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Liebe Leserïnnen,

bei unserer regelmäßigen Beschäftigung mit kalter Technik und seelenloser Digitalität muss gelegentlich auch einmal Zeit für etwas Erbauliches sein. Deshalb komme ich heute einer Bitte aus dem Internet (Öffnet in neuem Fenster) nach, eine Gedichtanalyse zu verfassen. Die bemerkenswerte Elegie „Endzeit“ hat der allseits geschätzte Archäologe Mirko „Der Buddler“ Gutjahr bei einer gegenswartsarchäologischen Prospektion in einem Leipziger Schaufenster gefunden (Öffnet in neuem Fenster). (Zum Betrachten in höherer Auflösung bitte auf das Bild klicken/tappen.)

(Fotos: Mirko Gutjahr (Öffnet in neuem Fenster))

Der Titel „Endzeit“ öffnet trotz seiner Schlichtheit eine monumentale Rahmung. Der Einstieg erfolgt mit dem Bild eines Virus. Das Gedicht entstand also während einer der großen Pandemien. Doch um welche Pandemie könnte es sich handeln? Die typografische Aufmachung deutet darauf hin, dass das Gedicht auf einem Windows-PC getippt wurde und deshalb frühestens Anfang der 1990er Jahren entstanden sein konnte. Natürlich ist es denkbar, dass hier lediglich ein viel älteres Gedicht abgetippt wurde, aber die Verwendung aktueller Ausdrücke wie „Chemtrails“ oder „Big Pharma“ dürfte eine solche Einstufung widerlegen. Es handelt sich also weder um die Pest noch um die Cholera und auch nicht um die spanische Grippe. Die Erwähnung von „5G“, einem derzeit in Einführung begriffenen Mobilfunkstandard, deutet darauf hin, dass es sich bei dem Gedicht um ein Produkt der Gegenwart handelt und mit Virus wahrscheinlich SARS-CoV2 gemeint ist.

Das Gedicht gliedert sich in mehrere Teile: Einem Einstieg mit zwei vierzeiligen Versen sowie einem Hauptteil mit fünf mal drei zweizeiligen Versen. Der Einstieg beschreibt ein Virus (lat.: „Gift“), das in die Welt gesetzt wurde, um die „Menschen gegeneinander aufzuhetzen“ und „zur Schlachtbank zu treiben“. Im Zentrum dieser Einleitung steht die rhetorische Frage an die Leserïnnen, ob sie das (hier in Versalien gesetzte) Gift (lat.: „Virus“) „auch schon in sich drin haben“. In der zweiten Hälfte der Einleitung wird dieses Bild mit Lügen, Angst und Geldverdienen verbunden sowie mit gesundem Menschenverstand und der Abwesenheit von Intuition gleichermaßen. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass dieses Gedicht weder rein intuitiv noch einem „gesunden Menschenverstand“ folgend zu deuten ist.

Es folgt der Hauptteil mit seinen fünf Sinneinheiten, die jeweils in drei zweizeilige Strophen unterteilt sind. Die erste zeichnet ein an apokalyptische Darstellungen erinnerndes Schreckensbild aus einer „Weltwirtschaft am Abgrund“, Obdachlosigkeit in Verbindung mit der Pharma-Industrie (gr.: φάρμακον: „Heilmittel, Gift“), die sich an einer „dahinsiechenden und langsam verreckenden Welt“ „Milliarden auf die hohe Kante“ schaufelt. Der Teil endet mit Rückbindung des Bildes an den Begriff der Lüge.

Der zweite Teil thematisiert so genannte „Chemtrails“, also einen Verschwörungsmythos, wonach von Flugzeugen aus Gift über dem ganzen Land versprüht würde, um einen langsamen Genozid zu verüben. Wir haben hier also wieder das Bild des „Giftes“, das erneut in der letzten Strophe dieses Abschnittes an das Thema „Lüge“ rückgebunden wird. Während der erste Abschnitt des Hauptteils noch mit einer Frage endete, schließt der zweite Teil mit der Quasi-Aufforderung, in den Himmel zu schauen, anstatt (erneut in Versalien gesetzt) medialen Lügen zu glauben. Liegt die Antwort im Himmel?

Ja, ganz offensichtlich, wie der dritte Abschnitt des Hauptteils verrät. Denn was kommt aus aus dem Himmel entgegen? UFOS! Wobei die Leserïnnen hier natürlich nicht einfach an unbekannte Flugobjekte denken, sondern an außerirdische Lebensformen, die die Erde besuchen. Oder auch nicht, denn es ist von einer „Fake Alien Invasion“ (in Versalien) die Rede, welche für das im Jahr 2022 auf einer Agenda (wessen?) stünde. Doch anders als die vorangehenden Abschnitte scheint das Thema der Lüge hier keine so wichtige Rolle mehr zu spielen. Stattdessen schließt es mit einem Bild, das an einen Weltuntergang gemahnt („Risse in die Raumzeit reißen“).

Nach diesem Höhepunkt kehrt das Gedicht wieder zum Thema Gift zurück, hier in Gestalt von Glyphosat. In diesem Abschnitt werden das klimaschädliche Gas CO2 (offenbar gut, aber verteufelt) und der Mobilfunkstandard 5G (offenbar böse) gegenüber gestellt. Wiederum ist der Begriff der Lüge auch hier im Verb „verteufeln“ präsent, steht aber erneut nicht im Vordergrund. Dafür werden Glyphosat, Muttermilch, CO2 und 5G mit dem Thema Digitalisierung verknüpft, welche als „Cyborg-Menschen Kreierung“ (in Versalien) bezeichnet wird.

Im letzten Teil schließlich scheint eine apokalyptische Naturkatastrophe stattzufinden. „Mutter Erde wehrt sich“ und zwar mit „ungezähmter Vulkan-Gewalt“ (in Versalien). Diese Katastrophe scheint aber nicht den Untergang zu bedeuten, sondern die Vernichtung eines „falschen Geistes“, der die Welt seit 6000 Jahren versklave. „Dann sind unsere Seelen wieder frei“ jubelt es in der letzten Strophe. Der Begriff der Lüge taucht ein letztes mal prominent in der letzten Zeile als „Lügen-Matrix“ (in Versalien) auf, allerdings ist es mit dem Lügen, das von Abschnitt zu abschnitt verblasste, nun ganz vorbei.

Inhaltlich handelt es sich also um eine Ansammlung gängiger und aktueller Klischees des verschwörungsmythischen Denkens in Verknüpfung mit apokalyptischen Vorstellungen, welche in scheinbar elegischer Form vorgetragen wird. Die vielen Aussagen wirken zwar oberflächlich betrachtet anklagend, doch ein Blick auf die äußere Form verrät, dass das Gedicht durchaus anders gemeint sein dürfte. Diese lehnt sich nämlich an keine der bekannten Strukturen wie Sonett, Limerick oder Haiku an. Und um konkrete Poesie handelt es sich eben so wenig: Keine Lautmalerei, kein Spiel mit Klängen, keine synästhetisch in Pastelltönen dahingetupften Wortbilder – dies ist trotz einiger in Versalien gesetzter Wörter kein Gomringer, und will ganz gewiss auch kein Gomringer sein.

Strukturell teilt sich das Gedicht, wie gesagt, in Einführung und Hauptteil, wobei sich der Hauptteil nochmals in fünf Teile gliedert, die den typischen fünf Phasen der Novelle folgen: Klimax (UFO-Invasion!) in der Mitte und Katastophe (Weltuntergang!) am Ende. Die vorgeschaltete Einleitung, also das Thema Pandemie, ist nicht wirklich wichtig, sondern soll in der Gegenwart abholen und diese mit der Apokalypse verknüpfen. Der Hauptteil wiederum signalisiert durch seinen strukturellen Aufbau als Novelle, dass er uneigentlich und symbolisch zu lesen sei. Die Apokalypse steht hier also für etwas anderes. Doch wofür? Dazu später mehr.

Anstelle eines typischen Versmaßes verwendet die Autorïn eine freie Form, die von Vers zu Vers variiert, ein Merkmal, das sich sonst bei der Hymne findet. Handelt es sich also um das glatte Gegenteil einer Elegie, um eine (Freuden-)Hymne? Der kraftvolle Duktus und das jubilierende Ende legen dies nahe! Auch das Metrum unterstützt diese Lesart: Haben wir beispielsweise in der ersten Zeile zunächst einen gewöhnlichen Jambus, wird dieser in der zweiten Zeile stakkatohaft durch das Wort „gegeneinander“ unterbrochen. In den folgenden Zeilen wird der Jambus aufrecht erhalten, jedoch immer wieder mit scheinbar chaotischen Silbenfolgen wie „aber keine Intuition“ erneut unterbrochen. Das ist natürlich Absicht und auf mehrfache Hinsicht ausgesprochen elegant. Während auf oberflächlicher Ebene die unterbrochenen Rhythmen wirken, als sollten sie ein Gefühl der Verstörung hervorrufen, unterstreichen sie heimlich die hymnische Freiheit der Form. Hier wird nicht geklagt, hier wird gefeiert.

Dabei erweckt der gekonnte Knittelvers geschickt den Eindruck, dass es sich um eine Art „Laiengedicht“ handele, wie es häufig auch auf Hochzeiten und ähnlichen Anlässen vorgetragen wird. Es täuscht eine bestimmte Form intellektueller Schlichtheit vor und will anti-elitär wirken, als ob es nicht von „denen da oben“, einer fähigen Autorïn stammen würde. Dies ist ein Gedicht, das von deinesgleichen für dich geschrieben wurde, will die Autorïn ihren Leserïnnen mitteilen – oder vormachen. Damit tritt sie hinter den eigentlichen Inhalt zurück.

Ob diese Deutung standhält, verrät vielleicht auch ein Blick auf die Autorïn. Sie bleibt leider namenlos, jedoch lässt sich aus der Fundstelle einiges an Kontext ableiten. Das Schaufenster, in dem das Gedicht ausgelegt ist, wird von Gutjahr auch als „Gesamtkunstwerk (Öffnet in neuem Fenster)“ bezeichnet. Darin stehen zwei esoterische Bücher: „Jenseits des Greifbaren – Engel, Geister & Dämonen“ sowie „Die Manipulationen der Anunnaki – Satanismus, andere Dimensionen und die Ursprüngen des Bösen“. Außerdem enthält es eine Statuette des altägyptischen Totengottes Anubis, eine Statuette, die zwei Eichhörnchen darstellt, sowie symmetrisch mit jeweils vier Füchsen bedruckte Servietten. Die Konstellation der Gegenstände ist wohlgeordnet. In symmetrischer Anordnung verbinden sich die beiden außen liegenden Blätter des „Endzeit“-Gedichtes über die Füchse, welche Sünde, List und Verschlagenheit symbolisierenden, mit Anubis im Zentrum, also derjenigen Gottheit, die uns bei unserem Tod ins Jenseits geleiten soll.

(Fotos: Mirko Gutjahr (Öffnet in neuem Fenster))

Die Installation würde den Eindruck eines verwirrten Geistes vermitteln, der glaubt, in Esoterik und Verschwörungsglauben eine Ordnung der Dinge gefunden zu haben, wären da nicht die Eichhörnchen. Als Nager, die fleißig Wintervorräte sammeln, gelten sie gemeinhin als Sinnbild für vorausschauende Vernunft. Diese Eichhörnchen wurden losgelöst von der restlichen Elementen ganz in der Ecke platziert und betrachten die Szenerie mit erbaulicher Pose. Die Ratio der Autorïn liegt also nicht im Gedicht, den Esoterik-Büchern und der Anubis-Status sondern betrachtet all dies von außen. Im Gesamtkunstwerk spiegelt sich also, was wir schon für das Gedicht selbst vermuten konnten: Es geht hier nicht um die propagandiste Verbreitung verschwörungsideologischer Inhalte sondern um deren Betrachtung von einer Metaebene aus.

Also ist die wahre Bedeutung von „Endzeit“ sozusagen im Innern einer lyrischen Matroska verborgen. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass ein Gedicht chaotische Endzeitzustände feiern möchte, während es diese zu beklagen vorgibt, doch der Blick des Eichhörnchens verrät uns, dass auch diese Ebene eine uneigentliche ist. Ja, das Gedicht ist eine Hymne, die Autorïn möchte etwas feiern, aber eben nicht die Apokalypse sondern etwas ganz anderes: Sie zelebriert, Blödsinn zu behaupten und alles und jedes nach Belieben in Zusammenhang zu stellen, etwa 6000 Jahre Sklaverei, 5G und eine Pandemie. Glyphosat, Muttermilch, CO2, 5G, Digitalisierung und „Cyborg-Menschen Kreierung“ werden weder gefeiert, noch beklagt, sondern lustvoll zu einer wüsten Unsinnsgemengelage montiert und dieses dann gefeiert. Die Autorïn zelebriert Drama und Weltuntergang, wobei es ihr nicht um den Weltuntergang sondern um das Drama geht. Gefeiert wird die Lust, monumental und mit Anlauf groben Unfug zu reden. Was gesagt wird, ist egal. Ob es wirklich geglaubt wird, auch. Querdenken bringt Spaß und nur darum geht es.

Das Gedicht „Endzeit“ ist eine Hymne auf das Bullshitten aus Freude am Bullshitten. Oder zumindest diese Gedichtanaylse.

Ein schönes Restwochenende wünscht

Enno Park

P.S.: Nächstes Wochenende dann wieder was Ernsthaftes mit Technikkultur oder Digitalisierung oder so und etwas weniger indirektem Katzencontent.

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