer ernster als Frauen. Wenn ein Mann Scheiße baut, wird ihm zumindest ein Teil der Schuld im Geiste von "boys will be boys" erlassen. Diese erlassene Schuld lagern wir kurzerhand an die Opfer aus, weil sie sich (vermeintlich wissentlich) in eine gefährliche Situation gebracht haben. Wir akzeptieren damit also, dass es in der männlichen Natur liegt, gefährlich zu sein.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Männer, die von Opfern, nicht aber Tätern Eigenverantwortung einfordern, sofort "Not all men!" schreien, wenn Frauen gemäß dieser Haltung Männer erst einmal als grundsätzlich gefährlich ansehen.
Wissen und Nicht-Wissen
Über das sexuelle Versorgungsnetzwerk Lindemanns gibt es offenbar schon länger Gerüchte. Die Youtuberin Kayla Shyx, die bereits im Jahr 2022 ganz eigene Erfahrungen mit dem System Rammstein gemacht hat und dies mit Screenshots von Unterhaltungen belegt, berichtet in einem sehenswerten Video (Öffnet in neuem Fenster) unter anderem von diesen Gerüchten. Sie berichtet außerdem glaubhaft, dass ihr auf ausdrückliche Nachfrage an jene Alena Makeeva, die so etwas wie die Hauptkupplerin in diesem System ist, versichert wurde, dass es nicht um Sex gehe, sondern es sich um eine ganz normale Party im erlauchten Zirkel handele. Auch die Irin Shelby Lynn, die die ganze Veröffentlichung des Systems angestoßen hatte, berichtete davon, ihre Frage, ob es um Sex gehe, sei verneint worden.
Da ist sie wieder, die Eigenverantwortung. Die Frauen sind nicht naiv in die Situation gestolpert, sondern beiden war klar, dass Sex eine Option, vielleicht sogar Grundvoraussetzung für ihre Teilnahme an der "Party" war. Beide haben reif gehandelt, indem sie von vorne herein diese Option erfragt und sich im Falle eines Ja gegen die Afterparty entschieden hätten. Sie haben Vorsicht und Misstrauen walten lassen, wie ich es von einer erwachsenen, eigenverantwortlich handelnden Person erwarten würde. Wo aber durch Manipulation und blanke Lügen Bedenken aktiv zerstreut werden, da kann man von den Opfern nicht mehr verlangen als das, was sie getan haben (wenn man denn überhaupt etwas von Opfern verlangen kann). Fans wurden durch manipulative Freundlichkeit, Unwahrheit und Alkohol in Sicherheit gewiegt.
An dem Punkt entsteht ein missbräuchliches und übergriffiges System, das zu Situationen führt, deren Risiken die beteiligten Fans durch Vorsicht nicht weiter hätten minimieren können. Und genau das ist der Punkt, an dem die Eigenverantwortung von Till Lindemann, Aleena Makeeva, den anderen Bandmitgliedern und sonstigen Bandmitarbeitenden beginnt. Das ist der Punkt, an dem aus einem "Du wusstest, worauf Du Dich einlässt" zu einem "Du wurdest durch aktive und mutwillige Täuschung in eine bedrohliche, übergriffige Situation gebracht" werden muss.
Ein Gedankenexperiment: Nehmen wir eine Person, die sich bei einer renommierten Firma bewirbt. Ein Job bei dieser Firma würde sich im Lebenslauf gut machen. Die Firma ist aber nicht nur renommiert, sondern auch potentieller Ausbeuter. Gerüchte kursieren, dass man schlecht bezahlt wird. Unsere Person bewirbt sich also und fragt ausdrücklich nach einer angemessenen Bezahlung. Da ihr diese zugesichert wird, unterschreibt die Person den Vertrag. Erst bei der nächsten Gehaltsabrechnung geht ihr auf, dass ihr viel weniger bezahlt wird, als ausgemacht war. Würde diese Person nun nachträglich ihr Bewerbungsgespräch öffentlich machen und meldeten sich daraufhin Dutzende andere Personen, denen im Bewerbungsgespräch ebenfalls falsche Versprechungen gemacht wurden, würde die öffentliche Meinung dann auch so ausfallen wie bei dem Rammstein-Skandal? Würden die Männer, die jetzt auf die Eigenverantwortung der Opfer pochen, auch sagen "Hey, Du kanntest die Gerüchte, Du wusstest, dass Du ausgebeutet wirst"? Ich denke nicht.
Eigenverantwortung, let's go
All jenen, die in den letzten Tagen versucht haben, einen Teil der oder die ganze Schuld für die Ereignisse auf Rammstein-Parties auf die Opfer abzuwälzen, möchte ich eigentlich nur eine einzige Frage stellen: Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit Du den Opfern Glauben schenkst und ihnen Solidarität entgegen bringst?
Die Beantwortung dieser Frage ist Teil unser aller Eigenverantwortung. Nicht als Opfer oder als Täter, sondern als Gesellschaft, in der rape culture ein real existierendes Ding ist, das Opfern mehr Hürden in Weg legt als Tätern.
Abschiedsschmerz eines Fans
All das schreibe ich mit Schmerz im Herzen. Wie erwähnt, liebte und verehrte ich die Kunst von Rammstein seit zwanzig Jahren. Ironischerweise habe ich meine Liebe zu dieser Band über viele Jahre mit "Ich würde jedem einzelnen dieser Band mein Leben bedenkenlos anvertrauen" umschrieben. Die Musik von Rammstein war mir ein emotionales Zuhause, ich hatte einen Crush auf Richard Kruspe, die Musik brachte viele Saiten in mir zum Klingen.
Ich habe die letzten Tage, seit den ersten Posts von Shelby Lynn in einer Mischung aus Traurigkeit und Übelkeit verbracht. Als Fan fühle ich mich betrogen um ein Gefühl, das ich dieser Band viele Jahre entgegengebracht habe. Ich fühle Verlust, Enttäuschung, Schock. Aber so heftig meine emotionale Gegenwehr gegen die Anschuldigungen auch ist, so wenig kann mein Verstand den vielen, vielen glaubwürdigen, schlüssigen, ein absolut widerwärtiges System skizzierenden Beschreibungen entkommen. Ich spüre, dass von diesen Beschreibungen an jedes "Ja, aber" eine Leugnung der Realität wäre. Denn hier tritt eben nicht eine einzelne Frau auf und beschuldigt. Hier steht nicht Aussage gegen Aussage. Hier stehen Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Aussagen gegen ein ausgesprochen mageres Dementi von Rammstein. Das tut mir sehr weh. Dass auf Seiten der Täter so gar nichts kommt, was mir ermöglichen würde, weiter Fan zu bleiben.
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