Zum Hauptinhalt springen

»In 80 Graden um die Welt«

„Nika hätte da gar nicht reingepasst“, sage ich zu dir. Nika heißt eigentlich Nikita. Aber weil du dir den Namen noch nicht merken konntest, als wir das erste Mal hierher gekommen sind, hast du zu Opas Köter immer Nika gesagt.

„Die Kapsel war winzig“, sage ich. Wir liegen im Garten. Du hast es mit dem Mond zurzeit. Vor Weihnachten noch Dinosaurier, nach Ostern Raketen. Weil Oma dich eine Nazi-Doku über Peenemünde hatte schauen lassen. Das Raketenfeld. Heeresversuchsanstalt. Woher weiß ich das? Vielleicht von Opa. Meinem. Also deinem Uropa.

„Sicher?“, fragst du mich.
„Hab ich so gelernt“, sage ich. „In der Schule. Nika ist viel größer. Vielleicht viermal größer als der Hund von damals.“
„Laika“, sagst du.
„Ja, Laika“, sage ich.

Ich hätte das alles nicht mehr so gewusst. Aber als deine Mondphase angefangen hat, bist du dankenswerterweise schon beim ersten wackeligen Monolog darüber eingeschlafen. Das hat mir bis zum Frühstück Zeit gegeben, mich schlau zu machen. Kannte ich früher gar nicht. Dass ich schlau sein wollte für jemanden. Ich habe im Internet geschaut. Auch wenn ich Angst hatte, unter den Hyperlinks bei Wikipedia dem Uropa zu begegnen. Ich zeige dir noch nichts. Ich erzähl dir lieber alles. Auch wenn das heißt, es hundertmal zu erzählen. Dass Laika eine Straßenhündin war, aus Moskau. Aber so schlau und gutmütig, dass andere Hunde keine Chance hatten. Dass sie in eine Zentrifuge musste, auf Diät, in einen Raumanzug, wie ein echter Kosmonaut. Dass es gar nicht darum ging, sie auf den Mond zu schießen, sondern nur in einen Orbit. Und was das ist, ein Orbit. Dass ich in der Schule lernen musste, wie man Laika schreibt. Auf Russisch.

Nika hat sich vor der Feuerschale lang gemacht. „Wie geht Nika auf Kyrillisch?“ Du bist der Einzige, der auf ihr liegen darf. Bald bist du zu schwer, aber mit dem Kopf auf ihrem Brustkorb geht es noch. Was Sputnik war, weißt du. Aber wenn ich aushole, um den Kalten Krieg zu erklären, wandert dein Blick zur Glut. Wie du in die Feuerschale starrst, das macht mich fertig. Du hast mein Gesicht und das von deinem Opa und das von Uropa. Die ganze Linie bis zu dir. Ich wäre froh, wenn du mehr von Mama hättest. Wenn das Kinn, die Augen, diese Stirn sich bald verwachsen. Du bist das schönste Kind der Welt. Aber wenn man dem Opa, meinem, also dem Uropa in den Hyperlinks begegnet, sieht man, wo wir beide hergekommen sind. Das wünsche ich dir. Dass man es nicht mehr sieht.

Manchmal knackt das Feuer, macht dich wieder wach. Dann erzähle ich dir noch, dass es ein Denkmal gibt für Laika und in Russland Briefmarken mit ihrem Konterfei.

„Konterfei“, murmelst du.
„Gesicht“, sage ich.

Im Haus sind beide Opas noch präsent. Von deinem gibt es sieben Fotos. Von meinem vier. Alle in schwarz-weiß. Mama dreht die Bilder um, im Zimmer, wo wir wohnen.

Langsam wird es frisch. Wenn du eingeschlafen bist, trage ich dich ins Bett. Bald bist du alt genug. Dann muss ich dir die Sache mit den Opas sagen. Kannte ich früher gar nicht. Dass ich dumm sein wollte für jemanden. Immer will ich alles richtig machen. Aber mit den Opas weiß ich nicht, was richtig ist. Beides keine Vorbilder. Wenn das Feuer dich nochmal weckt, erzähle ich dir die Wahrheit. Was aus ihr geworden ist. Aus Laika. Dass sie Stunden nach dem Start verstorben ist. Verreckt. Hitzetod bei 80 Grad. Dass ihr Kadaver noch über Zweitausendfünfhundert Mal um diese Welt geflogen ist und dann verglüht. Das Feuer knackt nicht mehr. Nur Nika seufzt. Ich greife zwischen deine Haare und ihr Fell und trage dich hinein.

»Nikita und du« | Auftragsarbeit | Berlin | 2023

Herzlich willkommen zur fünften Ausgabe von »Feine Auslese«.

#1 / Ich glaube ja noch immer, …

… , dass die dienlichste Superkraft von allen darin bestünde, zwei heteronormative Cis-Männer leidenschaftlich küssen zu machen.

Höcke und Gauland auf dem nächsten AfD-Parteitag? Zack! Kuss!
Putin und Medwedew beim wöchentlichen Pressetermin? Zack! Kuss!
Trump und DeSantis beim ersten TV-Duell der Republikaner? Zack! Kuss! Nuhr und Maaßen bei der Weihnachtsfeier von Compact? Zack! Kuss!

Es braucht kreative Ansätze, um das Patriarchat zu stürzen. Packen wir es an!

#2 / Toujours la tristesse

Ein Nachbar klingelt. Ob sein Sohn und er kurz auf meinen Balkon dürften. Auf der Straße wäre eine Krähe überfahren worden. Die anderen Krähen hätten sich versammelt, um zu trauern. Nun wolle er die Gelegenheit nutzen und seinem Sohn zeigen, dass auch Tiere Gefühle hätten. Ich lasse sie herein. Doch wir kommen zu spät. Jetzt haben Krähen Hunger.

#3 / Eine unangenehme Wahrheit

Stell' mir die unangenehmste Frage, die dir in den Sinn kommt. Aber nur, wenn du dich traust, sie auch selber in diesem Newsletter zu beantworten. Jeden Monat eine Frage. Jeden Monat zwei Antworten. Deine und meine! Schick deine Frage und deine Antwort einfach an feineauslese@paulbokowski.de (Öffnet in neuem Fenster)

Tobias fragt: »Lieber Paul, Gretchenfrage: Popel. Schmieren, schnipsen oder wegnaschen?«

PAUL / »Tolle Wurst. Fünfte Ausgabe und schon bereue ich die ganze Sache. Aber gut, was muss das muss. In meinem Fall: Viel Nase, wenig Borke. Aber wenn's wirklich sein muss: eher Team Schnipsen. Allerdings nicht wahllos, sondern ausschließlich in die Alokasie. Weil sie es verdient hat. Ach, und wer älter ist als sieben und noch immer im Team Naschen spielt, der wird sofort entfreundet.«

TOBIAS / »Naschen. Weiß, wie ekelhaft das klingt. Aber für mich macht das total Sinn. Hatte schon als Kind lange heftige Phasen der Autoaggression. Hab früh angefangen, Nägel zu kauen. Teilweise bis ich blutige Finger hatte. Ich habe auch Haare gezupft und die Wurzeln abgenagt und meine Lippen zerrupft. Mit viel Therapie und Analyse hab ich die Autoaggression und die Ursachen bereinigt. Auch ohne Medis. Worauf ich mega stolz bin. Aber das Popelnaschen ist geblieben. Das ist wie ein Kompromiss, den ich mit meinem Kopf gemacht habe. Solange ich nur das mache, weiß ich: Es herrscht Frieden.«

Danke Tobias!

#4 / Feine Ablese

Angelesen: Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen (Öffnet in neuem Fenster) von Ella Carina Werner

Ich habe mal bei Twitter nach lustigen Autorinnen gefragt und 30 Prozent der Leute haben Renate Bergmann geantwortet. Googelt ruhig mal selber, wer dahintersteckt. Das Problem ist nicht, dass es keine lustigen Autorinnen gäbe. Das Problem ist, dass die sporadischen Nischen, die man ihnen freiräumt, allesamt verquotet sind. Verquotet. Gibts als Wort nicht. Gibts nur als Wirklichkeit. Props also an Rowohlt für mehr als eine witzige Autorin im Programm! Ella Carina Werner. Major-Texte, Major-Label.

Ausgelesen: Im Wasser sind wir schwerelos (Öffnet in neuem Fenster) von Tomasz Jedrowski

Ich sag’, wie’s ist: der bessere Édouard Louis. Mehr Eleganz, mehr Knack. Schwule Liebesgeschichte im kommunistischen Polen. Viel mitreißende Erotik, an keiner Stelle peinlich (was schwer ist bei Erotik) und ein stetig gärender Konflikt zwischen zwei Menschen, an dem sich die politische Tragik jener Zeit ablesen lässt. Zum Ende hin einen guten Kniff verschenkt, aber was soll’s. Ach, und weil er es auf Englisch geschrieben hat, bitte auch auf Englisch lesen. Swimming in the Dark (Öffnet in neuem Fenster).

Abgelesen: The Circle (Öffnet in neuem Fenster) von Dave Eggers

Ufff. Mit frei f. Aus reiner Not heraus in einem Hotel in Mannheim rein gelesen. Richtig schnell nicht gut gealtert. Also Buch und Kreis geschlossen und am nächsten Morgen wieder ins Regal im Frühstücksraum gestellt.

#5 / Wenn der Berg nicht zum Paul kommt

08.06. / BERLIN (Öffnet in neuem Fenster) / Romanlesung
11.06. / KASSEL (Öffnet in neuem Fenster) / Romanlesung
13.06. / FRANKFURT (Öffnet in neuem Fenster) / Humorlesung
20.06. / BERLIN (Öffnet in neuem Fenster) / Lesebühne
30.06. / STUTTGART (Öffnet in neuem Fenster) / Humorlesung
02.07. / NIEDERNHAUSEN (Öffnet in neuem Fenster) / Humorlesung

Alle Termine, alle Infos unter: paulbokowski.de (Öffnet in neuem Fenster)

#6 / Das letzte von der Rolle

Gestern feines Abendessen.
Gast mit Hund. Auch: dog with guest.
Gast bricht auf. Ich stelle fest:
Hat den halben Hund vergessen.

#7 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit. 

#8 / Nachklang

🔊 🔊 🔊 Der Nino aus Wien mit »Der Mai ist vorbei« 🔊 🔊 🔊

https://open.spotify.com/intl-de/track/4iRTz12Xp45YM6ielvlouS?si=b958ad4d3b814f32 (Öffnet in neuem Fenster)

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von PAUL BOKOWSKI: FEINE AUSLESE und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden