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Liebe Leserïnnen,

vor einer Woche twitterte ich:

https://twitter.com/ennopark/status/1411232084572659712 (Öffnet in neuem Fenster)

Auf diesen Tweet habe ich einige Reaktionen bekommen, dass der R-Wert keine Aussagekraft habe. Hat er wohl, und zwar folgendermaßen:

(Mini-Exkurs: R besagt, wie viele weitere Menschen eine infizierte Person ansteckt. Wenn R kleiner als 1 ist, steckt jede infizierte Person weniger als eine weitere Person an, und die Verbreitung eines Virus wird eingedämmt. Ist R größer als 1, steckt jede infizierte Person mehrere weitere Personen an und ein Virus verbreitet sich. Machen wir Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder das Tragen von FFP2-Masken, sinkt R.)

Nun ist es aber schwierig, R korrekt zu messen, insbesondere bei relativ niedrigen Fallzahlen. Deshalb ist der R-Wert, den das Robert-Koch-Institut veröffentlicht, ein auf Messdaten basierender Schätzwert, der mit statistischen Verfahren (Nowcast) ermittelt wird. Ein Blick in die Suchmaschine fördert zu Tage, dass es über den Sinn und Unsinn von R eine sehr breite Debatte im Frühsommer 2020 gab.

Dies ist eine gute Stelle, um eine Nebelkerze zu werfen. In etwa so:

Verquerdenkerïn:"R kann nicht genau gemessen werden und taugt als Kennzahl nichts."

RKI: "Deshalb glätten wir R mit statistischen Verfahren, sodass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit einen realistischen Wert bekommen."

Verquerkdenkerïn:"R taugt nichts, weil das RKI Statistik-Voodoo mit den Messwerten macht. Trau keiner Statistik, die du nicht selbst bla…"

Ohne sauber zu messendes R stecken wir argumentativ in der Falle. R ist als Messzahl verbrannt, wenn eins will, dass R als Messzahl verbrannt ist. R ist als Messzahl tauglich, wenn eins will, das R als Messzahl tauglich ist. Kommunikation zwischen den beiden Ansichten ist unmöglich. Wer in dieser Debatten-Sackgasse stecken bleibt, ignoriert, dass die Wissenschaft™ einschließlich dem RKI selbst immer wieder betont hat (Öffnet in neuem Fenster), dass R mit Vorsicht zu genießen und nicht isoliert zu betrachten ist, also in Kontext mit anderen Werten gestellt werden muss.

Also betrachten wir R mal nicht isoliert, sondern setzen den Wert in Kontext:

Erste Frage: Trend oder Ausreißer? Hier eine Grafik des Pandemieverlaufes, die von "Corona in Zahlen" (Öffnet in neuem Fenster) stammt (rote Markeriungen von mir).

Wir sehen, dass R schwankt aber seit April stetig sinkt. Das entspricht zeitversetzt recht genau dem Verlauf der zurückgehenden dritten Welle. Wir sehen weiter, dass R seit einiger Zeit stetig steigt und sich seit mehr als einem Monat fast stetig aufwärts bewegt. Wir haben also einen Trend.

Zweite Frage: Gehen andere Parameter in die gleiche Richtung? Ja. Die 7-Tage-Inzidenz ist vor einer Woche das erste Mal seit langem nicht gefallen und steigt seitdem täglich. Ein exponentieller Anstieg mit explosivem Wachstum in den nächsten Wochen ist zumindest zu befürchten.

Dritte Frage: Gibt es einen plausiblen Grund, warum R steigt? Ja. Wir beobachten seit längerem einen Anstieg der Delta-Variante, von der wir wissen, dass sie erheblich ansteckender ist. Tatsächlich ließ die Entwicklung von Delta seit Wochen befürchten, dass die Zahlen bald wieder steigen. Viele Menschen wollten das nicht gelten lassen, solange die Inzidenz sinkt. Kaum steigt R über 1, behaupten viele wieder, R bedeute nichts.

Vierte Frage: Gibt es Vorbilder für das Geschehen? Ja, in mehreren Ländern, besonders in Groß-Britannien und zuletzt explosionsartig in den Niederlanden. Die Frage ist nicht mehr, ob sondern wie schnell und wie sehr Delta "kommt".

Wir fassen zusammen: R ist für sich genommen ein unsicherer Wert. Aber R>1 ist nach wochenlang stabilem Aufwärtstrend zu beobachten und trifft mit wieder steigender Inzidenz sowie einer plausiblen und bereits erwarteten Ursache zusammen. Und es ist woanders schon genauso passiert.

In diesem Kontext ist es töricht, abzuwiegeln und die aktuelle Entwicklung von R für ein statistisches Artefakt zu halten. Selbstverständlich weckt das Ängste: Es kamen Reaktionen wie "Noch einen Lockdown halte ich nicht durch". Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Wir brauchen gerade keinen weiteren Lockdown, wir wollen nur die niedrigen Zahlen niedrig halten. Das geht mit entsprechenden Maßnahmen, wie sie unter den Stichworten #NoCovid und #ZeroCovid beschrieben werden, wobei ein Teil dieser Maßnahmen gerade läuft. Impfen, Testen, Kontakt-Nachverfolgung, Mund-Nasen-Schutz, strenge Quarantäne-Regeln, lokale Lockdowns bei Ausbrüchen, strenge Einreisequarantäne – und das alles jetzt und nicht erst, wenn die Zahlen wieder hoch sind. Stattdessen haben wir: Fußball-Europameisterschaft als Superspreader-Event mit Ansage und ohne Einreisequarantäne, in vielen Bundesländern fallen die Masken, wie letzten Sommer werden die Schulen nicht auf eine entsprechende Entwicklung im Herbst vorbereitet, die Homoffice-Pflicht wurde vorschnell abgeschafft usw. usw. usw.

Machen wir und die uns regierenden Politikerïnnen die gleichen Fehler zum dritten Mal? Wir haben es in der Hand.

Und damit, liebe Leserïnnen, wünsche ich ein schönes Restwochenende.

Enno Park

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