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Liebe Leserïnnen,

ich frage mich, wie es sein kann, dass alle in diesem Ausmaß auf Annalena Baerbock herumhacken.

Vielen Leserïnnen, die wegen meines Twitter-Threads auf diesen Newsletter aufmerksam geworden sind, wird das Folgende bekannt vorkommen. Extra für euch wird es dieses Wochenende noch eine weitere Ausgabe von "Technik, Kultur und Katzencontent" geben. Ihr könnt an dieser Stelle aufhören zu lesen, aber stattdessen gerne diese Mail an Freunde, Bekannte und Familienmitglieder weiterleiten, die nicht auf Twitter sind.

Aber zurück zum Thema. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum #AlleGegenBaerbock so gut funktioniert. Folgendermaßen:

Armin Laschet verdankt seine Karriere teilweise der Protegierung durch christliche Aachener Lokalgrößen. Als Lehrbeauftrager hat er sich Klausurnoten einfach ausgedacht. Als Minister hat er seine Untergebenen ein Buch für sich schreiben lassen, das er unter seinem Namen veröffentlichte. Als dies bekannt wurde, spendete er die Buch-Einnahmen, allerdings nicht ohne diese Spende von der Steuer abzusetzen. Er agiert wissenschaftsfeindlich, argumentiert postfaktisch und stellt in seiner Corona-Politik Profit-Interessen über Menschenleben, etwa wenn es obskure Ausnahmen für Möbelhäuser gibt. "Wissenschaftliche" Studien finanziert er danach, ob sie seine Politik stützen, und er ist in einen Korruptionsfall um unbrauchbare medizinische Kittel verwickelt. In seinem Bundesland hat er kürzlich die Demonstrationsfreiheit drastisch eingeschränkt und trotz Klimakatastrophe eine 1000-Meter-Abstandsregel für Windräder festgesetzt, die für eine Abnahme von Windrädern sorgen wird, während weiterhin Dörfer enteignet und abgerissen werden, um Braunkohle zwecks Verbrennen aus der Erde zu holen, wobei für Tagebauen und Kraftwerke geringere Mindestabstände zu Siedlungen gelten als für Windräder.

Olaf Scholz führte als Innensenator in Hamburg den polizeilichen Einsatz von Brechmitteln gegen Verdächtige ein, der vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig eingestuft wird und in Hamburg zu mindestens einem Todesfall führte. Bei den Protesten beim Hamburger G20-Gipfel kam es zu zahlreichen und massiven Fällen von Polizeigewalt gegen Demonstrierende aber auch gegen Pressevertreterïnnen und Verstöße gegen die Pressefreiheit, was der als Bürgermeister mitverantwortliche Olaf Scholz leugnete. Als Finanzminister trägt er Mitverantwortung für das Versagen der Bafin im Wirecard-Skandal. Lediglich bei der Verwicklung in Cum-Ex-Geschäfte der Warburg-Bank sieht es danach aus, als ob ihm das zu unrecht vorgeworfen würde.

Annalena Baerbock hat ihren Lebenslauf geschönt und das offenbar im Umfang dessen, was Bewerbungscoaches durchaus mal raten. Sie und ihr Ghostwriter haben offenbar freizügig Textpassagen aus fremden Quellen für ihr Buch benutzt, ohne dies kenntlich zu machen, wobei es sich – das ist hier wichtig – nicht um ein Plagiat in einer wissenschaftlichen Prüfungsarbeit handelt wie beispielsweise bei Franziska Giffey. Das ist hässlich, aber:

Die jeweiligen Verfehlungen der drei Kandidatïnnen stehen in keinem Verhältnis zueinander, das auch nur ansatzweise das Ausmaß rechtfertigt, in dem sich Medien und Öffentlichkeit an Baerbock abarbeiten. Wie kann es sein, dass diese Kampagne so erfolgreich ist? Wie zur Henkerïn kann ein denkendes und fühlendes Wesen sich in dieser Situation an ihr und nicht den anderen beiden abarbeiten wollen?

Dass Leute aus dem rechten Lager mit jedem Schmutz werfen, den sie haben, ist klar. Aber wie kommen Leute aus der politischen Mitte oder sogar links auf die Idee, Baerbock "sei hochnäsig" und "stünde sich irgendwie selbst im Weg" und das sei jetzt schlimmer als Laschet oder Scholz? Wie kann "Hochnäsigkeit" im Kontrast zu Korruption und menschenverachtender Politik ein Argument sein, das nicht nur von den üblichen Feinden der Grünen, sondern dermaßen breit und bereitwillig aufgenommen und wiedergegeben wird? Die Antwort liegt meiner Meinung nach in der konservativen Struktur unserer Gesellschaft.

An dieser Stelle möchte ich auf meinen Twitter-Thread zum Thema Konservatismus (Öffnet in neuem Fenster) verweisen, den ich gelegentlich unbedingt noch außerhalb von Twitter veröffentlichen muss. Ich habe dort herausgearbeitet, dass es Konservativen beim "Bewahren" zu allererst immer darum geht, die bestehende Hierarchie und damit auch den eigenen Status darin zu bewahren. Und genau dieses Denken schlägt auch im Fall Baerbock wieder zu.

Laschet und Scholz kann allerlei vorgeworfen werden, aber sie handeln von einer Position aus, die dem Status entspricht, der ihnen von der Gesellschaft zugesprochen wird. Baerbock bricht diese Erwartung immer wieder an Stellen, die den Status markieren. Ein Buch geschrieben haben, hebt den Status. Werden in dem Buch Fehler gefunden, wird das so interpretiert, als maße Baerbock sich einen Status an, den sie eigentlich nicht habe. Beschäftigt sie (wie nahezu alle anderen Spitzenpolitikerïnnen auch) einen Ghostwriter, wirkt das wie eine ebensolche Status-Anmaßung.

Auch der Lebenslauf zeigt den Status einer Person an. Schönungen daran wirken ebenfalls, als wolle wer sich einen höheren Status anmaßen als ihm oder ihr eigentlich zukomme. Bei Leuten, die sich statusgemäß verhalten, sind solche Verfehlungen nie ein Problem, wohl aber für Baerbock, die hier vor einer doppelten Schwierigkeit steht: Für viele ist es (oft unbewusst) noch immer eine Status-Anmaßung, als Frau für ein Spitzenamt zu kandidieren(*). Und sie tut es ausgerechnet in der Partei, die erst 1979 zum Parteiensystem hinzukam. Die Grünen sind quasi ein "Emporkömmling" im altbundesrepublikanischen Parteiensystem. Die Vorwürfe sind ein einziges pikiertes und blasiertes "Was erlauben Baerbock?"

Genau so, wie sich die Empörung über Panama-Papers und zahllose Korruptionsfälle auf enttäuschende Weise in Grenzen hält, können Laschet und Scholz (und Trump) mit ihrem Verhalten durchkommen, weil sie sich im konservativen Sinne rollen- und statuskonform verhalten. Verhält sich eine Person aus konservativer Sicht nicht statuskonform, wie zum Beispiel Baerbock das tut, sind die kleinsten Fehler plötzlich unverzeihlich, insbesondere wenn sie Indizien für eine vermeintliche Status-Anmaßung sind. Da reagieren die Leute, heftig, das geht gar nicht.

Ganz ähnlich war das bei Rezo zu beobachten, der vor allem deshalb von vielen abgelehnt wird, weil er in ihren Augen als blauhaariger Youtuber aus der Rolle fällt. Da ist ganz egal, ob seine Argumente richtig, stringent und mit Quellen belegt sind. Oder im US-Wahlkampf 2016: "Grab 'em by the pussy" ist hässliches, aber rollenkonformes Verhalten für einen privilegierten Patriarchen. Boys will be boys. Aber Präsidentin werden wollen ziemt sich für eine ehemalige First Lady nicht. Da wurde neben dem gebetsmühlenartigen „But her emails!“ auch dauernd Clintons Qualifikation in Frage gestellt.

Das traurige Fazit: Viel mehr als wir das wahrhaben wollen, besteht unsere Gesellschaft bis weit nach links noch immer aus in Hierarchien denkenden Anhängerïnnen des DaKönntJaJederKommismus, die bereitwillig auf ein Baerbock-Bashing einrasten, wenn nur der geringste Anlass geboten wird.

(*) Bleibt noch eine Fußnote: Ihr höre schon, wie Leute sagen, Quatsch, das kann nichts mit Baerbocks Geschlecht zu tun haben, wir hatten 16 Jahre lang eine Kanzlerin. Das stimmt nur auf den ersten Blick. Wir übersehen, dass Angela Merkel nur durch die Kohl-Parteispendenaffaire an die Spitze der CDU gelangen konnte, und sie konnte nur Kanzlerkandidatin werden, nachdem sie dem "Patriarchen" Stoiber einmal den Vortritt gelassen hat und dieser scheiterte. Angela Merkel wurde jahrelang auf rüdeste Weise öffentlich verhöhnt ("das Merkel") und ihr wurde bis in die Elefantenrunde hinein noch die Qualifikation abgesprochen. (Übrigens damals auch von mir. Mann lernt dazu.)

Und damit, liebe Leserïnnen, wünsche ich einen kühlen Kopf in einem heißen Wahlkampf.

Enno Park

P.S. in eigener Sache: Wer diesen Newsletter oder meinen sonstigen Output auf Twitter (Öffnet in neuem Fenster) und anderswo (Öffnet in neuem Fenster) gut findet und meine Arbeit gerne finanziell unterstützen möchte, kann das hier tun (Öffnet in neuem Fenster). Ich danke herzlich.