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Warum für China Menschenrechte nicht universell sind

Die Antwort beginnt dort, wo China beinahe aufhörte zu existieren: Am Ende des 19. Jahrhunderts.

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Außenminister Qin Gang schafft es mit nur einem Satz, die Temperatur im Saal um mindestens 10 Grad herunterzufahren:

Es gibt keine einheitlichen Standards für Menschenrechte.

sagt er bei einer Pressekonferenz (Öffnet in neuem Fenster) mit Annalena Baerbock im April 2023. “Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen.” Als die Pressekonferenz nach fast einer Stunde endet, ist die Luft nicht nur wegen der geschlossenen Fenster ziemlich dick.

Xinjiang, Tibet, Hongkong und chinesische Dissidenten: Die Liste von Menschenrechtsverletzungen des chinesischen Staates ist lang. Menschenrechte sind vielleicht das Thema, das Deutsche in Bezug auf China am meisten beschäftigt. Wie sehr, habe ich in einer Umfrage für Krautreporter (Öffnet in neuem Fenster) über China gemerkt: Bei ca. 250 Rückmeldungen schrieb fast jede*r Einzelne, Chinas Umgang mit Menschenrechten schockiere sie.

Chinas typische Haltung dazu lautet: “Das ist eine innerchinesische Angelegenheit (Öffnet in neuem Fenster), in die ihr euch nicht einmischt.” Beliebt ist auch Whataboutism, also auf Europas oder Amerikas eigene Missstände in Sachen Menschenrechte hinzuweisen (wie das Sterben im Mittelmeer oder Polizeigewalt in den USA).
Diese Argumente sind natürlich ein Strohmann. Die Freiheitskämpfe von Tibeter*innen oder Menschen in Hongkong mit Gewalt zu unterdrücken, kann man nicht mit dem Verweis auf ein Menschenrecht mit chinesischen Charakter (Öffnet in neuem Fenster) rechtfertigen. 

Und trotzdem bin ich über die Aussagen von Qin Gang ins Grübeln gekommen: Ist vielleicht etwas dran, dass die Rechte einzelner Menschen in China etwas anderes bedeuten? Schließlich sind in China viele politische und gesellschaftliche Prozesse anders verlaufen als in Europa. Also habe ich mich auf die Suche gemacht, um herauszufinden: Was von Qin Gangs Aussagen ist Propaganda? Und wie ist die Entwicklung der Menschenrechte in China verlaufen?

Folgendes kann ich schonmal vorweg nehmen: Es geht mir nicht darum, die Sicht der chinesischen Führung auf Menschenrechte zu rechtfertigen. Sondern um eine Erklärung für die Frage: Wie zur Hölle kommt China darauf, dass Menschenrechte nicht universell seien? Die Antwort ist wichtig, um zu verstehen, warum der Westen und China in dieser Frage einfach nicht zusammenkommen.

Wie das Völkerrecht nach China kam

Was haben das Kabeltelefon, die Psychoanalyse und das allgemeine Menschenrecht gemeinsam? Richtig, sie sind eine Erfindung der Moderne. Und die setzte in Europa drei wichtige Mechanismen in Gang: Erstens stellte die Aufklärung die Autorität Gottes in Frage.
Zweitens entstand nach dem 1648 besiegelten Westfälischen Frieden (Öffnet in neuem Fenster) das Völkerrecht, mit dem man Handelsangelegenheiten, Grenzstreitigkeiten und Fragen nationaler Souveränität regelte. Krieg in Europa blieb ein Dauerphänomen. Aber über Jahrhunderte entwickelten sich sowohl Nationalstaaten mit abgesteckten Grenzen als auch das Bewusstsein in der Bevölkerung dafür, deutsch, französisch oder dänisch zu sein.
Drittens musste man sich nun, da Gott tot war, die Welt auf eine neue Weise erklären: An die Stelle Gottes traten die Naturwissenschaften, ökonomische Theorien wie der Marxismus, oder rassistische Theorien (Öffnet in neuem Fenster), die die Vorherrschaft der weißen, christlichen Weltbevölkerung begründen sollten.

Die europäischen Handelsschiffe, die ab Ende des 17. Jahrhunderts nach China segelten, kamen wortwörtlich in eine komplett andere Welt. Im Kaiserreich erinnerte nichts an die Grundregeln des europäischen Völkerrechtes. Stattdessen regelte China seine Beziehungen zu anderen Reichen hierarchisch über ein Tributsystem (Öffnet in neuem Fenster). In China liefen die Fäden eines gewaltigen Handelsnetzes zusammen, das ganz Ostasien umspann. 

China dominierte Asien kulturell und wirtschaftlich: Klassisches Chinesisch war sowohl in China als auch in Vietnam, Korea und Japan die Sprache der Verwaltung und der Gelehrten. Noch heute entstammen große Teile der vietnamesischen Sprache (Öffnet in neuem Fenster) dem chinesischen Vokabular. Was China jedoch nicht hatte, war ein nationales Bewusstsein (Öffnet in neuem Fenster) und das Bewusstsein einer klassenübergreifenden Schicksalsgemeinschaft. Das sollte China zum Verhängnis werden.

Wie rettet man ein Land, das noch gar keines ist?

Während in Europa die Industrialisierung einsetzte, stand das chinesische Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts vor dem Aus. Es hatte brutale Kriege gegen England, Frankreich und Japan verloren, die letzte Dynastie Chinas schleppte sich ihrem Untergang entgegen. Verzweifelt konstatierten Reformer wie Liang Qichao (Öffnet in neuem Fenster), die Bevölkerung Chinas sei nicht mehr als loser Sand, verstreut im Wind. Das mag alarmistisch klingen, doch es ging damals ums Ganze: China stand vor der fast unmöglichen Aufgabe, ein finanziell und moralisch bankrottes Reich in einen modernen Nationalstaat zu übersetzen. Die Elite Chinas kämpften um nichts weniger als die Rettung des Landes als eine politische Einheit, die von Chines*innen souverän regiert wurde.

Bei der Suche nach einer Lösung wandten sich viele Gelehrte gen Westen. Übersetzungen von John Stuart Mill, Thomas Huxley, Bluntschli und Rousseau: Chinesische Gelehrte, die sich mit dem Studium westlicher Philosophien beschäftigten, lasen vom internationalen Völkerrecht über sozialistische Theorie hinzu den Grundlagen moderner Physik quasi alles, was sie in die Finger bekommen konnten. Rege diskutierten sie in selbst veröffentlichten Zeitungen darüber, was die westliche Lehre von der chinesischen unterschied - und lernten dabei, China im Kontrast zu anderen Ländern zu betrachten.

Besonders begehrt war “Über die Entstehung der Arten” von Charles Darwin, das eine Erklärung (Öffnet in neuem Fenster) für Chinas traumatische Erlebnisse im Zusammentreffen mit dem Westen bot - und gleichzeitig eine Lösung anzubieten schien. China musste fit für den Kampf ums Überleben werden. Vielen chinesischen Intellektuellen wurde klar: Wenn China als kulturelle, wirtschaftliche und nationale Einheit überleben wollte, musste es ein Teil der family of nations, der Völkerfamilie, werden.

Menschenrechte lost in translation

Auf Chinas Weg in die Völkerfamilie gab es ein grundlegendes Problem: Viele Begriffe des internationalen Rechtes konnte man nicht auf Chinesisch übersetzen. Es gab schlicht keinen chinesischen Begriff (Öffnet in neuem Fenster), der die Bedeutung von Worten wie “Recht”, “Souveränität” oder “Unabhängigkeit” treffend ausdrücken konnte. Denn man hatte sie bis dato einfach nicht gebraucht.

Zur Hilfe kam China ausgerechnet Japan: Das Land, das einst selbst die chinesische Schrift übernommen hatte. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert studierten viele reformorientierte Chinesen in Japan, zu der Zeit ein wesentlich liberaleres Land als China. Chinesische Jura-Studierende brachten japanische Begriffe für “Unabhängigkeit” oder “öffentliches internationales Recht”  nach China, die auf Chinesisch zurückversetzt wurden. Und jetzt gab es endlich ein handfestes, chinesisches Vokabular des internationalen Völkerrechtes. 

In dieser Zeit tauchte zum ersten Mal eine chinesische Übersetzung des Begriffes “Menschenrecht” auf. Der Reformer Yan Fu (Öffnet in neuem Fenster) übersetzte zuerst den Begriff “Menschenrecht” 1895 in einer Zeitschrift, für die er über Ideen des Liberalismus und Individualismus schrieb: 人权 rénquán, zusammengesetzt aus dem chinesischen Wort für Mensch, und einem chinesischen Begriff für Macht oder Berechtigung. 

Die chinesische Übersetzung von “Menschenrecht” hatte jedoch nicht die exakt selbe Bedeutung wie der Ursprungsbegriff: Für Yan Fu hatten die Freiheit und die Rechte, die jeder Mensch qua Geburt besaß, keinen Selbstzweck (Öffnet in neuem Fenster). Sondern sie waren untrennbar mit dem Überleben Chinas verknüpft: Das Bewusstwerden des Einzelnen über seine Rechte sollte dazu dienen, die Moral und das Nationalbewusstsein der Bevölkerung Chinas zu erwecken. Aus dem losen Sand sollte ein sich Volk formen, das sich als solches erkannte und für das Wiedererstarken seines Landes kämpfte. 

Aber China war doch bei der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte dabei?

Wir können also festhalten: Die Übersetzung der Menschenrechte ins Chinesische muss man im Kontext von Chinas Kampf ums Überleben als kulturelle, soziale und wirtschaftliche Einheit betrachten. Das Bewusstsein des Individuums sollte der Hebel werden, der China zurück in die Handlungsfähigkeit katapultierte.

Wenn es heute um die Verletzung von Menschenrechten geht, wird häufig darauf hingewiesen, dass China sogar an der Verabschiedung der allgemeinen Menschenrechte 1948 beteiligt war. Das stimmt. Aber wir vergessen häufig: Die Volksrepublik China wurde erst ein Jahr später gegründet. Und noch viel wichtiger: Zhang Pengchun (Öffnet in neuem Fenster), der chinesische Delegierte, war kein Kommunist. Er war Vertreter der Republik China, die, während er in Frankreich über das allgemeine Menschenrecht verhandelte, in China gegen die Kommunisten kämpfte - und schließlich verlor. 

Es stimmt also, dass chinesische Delegierte an der Verabschiedung der Menschenrechte beteiligt waren. Jedoch stammte keiner dieser Beteiligten aus der Partei, die nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges die Volksrepublik Chinas ausrufen sollte: Die Kommunistische Partei Chinas. Auch die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (Öffnet in neuem Fenster), zwei weitere Meilensteine der allgemeinen Menschenrechte, wurden von der taiwanesischen Regierung mit verhandelt, die bis 1971 als rechtmäßige Vertreterin Chinas in der UNO galt.

Qin Gang, der chinesische Außenminister, ist übrigens möglicherweise selbst ein Opfer von “Menschenrechten mit chinesischen Charakter” geworden: Nur wenige Monate (Öffnet in neuem Fenster) nach der Pressekonferenz mit Annalena Baerbock verschwand er aus der Öffentlichkeit. Mittlerweile ist er durch seinen Vorgänger Wang Yi ersetzt worden. Bis heute ist unklar, wo Qin Gang sich aufhält oder warum er abgesetzt wurde. 

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Ich wollte eigentlich nur einen Text über Chinas Umgang mit Menschenrechten schreiben. Aber ich habe schnell gemerkt, dass das Thema mehr Platz benötigt, und habe ich es in mehrere Teile aufgeteilt. Der nächste folgt in drei Wochen. Dann geht es ein Dokument, das China nach dem Massaker auf dem Tian’anmen Platz veröffentlichte - und die Frage, was für China wichtiger als Menschenrechte ist.

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Kategorie Menschenrechte