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Wie man unsichtbare Menschen zeigt

In meinem Fotonewsletter helfe ich euch, gute Fotos zu machen. Und heute erzähle ich euch anhand eines Erlebnisses, wie man Dinge zeigt, die man nicht sieht. 

27. November 2015, Lesbos. Mitten in der Krise der Geflüchteten war ich über Umwege nach Griechenland gefahren, um sie auf ihrem Weg nach Europa mit der Kamera zu begleiten. Auf der kleinen, griechischen Insel kamen Tag und Nacht fliehende Menschen auf Schlauchbooten an, die von der Türkei absetzten. 

Als ich müde und abgeschlagen aus dem Auto stieg und meinen Fotorucksack über den Rücken warf, fuhr an mir James Nachtwey vorbei, einer der bekanntesten Fotojournalisten vergangener Jahrzehnte. Zuerst musste ich schmunzeln, doch dann erinnerte ich mich an den Grund meiner Reise an diesen Ort und lief weiter in Richtung Wasser.

Zu meiner Verwunderung war Lesbos überfüllt mit Rettungskräften, Hilfsbussen und NGOs, die sich an einem steinigen Strand eingerichtet hatten. Überall wuselten Menschen in orangen Warnwesten umher, trugen Wasserkanister zu blauen Zelten oder starrten durch Ferngläser aufs offene Meer. 

Ich stellte mich ans Ufer, öffnete meinen Rucksack, kramte meinen Fotoapparat heraus und blickte durch den Sucher. Eine bedrohliche Wolkenwand hatte sich vor mir aufgebaut und ein heftiger Wind schlug mir entgegen. „Da kannste ja rüberspucken“, sagte ich vor mich hin, als ich die Türkei erblickte. 

„Kein gutes Wetter heute!“, hörte ich einen Mann in gebrochenem Englisch zu meiner Linken sagen. Wir gaben und die Hände und stellten uns gegenseitig vor. Christos erzählte mir, er sei vom griechischen Roten Kreuz und hatte sich nach einer 15-monatigen Schulung dazu entschieden, auf Lesbos ein paar Tage zu helfen. 

„Heute kommt niemand mehr“, meinte er beiläufig. Zu stürmisch sei die See, das Risiko für Geflüchtete zu hoch. Trotzdem setze Christos immer wieder das Fernglas an und blickte auf die Leere des Wassers. 

„Meine Freunde zuhause werfen mir vor, Terroristen zu retten“, erzählte er. Doch Christos habe verstanden, dass Geflüchtete ebenfalls Menschen seien und irgendjemand müsse schließlich helfen. „Diese Menschen fürchten sich, haben Angst und Hunger. Ich habe auch Hunger“, brummte er und tätschelte einen Bauch. 

Den Rest des Abends verbrachten wir in einem kleinen Restaurant, einen Steinwurf entfernt. Als die Nacht hereingebrochen war, verbreitete sich unter den Helfer:innen eine Nachricht, die mir den Magen umdrehte. In mein Tagebuch schrieb ich: 

„… erfuhren wir, dass heute Morgen zwei Boote kenterten und dabei 6 Kinder starben. Sie kamen nie auf Lesbos an. Seitdem ich das gehört habe, bin ich traurig.“ Deshalb rief ich einen guten Freund an und weinte. Ich konnte dieses Grauen nicht fassen, fühlte mich überwältigt vom Tod der Kinder und war wütend auf die europäische Politik.

Ohne dieses Gespräch wäre ich sofort nach Hause gefahren. So nah am Tod von Kindern konnte ich nicht sein. Doch die tröstenden Worte meines Freundes und die Erleichterung, die ich nach dem Gespräch fühlte, erlaubten es mir, zu bleiben. 

Das fotografische Prinzip

Lass uns innerlich einen Schritt zurückgehen. Was ist gerade geschehen? Ich habe dir eine Geschichte erzählt über Menschen, die du auf keinem einzigen Foto zu sehen bekommst: Geflüchtete Kinder, die ihre Reise nach Griechenland nicht überleben. Ich hätte dir auch Bilder von ertrunkenen Kindern zeigen können. Das wäre dramatisch und brutal gewesen. Aber. 

Mit Fotografien und Worten habe ich dir eine Geschichte über ein schmerzhaftes Thema erzählt, ohne dieses pingelig eins zu eins abzubilden. Ich nahm die Orte, Momente und Menschen drumherum auf. Und gab somit den Betrachter:innen ein Gefühl, eine Ahnung, eine Vorstellung davon, ohne sie zu überrumpeln.

Denn: Manchmal kann man das, was man zeigen will, im Verborgenen lassen. Das ist okay. Und vollkommen ausreichend.