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Wie China die Menschenrechte neu erfand

In den 1980ern kriegte sich die Welt vor Begeisterung über China kaum ein - bis das chinesische Militär auf Studierende feuerte.

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Die Rufe “Faschisten! Stoppt das Töten!” sind verstummt, als die Sonne über dem Tiananmen-Platz aufgeht. Soldaten in grünen Anzügen steckten die Leichen der Menschen, die sie in der Nacht zuvor (Öffnet in neuem Fenster) erschossen haben, in Plastiktüten. Sie haben mit Maschinengewehre und Deformationsgeschossen, die so viel Schaden wie möglich anrichten sollen, gefeuert. Auf unbewaffnete Menschen, die vor ihnen zu fliehen suchten. Auf Rettungswagen, die Verletzte in Krankenhäuser bringen sollten und stattdessen in Flammen aufgingen. 

Das Massaker vom Tiananmen-Platz ist der Supergau des chinesischen 20. Jahrhunderts. Danach formulierte China das erste Mal seine Position: Menschenrechte sind nicht universell. Wie China zu dieser Auffassung kommt, erkläre ich dir in diesem Newsletter.

Dieser Newsletter ist Teil einer Reihe zur Frage: Warum will China eine Sonderrolle, wenn es um Menschenrechte geht? Den ersten Teil findest du hier (Öffnet in neuem Fenster)

Wie Ronald Reagan mit China das Morgen zu einem besseren Tag machen wollte

Deng Xiaoping (Öffnet in neuem Fenster), der nicht mal 1,60 Meter große Architekt des chinesischen Wirtschaftswunders, war beinharter Kommunist. Zum Erfolg führte ihn jedoch sein Pragmatismus. Er wusste: Sollte die Kommunistische Partei den Tod Mao Zedongs überleben, musste sie “frischen Wind hereinlassen, aber die Moskitos draußen halten”. Und deswegen krempelte Deng Xiaoping China nach Jahrzehnten voller Hungersnöte (Öffnet in neuem Fenster), politischer Turbulenzen (Öffnet in neuem Fenster) und einem de facto Bürgerkrieg (Öffnet in neuem Fenster) komplett um. Jetzt, da Mao begraben lag, war Chinas time to shine.

Eine liberale Demokratie hatte Deng Xiaoping nie im Sinn. Aber er wusste: China braucht Wohlstand und Unternehmer-Geist. Ab 1983 durften Bauern (Öffnet in neuem Fenster) in ganz China Familienbetriebe gründen. Auf dem Land vervierfachte sich innerhalb eines Jahrzehnts das Pro-Kopf-Einkommen. Nie war eine Landbevölkerung so schnell so wohlhabend geworden, und das stieß auch im Westen auf Anklang.

Ronald Reagan sprach 1984 als erster amerikanischer Staatschef in der großen Halle des Volkes in Beijing. Seine Rede (Öffnet in neuem Fenster) klingt, als stamme sie von einem anderen Planeten: “Ich bin nicht nach China gekommen, um über das zu sprechen, was uns trennt. Sondern um auf dem aufzubauen, was uns verbindet.” sagt Reagan. “Gemeinsam werden wir das Morgen zu einem besseren Tag machen.” Im Westen hoffte man, der wirtschaftlichen Öffnung würde auch eine politische folgen: Eine aufstrebende Mittelschicht (Öffnet in neuem Fenster) würde automatisch mehr Pressefreiheit und individuelle Rechte verlangen, so die Rechnung. 

Was am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz geschah

Und tatsächlich entwickelte sich unter chinesischen Studierenden ab 1985 eine Protestbewegung (Öffnet in neuem Fenster). Zuerst gegen die rasante Inflation und die Korruption, von der die Kinder der Parteikader profitierten. Bald forderten sie auch Pressefreiheit und politische Beteiligung. Wie die chinesische Führung diese Proteste wahrnahm, erfuhr die Welt 2001 mit dem Leak der Tiananmen Papers (Öffnet in neuem Fenster). Deng Xiaoping warnte am 25. April 1989: “Das ist ein geschickter Plan, der auf die Demolierung der Kommunistischen Partei Chinas und des sozialistischen Systems abzielt.”

Deng Xiaoping machte wohl auch der bevorstehende Zusammenbruch der Sowjetunion nervös. Wollte die Kommunistische Partei diesem Schicksal entgehen, mussten die Proteste enden - egal wie. Deng Xiaoping entschied sich, das Kriegsrecht auszurufen.

Am 3. Juni 1989 gab Premierminister Li Peng den Soldaten der Volksbefreiungsarmee den Befehl (Öffnet in neuem Fenster), den Tiananmen-Platz zu räumen. Am Ende waren mindestens 1.000 Menschen tot, die genaue Zahl ist bis heute nicht klar. Viele starben, weil die Soldaten nur im Umgang mit Maschinengewehren und Panzern trainiert waren. Ihnen fehlten Waffen wie Gummigeschosse oder Tränengas und das nötige Wissen, um die Menschenmenge ohne Blutvergießen zu räumen.

Jetzt stand China vor einem ganz anderen Problem. Ja, die Führung hatte die Unruhen im eigenen Land zerschlagen. Aber China war nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz international unter Druck wie nie zuvor.

Bis Tiananmen hatten politische Verfolgungen oder die Unterdrückung ethnischer Minderheiten in China kaum für internationale Proteste (Öffnet in neuem Fenster) gesorgt (ratifiziert hatte China bis 1989 ohnehin nur wenige der UN-Menschenrechtskonventionen). Für die USA und Europa war die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China schlicht wichtiger. Aber jetzt forderten Menschenrechtsorganisationen und die UN China eindringlich auf, sich zu den Geschehnissen auf dem Tiananmen-Platz zu äußern.

Premierminister Li Peng rechtfertigte die Gewalt damit, man habe dadurch die Stabilität des Landes bewahrt. Die Regierung gab sogar ein Buch mit dem Titel “The Truth about the Beijing Turmoil (Öffnet in neuem Fenster)” heraus, das mit Fotos und englischen Texten die angebliche Gewalt des chaotischen Studierenden-Aufstandes belegen soll. Doch es wurde schnell klar: Um die Kritik abzuwehren, musste China seine Perspektive einerseits aggressiver verteidigen (Öffnet in neuem Fenster). Und andererseits seine Position zu den allgemeinen Menschenrechten der UN erklären. Die chinesische Führung entschied sich für die Flucht nach vorn.

Ein neues Narrativ entsteht

1991 äußerte China sich in einem White Paper (Öffnet in neuem Fenster) das erste Mal zu seiner Auffassung der Menschenrechte. Das Paper ist in 10 Kapitel aufgeteilt und ziemlich lang. Sein Kern steckt gleich im allerersten Satz: “Es ist eine einfache Wahrheit: Für jedes Land ist das Recht auf Existenzsicherung das Wichtigste aller Menschenrechte. Ohne dieses Recht kommen die anderen Rechte nicht in Frage.”

Außerdem entwarf das White Paper ein alternatives Narrativ der Menschenrechte, die Beijing von nun an bewarb: “Unabhängige Staaten müssen Menschenrechte im Kontext ihrer historischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten interpretieren und umsetzen.” Im Klartext: Menschenrechte hängen von der Kultur und Entwicklung eines Staates ab. Sie sind nicht universell. Also genau das, womit Qin Gang während einer Pressekonferenz im April 2023 (Öffnet in neuem Fenster) die Zuhörer*innen erzürnte.

Das White Paper von 1991 ist der Kipppunkt, an dem hätte klar sein müssen: Wandel durch Handel wird nicht kommen. Denn die Kommunistische Partei Chinas lässt sich nicht auf grundlegende Reformen ein. Damals wie heute lag der Partei vor allem eines am Herzen: Der Erhalt der eigenen Macht.

Tiananmen ist mehr als tank man

Was fällt dir ein, wenn du an die Proteste auf dem Tiananmen-Platz denkst? Wahrscheinlich das Bild des tank man (Öffnet in neuem Fenster): Der Mann, der sich den Panzern auf dem Tiananmen-Platz entgegen stellte. Viele Forscher*innen und Journalist*innen berichten, dass junge Menschen in China das Bild nicht erkennen. Denn die chinesische Regierung hat sämtliche Erinnerung an das Massaker getilgt. Sogar das Buch “The Truth about the Beijing Turmoil”, das man Anfang der 1990er noch für wenige Münzen an Souvenirshops kaufen konnte, ist heute in China verboten.

Also ist Tiananmen in China vergessen, oder? Dieser Text (Öffnet in neuem Fenster)von Kaiser Kuo lässt daran zweifeln. Dort schreibt er:

“Es gibt sicherlich viele Menschen in Peking und ganz China, denen sehr viel daran liegt, was vor 30 Jahren passiert ist.”

Denn häufig wird das schiere Ausmaß der Proteste vergessen. Nicht nur in Beijing, sondern auch in Chengdu, Shanghai, Xi’an und anderen Städten gab es Proteste gegen die Regierung. Bis zu 300.000 Soldaten waren in Beijing, um den Aufstand niederschlagen. Unzählige Anwohner*innen, Krankenschwestern und Familienmitglieder müssen von den Geschehnissen in jener Nacht wissen.

Die chinesische Regierung kann vielleicht die Suchergebnisse zu Tiananmen aus dem chinesischen Internet verschwinden lassen. Sie kann nicht die Erinnerung aus den Köpfen löschen.

Und junge Menschen in China? Wie Kaiser Kuo schreibt: Junge Menschen mögen heute den tank man nicht erkennen. Aber viele wissen, was mit “4. Juni 1989” gemeint ist. 

Daran, dass die Geschichte und das Erinnern an Tiananmen so fragmentarisch ist, ist zuerst die chinesische Regierung schuld. Sie verhindert eine Aufklärung des Massakers. Trotzdem sollten wir uns nicht zum Glauben verleiten lassen, in China wisse man nichts mehr über die Proteste, weil dort das ikonische Bild des tank man nicht in jeder WG-Küche hängt. Denn Tiananmen ist mehr als tank man.

Im letzten Teil dieser Reihe zu Menschenrechten geht es darum, wie China seine alternativer Sichtweise auf Menschenrechte in der Welt vermarktet. Und das vor allem in Ländern, die vom Westen enttäuscht worden sind. Ich bin im September im Urlaub, also kommt die nächste Folge des Newsletters erst in vier Wochen.

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Kategorie Menschenrechte